Der Aufsitzrasenmäher sprang sofort an. Thies steuerte ihn auf die Wiese hinter dem Gemüsegarten. Das uralte Gerät hatte dem Bauern gehört, der den Hof früher bewirtschaftet hatte. Es wurde vor allem von Bodo liebevoll gepflegt und tat seinen Dienst zuverlässig. Es gab viele Dinge, die sich die Familien seit Langem teilten: die Scheune aus Fachwerk und roten Steinen mit zwei einander zugewandten Pferdeköpfen als Giebelschmuck, in der sie Fahrräder, Gartenmöbel und Gerätschaften unterstellten. Die Wäschespinne, die Schubkarren und Leitern. Bodo und er hackten ihr Kaminholz auf demselben Block, Sophie und Inga ernteten Rosmarin, Salbei und Thymian von denselben Kräuterbüschen. Sie besaßen ein gemeinsames Gemüsebeet, auf dem Kartoffeln, Zucchini und Salat gewachsen waren. Im letzten Jahr hatte Inga sich noch halbherzig darum gekümmert, doch in diesem Frühjahr hatte niemand mehr etwas gepflanzt.
Während Thies über die unebene Wiese rumpelte und sich der Behälter hinter ihm mit Gras, den gelben Köpfchen vom Löwenzahn und den lila Blüten der Brennnesseln füllte, nahm er im Augenwinkel eine Bewegung wahr. Es war Bodo. Der lief zielstrebig auf die Windanlage zu und kletterte an ihrem Gerüst hoch. Der Bauer hatte sie damals abreißen wollen, doch Thies hatte der zehn Meter hohe Mast mit dem Kreis aus hölzernen Flügeln gefallen, der aussah wie ein Requisit aus einem amerikanischen Western. Außerdem war die Anlage nützlich. Eine Kolbenpumpe, die von dem Rotor mechanisch angetrieben wurde, förderte Wasser aus einem unterirdischen Brunnen. Sie bewässerten damit das Grundstück. Leider fehlten seit einem Sturm ein paar Flügel, und die Windfahne war ziemlich verbogen. Das war zu einer Zeit passiert, als er und Bodo die gemeinsamen Projekte bereits aufgegeben hatten. Und so war die Anlage nicht mehr repariert worden.
Bodo war eindeutig der begabtere Handwerker und Tüftler von ihnen. Wollte er es nun allein versuchen?
Thies erreichte die Eiche am Ende der Wiese. An den mächtigen Stamm gelehnt, stand die Holzbank, auf der sie abends oft ein Bier getrunken hatten, Bodo und er. Sophie und Inga kochten zu der Zeit noch zusammen, Ingas berühmte Cannelloni aus dem Backofen, alles, was die Kinder gern aßen. Leben in Bullerbü, witzelten die Freunde, die aus Hamburg zu Besuch kamen, ein bisschen schwang Neid dabei mit. Denn sie hatten wirklich in einer Idylle gelebt. So lange, bis Aaron laufen konnte.
Die Hälfte der Wiese war gemäht. Thies würgte den Motor ab, stieg vom Sitz und streckte sich. Er wollte nicht an Aaron denken. Oder um Vergangenes kreisen, das nicht mehr zurückzuholen war.
Bodo klammerte sich zehn Meter über ihm an den Mast der Windanlage und schraubte an etwas herum, vermutlich an der Rotorachse. Jetzt sah er zu Thies herüber. Thies zögerte. Er konnte hingehen, seine Hilfe anbieten, wie früher. Er wandte sich ab.
Bodo war ein enger Freund gewesen. Sie hatten in einer WG zusammengelebt, gemeinsam Bahnschienen blockiert, bei jedem Castor-Transport, der anrollte. Sie saßen in Gorleben auf der Straße, auf der Zufahrt zum Verladekran. ›X-tausendmal quer‹ hieß das Motto. Sich von der Polizei wegtragen lassen, um direkt wieder aufzumarschieren, tagelang ging das Spiel, der Nervenkrieg, durchnässt von den Wasserwerfern, erstarrt von der Winterkälte. Bis an die Grenze der physischen Kräfte, ihrer eigenen, aber auch jener der Einsatzkräfte. Damals hatte Thies gedacht, dass nichts seine und Bodos Freundschaft zerstören könnte. Er hatte sich getäuscht.
Aus dem Augenwinkel sah er, dass Bodo herabkletterte, seine Hände an einem Lappen abwischte. Und auf ihn zukam. Thies öffnete den Deckel des Grasbehälters, der erst halbvoll war. Bodo sollte sehen, dass er beschäftigt war und nicht auf ihn wartete.
»Hey.«
»Na?« Thies richtete sich auf.
Bodo zeigte auf die Wiese. »Deine gute Tat heute?«
Thies zwang sich zu einem Lächeln. »War höchste Zeit. In ein paar Tagen wäre das Gras so lang gewesen, dass unser Schätzchen hier versagt hätte.« Er klopfte mit den Fingerkuppen auf den Mäher.
