Kapitel 26
BROOKLYN
Es klopft an meiner Tür. Obwohl ich ziemlich sicher bin, dass es nicht Jeff ist, werfe ich lieber einen Blick durch den Spion. Es ist Wyatt. Er hat sich eine Flasche unter den Arm geklemmt, in der Hand hält er zwei Gläser.
Als ich die Tür öffne, kommt er herein, ohne vorher zu fragen.
»Ich habe mitbekommen, dass er gegangen ist. Ich dachte, du könntest bestimmt einen Drink vertragen.« Er schenkt zwei Whisky ein und reicht mir ein Glas. »Darf man dir jetzt gratulieren?«
Ich runzle die Stirn. »Gratulieren?«
Er zuckt mit den Schultern. »Ich habe schon erlebt, wie Paare nach weitaus Schlimmerem wieder zusammengefunden haben.« Er stößt mit mir an und leert sein Glas in einem Zug.
»Wir nicht. Wir sind fertig miteinander. Briefmarke drauf und ab nach Sibirien damit.« Ich kippe meinen Whisky herunter und verziehe angewidert das Gesicht.
»Interessanter Vergleich.« Er schenkt uns noch einen Jacky ein, wir stoßen an und leeren unsere Gläser. »Geht’s dir denn gut?«
»Ich bin so müde, dass ich mindestens zehn Stunden schlafen könnte.«
»Ist das gut?« Er nimmt unsere Gläser und geht hinüber zum Sofa.
Scheint, als würde er noch eine Weile bleiben.
Darüber will ich mich nicht beschweren.
»Ja, ist es. Der Stress ist von mir abgefallen. Ich konnte endlich einen Schlussstrich unter die Sache ziehen.«
»Darf ich fragen, was er gesagt hat?« Er will mir noch einen Drink einschenken, doch ich winke ab. Wenn ich mich heute Abend betrinke, bin ich morgen bei der Arbeit nicht fit.
Ich zucke mit den Schultern. »Er hatte eine Menge Entschuldigungen. Hat sich an Strohhalme geklammert, weil ich nun mal perfekt bin.« Ich klimpere mit den Wimpern.
Er lächelt. »Definitiv.«
Ich muss breit grinsen. Am liebsten würde ich mich in seine Arme schmeißen und mich dafür bedanken, dass er ein so toller Freund ist. Hätte ich mich von der Trennung so schnell erholt, wenn ich Wyatt nicht gehabt hätte? Ich weiß es nicht.
»Aber mit ein paar Punkten hatte er recht«, gebe ich zu.
»Und zwar?« Er macht es sich gemütlich und legt die Füße auf den Couchtisch.
»Na ja, als er mich kennengelernt hat, wollte ich nach meinem Abschluss nicht zurück nach Lake Starlight. Mein damaliges Ich wäre mit ihm nach San Francisco gezogen.«
»Und?« Jetzt nippt er nur noch an seinem Drink, statt ihn wie einen Schnaps herunterzukippen.
»Es stimmt.« Wieder zucke ich mit den Schultern.
»Hast du dich denn verändert?«
Ich nicke.
»Menschen verändern sich nun mal.« Nun ist er derjenige, der mit den Schultern zuckt.
»Ja, aber … Es gibt einen Grund, warum ich mich verändert habe.«
Schweigend wartet er auf meine Erklärung.
»Meine Eltern sind zwei Jahre, bevor ich aufs College gegangen bin,
gestorben. Es hat sich angefühlt wie ein Neuanfang, verstehst du? Keiner kannte mich als Brooklyn Bailey, das Mädchen, das seine Eltern verloren hat. Das hat mir gutgetan. Ich hatte das Gefühl, mich neu erfinden zu können. Und irgendwie habe ich das auch getan.« Ich blicke von meinen im Schoß verknoteten Fingern auf. Wie immer hört Wyatt aufmerksam zu. »Ich wollte, dass dieses Gefühl niemals aufhört. Jeff hat mich mitten in dieser Phase kennengelernt. Aber kurz vor meinem Abschluss wurde mir klar, dass ich nach Lake Starlight zurückkehren musste. Ich konnte es Austin und Savannah nicht zumuten, die Familie allein zusammenzuhalten. Ich war die Drittälteste. Also habe ich Jeff gesagt, wir müssten übergangsweise hierherziehen.«
»Aber …«
»Austin hatte alles im Griff, nachdem Rome und Denver aufs College gegangen sind. Und Savannah hat in der Firma das Ruder herumgerissen. Sie brauchten mich nicht. Die Stadt hatte sich nach dem Unfall wieder beruhigt. Die Bewohner haben die Bailey-Kinder nicht länger mitleidig angesehen. Da habe ich angefangen, mich wieder daran zu erinnern, warum ich diese Stadt so sehr liebe und hier meine Kinder großziehen will.«
»Dann ist es dir also wichtig, hierzubleiben?«
Ich nicke. »Ich glaube schon. Aber dann frage ich mich wiederum, ob ich Jeff einfach nicht genug geliebt habe. Wenn es vielleicht ein anderer gewesen wäre …«
Er nippt an seinem Drink und wendet zum ersten Mal den Blick ab. »Ich schätze, das wirst du erst wissen, wenn du wieder in der Situation bist.« Irgendwas passiert gerade mit ihm. Doch als er mich wieder ansieht, lächelt er, als wäre nichts.
»Wolltest du mir nicht irgendwas sagen?«
»Das kann warten. Es reicht schon, dass Jeff heute aufgetaucht ist.« Er leert den Rest seines Drinks und stellt das Glas auf den Tisch. »Ich wollte nur sichergehen, dass es dir gut geht. Dann lass ich dich mal
lieber.«
»Nein.« Ich stehe auf und setze mich zu ihm. »Erzähl es mir.« Ich lege die Hand auf seinen Unterarm, damit er sitzen bleibt. Hitze wandert meinen Arm hinauf.
Er richtet sich gerader auf. Jetzt ist er derjenige, der die Finger im Schoß verschränkt. Er starrt mich an. Das friedliche Gefühl, das sich gerade in mir ausgebreitet hat, verschwindet augenblicklich, denn diesen Blick habe ich an ihm noch nie gesehen. Er wirkt … nervös.
»Was sich da zwischen uns entwickelt, gefällt mir.«
»Mir auch. Aber du bist mein Boss. Welche Auswirkungen wird es auf unsere Jobs haben, wenn …«
Er nickt und hebt die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen.
Mein Körper versteift sich. Innerlich bereite ich mich auf eine weitere Enttäuschung vor.