Der Waldweg bestand nur aus Pfützen und war mit dem Fahrrad kaum noch befahrbar. Schlammwasser spritzte auf Sophies Sneakers und ihre Hosenbeine, wenn sie durch die Lachen fuhr.
In Gedanken war sie im Labor, bei der Auswertung der letzten Wasserprobe. Sie hatte erhöhte Schwermetallwerte in das Protokoll eingetragen. Blei, Cadmium, Nickel. Zinnorganische Verbindungen tauchten auf, hochtoxisch, die oft über die Schutzanstriche der Schiffsrümpfe freigesetzt wurden, außerdem chlorhaltige Verbindungen, deren Ursache ihr noch Rätsel aufgab. Sie würde gleich morgen eine Probe aus dem Absetzbecken der Messstelle anfordern und die Schwebstoffe auf partikelgebundene Schadstoffe untersuchen. Und dann konnte sie endlich alle Werte mit denen von vor dreizehn Monaten abgleichen.
Erst als die Tabellen auf dem Bildschirm vor ihren Augen flimmerten und ihr leerer Magen rebellierte, hob sie den Blick wieder. Als sie abschloss, war sie die letzte. Wie meist.
Im Wald durchdrangen nur noch vereinzelte Sonnenstrahlen die Baumkronen. Bald würde es dunkel sein. Sie fuhr schneller, wich einem herunterhängenden Ast aus. Doch sie hatte nicht auf den trügerischen Boden geachtet. Ihr Vorderrad blockierte, sie schrie, flog über den Lenker und schlug auf dem Waldweg auf. Vorsichtig bewegte sie den Kopf. Ihr Rad lag neben der armdicken Baumwurzel, die sie zu Fall gebracht hatte. Kein Schmerz. Sie winkelte die Arme an, hob sie und öffnete den Gurt ihres Helms. Sie nahm ihn ab, wischte sich Schlammwasser aus den Augen. Nichts tat weh. Sie versuchte, sich aufzusetzen. Und schrie wieder auf. Ihr Bein. Das Knie fühlte sich an, als bohre sich ein Messer hinein. Atmen! Sie schnappte nach Luft. Der Schmerz hörte nicht auf. Sie brauchte ihr Handy. Sie musste Thies anrufen. Ihre Aktentasche hatte am Lenker gehangen und war bei dem Sturz ein Stück weggeschleudert worden. Sie tastete mit ausgestrecktem Arm danach, ihre Fingerspitzen berührten fast den Griff, es fehlten nur wenige Zentimeter. Sie drehte sich auf die Seite, so gut es ging, ohne das schmerzende Bein zu belasten, streckte den Arm noch weiter aus und spürte das Leder an der Hand. Sie zog die Tasche zu sich heran, holte das Handy heraus, ihre Finger waren nass und zitterten so, dass es ihr entglitt und in den Matsch fiel. Sie wischte es notdürftig an ihrer Hose ab. Thies war der Erste in der Favoritenliste, sie tippte auf seinen Namen, konzentrierte sich nur darauf, nicht zu weinen, sie musste klare Ansagen machen, beschreiben, wo sie lag. Bis sie die gleichgültige Computerstimme hörte: Hier ist die Mailbox von … Für einen Moment tanzten schwarze Punkte vor ihren Augen, sie schloss die Lider. Der Beep ertönte. »Thies, ich hatte einen Unfall mit dem Rad. Ich kann nicht mehr aufstehen. Ruf mich bitte an!«
»Sind Sie verletzt? Warten Sie, ich helfe Ihnen!«
Als Sophie aufsah, stand eine Frau vor ihr und beugte sich zu ihr herunter. Ihr braunes Haar fiel wie ein Vorhang über ihr Gesicht, sodass Sophie nur einen schmalen Streifen davon sehen konnte.
»Können Sie aufstehen?« Die Frau trug eine Lederjacke und ein elegant fallendes Kleid.
Sophie öffnete den Mund, doch statt eines »Nein!« kam nur ein Stöhnen heraus. Ihr wurde übel. Die Baumkronen drehten sich um sie.
»Wir müssen zur Straße, Hilfe holen. Aber allein kann ich Sie nicht tragen.« Die Frau strich sich das Haar hinters Ohr, ihre Gesichtszüge wirkten angespannt. »Ich bin gleich zurück!« Sie rannte los, den Waldweg entlang, ohne Rücksicht auf die Pfützen, in die sie trat. Sie trug geschnürte Stiefeletten, die bis über die Knöchel reichten. Bald waren ihre Schritte nicht mehr zu hören. Es wurde still, bis auf einzelne Vogelstimmen und das Rascheln der Blätter. Sophie fror.
Schließlich hörte sie ein Auto. Scheinwerfer blendeten auf, die grellen Lichtkegel hüpften auf und ab, als der Wagen über die Schlaglöcher rumpelte. Er kam näher, bremste kurz vor Sophie. Die Frau in der Lederjacke sprang heraus, auf der Fahrerseite stieg ein Mann aus, den Sophie nicht kannte.
»Sie kann nicht aufstehen.«
»Hallo.« Der Fahrer lächelte besorgt. »Wir versuchen ganz vorsichtig, Sie hochzuziehen. Ist das okay? Ich bringe Sie ins Krankenhaus.«
Sophie nickte. Sie fassten sie unter die Achseln, jeder auf einer Seite, zogen sie hoch. Sophie schrie auf, als sie versuchte, das Bein zu belasten.
»Langsam!« Die Frau stützte Sophie, sodass sie auf einem Fuß zum Wagen hüpfen konnte.
»Wollen Sie nicht mitfahren?«, fragte der Mann die Fremde, nachdem Sophie auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. Die Antwort bekam Sophie nicht mit, und dann fuhren sie schon los, ohne die Frau. Sophie hatte sich nicht mal bei ihr bedankt.