Die Frau auf der Fähre hatte so zielstrebig ausgesehen. Er hörte noch das rhythmische Klacken ihrer Stiefelabsätze auf dem Asphalt.
Der Nebel löst sich auf. Auf der anderen Seite ist es schon klar.
Floskeln über das Wetter. So kamen ihm die zwei Sätze jetzt vor. Aber vorhin, als sie vor ihm stand, hatten ihre Worte ihn berührt. Als hätte sie nicht einfach die gegenüberliegende Flussseite gemeint. Als wüsste sie etwas von ihm. Etwas, das er selbst noch nicht ahnte.
Der Ortskern von Harlingerwedel lag nun vor ihm, mit seinen Fachwerkhäusern, der Bäckerei, der Apotheke, dem Rathaus mit den gotischen Türmchen. Nur wenige Autos schlängelten sich durch die Gassen, manche Läden öffneten gerade, Leute verließen ihre Häuser auf dem Weg zur Arbeit. Thies kannte die meisten, die ihm auf dem schmalen Bürgersteig begegneten. Aber er war lange nicht im Ort gewesen. Die ihn grüßten, ließen ein Fragezeichen in der Luft hängen, wer ihn ansah, den kostete es Kraft, nicht zu starren. »Thies! Ewig nicht gesehen!« Ihre Anteilnahme, ihr Mitleid, ihre Neugier schnürten ihm die Kehle zu. Er grüßte zurück, brachte jedoch kein Lächeln zustande. In einem Schaufenster sah er sich selbst, sein abweisendes Gesicht. Er hatte mit diesen Menschen sein Leben geteilt, sie begegneten ihm in den Läden, waren Kolleginnen oder Kollegen von der Schule, Aktive gegen die Castor-Transporte im Wendland, Bekannte. Viele waren zu Aarons Beerdigung gekommen. Viele ihrer Kinder hatte er unterrichtet. Die Leute hatten sich nicht verändert. Er war ein anderer geworden. Sein Unglück hatte ihn zum Außenseiter gemacht.
Die Frau von der Fähre war nirgendwo zu sehen. Thies überquerte den Marktplatz, am Steinbrunnen lungerten ein paar Schüler herum und versenkten leere Cola-Dosen im Wasser. Mit ertappten Blicken grüßten sie ihn. »Morgen, Herr Buchholz.«
Er nickte stumm. Sie waren älter, hatten mit Aaron nichts zu tun gehabt.
Die Touristeninformation war noch geschlossen. Wo konnte die Frau sein? Im Café. Er betrat die Backstube, murmelte einen Gruß in Richtung des Verkaufstresens und blickte in den Gastraum. Zwei Rentnerinnen unterhielten sich. Ein Arbeiter im Blaumann frühstückte. Die anderen Tische waren leer. Thies zögerte. Der Duft nach Brotlaiben und Kaffee löste eine diffuse Sehnsucht in ihm aus, erinnerte ihn an früher. An was? An die Kindheit? An die Anfangsjahre mit Sophie?
Er setzte sich ans Fenster. »Cappuccino bitte«, sagte er zu der jungen Frau mit rötlich gefärbtem kurzem Haar, die an seinen Tisch trat. Erst danach fiel ihm ein, dass er kein Geld bei sich hatte.
Als sie ihm die Tasse brachte, zierte den Kaffee ein Herz aus Milchschaum. Er stieß den Löffel hinein. Während er rührte, dann in kleinen Schlucken trank, ließ er die Menschen draußen vorbeiziehen, suchte nach einem bestimmten Kleidungsstück: der schwarzen Lederjacke.
Sein Kaffee war längst leer, Spuren des Schaums trockneten in der Tasse. Wie lange er dagesessen hatte, wusste Thies nicht. Er stand auf und zog sich an, der einzige Gast im Raum.
»Ich bezahle später, heute Nachmittag«, sagte er im Hinausgehen in Richtung des Tresens, dahinter stand nun eine andere Frau, älter und hager.
»Ist gut, Herr Buchholz«, gab sie zurück.
Er sah nicht genau hin, ob er sie kannte. Sie jedenfalls kannte ihn.
Draußen hatte die Sonne eine erstaunliche Kraft entwickelt. Thies blieb auf dem Marktplatz stehen, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte. Das grelle Licht schmerzte in den Augen. Was wollte er hier? Warum war er dieser Fremden gefolgt? Er hatte eine Art Dringlichkeit verspürt. Doch jetzt war das merkwürdige Gefühl verschwunden, es hatte sich einfach aufgelöst.
Er schlug den Weg nach Hause ein, als er sie plötzlich entdeckte. Sie kam aus der Gegenrichtung und betrat den Supermarkt. Wo war ihr Gepäck geblieben?
Er setzte sich auf den Rand des Brunnens. Das morgendliche Treiben war abgeebbt, nun prägten ältere Leute das Bild. Ein paar Touristen mit Fahrrädern, bepackt mit Satteltaschen, unterwegs in Richtung Elberadweg. Mütter, die Kinderwagen schoben. Seine zukünftigen Schutzbefohlenen. Wenn er wieder in den Schuldienst zurückkehrte. Er wartete auf einen inneren Widerhall bei dem Gedanken. Freude. Skepsis. Angst.
Nichts. Er spürte nur diese bleierne, lähmende Gleichgültigkeit.
Er war der Frau gefolgt, weil ihre Worte etwas in ihm ausgelöst hatten. Etwas wie Zuversicht. Vielleicht war es auch die Art gewesen, wie sie sich bewegte. Anmutig. Er lächelte. Was für ein altmodischer Ausdruck. Hatte er ihn jemals vorher benutzt? Wie sie Ediths Hand ergriffen hatte, als sie an Land ging — sie hätte keine Hilfe gebraucht, jeder ihrer Schritte war fest und sicher gewesen.
Er saß eine ganze Weile vor dem Supermarkt, doch sie kam nicht mehr heraus. Er wechselte auf die andere Straßenseite, es lagen nur ein paar Meter zwischen ihm und dem Laden. Dann öffnete sich die automatische Tür, aber nicht für ihn, er war zu weit entfernt. Ein Mann trat auf den Bürgersteig, und direkt dahinter kam sie, trug drei gut gefüllte Einkaufsbeutel aus Stoff. Ihre Blicke begegneten sich.
»So trifft man sich wieder«, sagte sie.
»Tja, das passiert hier andauernd.«
»Und ich dachte schon, Sie sind mir gefolgt.« Sie lächelte amüsiert.
Thies wich ihrem Blick aus, betrachtete die Taschen. »Sie sehen aus, als könnten Sie Hilfe beim Tragen gebrauchen.«
»So sehe ich ganz bestimmt nicht aus.«
»Stimmt.« Nun lächelte auch er. »Wohin müssen Sie?«
»Bis zum Waldrand.«
Er nickte. Fragte nicht, was sie dort mit ihren Vorräten vorhatte. Es ging ihn nichts an.
»Dann auf Wiedersehen«, sagte er.
»Würde mich freuen.«
Sie wandte sich ab und ging davon, genauso zielstrebig wie bei ihrer ersten Begegnung. Auch Thies trat den Rückweg an. Er drehte sich nicht mehr um, doch nach ein paar Schritten schob er eine Hand unter die Jacke, legte sie auf die Brust. Er spürte den Druck der Finger durch den Pullover. Und darunter sein Herz, schneller, heftiger pochend als sonst.