Bodo nickte. »Dieses Jahr wuchert alles wie wahnsinnig.«
Thies nickte ebenfalls. »Bei dem Regen kein Wunder.«
Sie vermieden direkten Blickkontakt. Nicken musste reichen. Thies betrachtete die Büsche und Hecken, die auf die Schere warteten.
»Es ist jetzt so weit«, sagte Bodo.
Thies wusste sofort, dass er nicht mehr von den Pflanzen sprach.
Bodo massierte mit zwei Fingern seine Nasenwurzel. »Die Kollegen haben mich gebeten, euch zu informieren. Einfach, weil ich vor Ort bin. Es kommt aber auch noch schriftlich.«
Thies nahm die betont neutrale Formulierung zur Kenntnis. Weil ich vor Ort bin. Nicht etwa: Weil wir befreundet sind.
»Ich verstehe es nicht«, brachte er heraus.
»Na ja …« Bodo stützte sich mit einer Hand auf dem Mäher ab. »Sie haben, ehrlich gesagt, schon eine wahnsinnig lange Zeit ermittelt für die wenigen Ansätze, die sie hatten. Und es bedeutet ja nichts Endgültiges. Wenn sich neue Aspekte ergeben sollten …«
»Warum geht ein Elfjähriger mit T-Shirt, Hose und Schuhen in die Elbe?«, unterbrach Thies ihn. »Wer hat ihn im Gesicht verletzt? Es gibt keine Antworten auf diese Fragen. Wie kann man da aufhören, zu ermitteln?«
Bodo schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. »Du kennst meine Meinung zu den Kratzern. Aaron ist oft ausgerastet, selbst ältere Kinder hatten Angst vor ihm.« Er holte Luft. »Es ist gut möglich, dass sich mal jemand gewehrt hat, in der Schule, auf dem Nachhauseweg …«
»Es gab keine Hinweise darauf. Niemand hat etwas in dieser Richtung beobachtet, geschweige denn ausgesagt.«
Thies ahnte, was Bodo jetzt dachte. Vielleicht haben die Kinder sich zusammengetan. Und sich gefreut, dass sie ihrem Peiniger auch einmal wehtun konnten.
»Die Kollegen machen es sich ein bisschen zu leicht, meinst du nicht?«, setzte Thies nach.
Bodo verlagerte sein Gewicht aufs andere Bein. »Er war zwei Tage und Nächte in der Elbe. Du weißt, es können Treibverletzungen sein.«
»Das haben sie bei der Obduktion nicht so gesehen.«
»Sie haben es nicht ausgeschlossen.«
»Und das Armband? Woher hatte er das?« Thies lachte auf. »Klar, es war gestohlen! Was anderes käme bei Aaron ja nicht infrage. Aber wo? Von wem?« Er schüttelte den Kopf. »Sie haben nichts. Sie wissen nichts.«
Ihre Blicke trafen sich. Und er wusste abermals, was Bodo gerade dachte. Nicht mal, wo du an dem Abend warst, Thies.
Thies wollte die Unterhaltung jetzt abbrechen. Sie drehten sich im Kreis, wie jedes Mal. Was an dem Tag geschehen war, an dem Aaron verschwand, hatten sie so oft durchgekaut, dass nur ein fader, grauer Erinnerungsbrei übrig geblieben war.
Einer der ersten warmen Abende. Der Tisch auf der Terrasse war lieblos gedeckt gewesen. Brot, Butter, Wurst, Käse, in der Plastikverpackung hingeworfen. Niemand hatte Lust gehabt, etwas zu kochen. Thies und Sophie am Ende ihrer Kräfte. Vorwürfe, Schuldzuweisungen, Streit. Und dann war Thies aufgestanden, gegangen, ziellos herumgelaufen. Am Fluss entlang? Oder durch die Auen, den Wald? Er wusste es nicht. Wie lange war er unterwegs gewesen? Er hatte keine Erinnerung. Laut Sophie mindestens zwei Stunden. Zwei Stunden mit einer Endlosschleife verzweifelter Fragen in seinem Kopf. Zwei Stunden, in denen Aaron vielleicht gestorben war.
Thies zuckte zusammen, als Bodo ihm die Hand auf die Schulter legte.
»Du hast recht. Sie wissen nicht viel. Außer, wie schwer das für euch sein muss. Es tut allen wahnsinnig leid.«
Das klang versöhnlich. Aber entsprach es Bodos wahren Gefühlen? Warum schaffte es Bodo nicht, ihm ins Gesicht zu sehen? Er hatte niemals angesprochen, dass Thies zum Kreis der Verdächtigen gehörte. Genau wie Sophie verdächtig war. Hatte sie wirklich den ganzen Abend auf der Terrasse gesessen, wie sie es ausgesagt hatte? Sie war allein gewesen, so wie er.
Thies hätte bei der ersten Aussage bereits lügen, den Ermittlern irgendeinen konkreten Weg beschreiben können, den er gelaufen war. Wer hätte seine Worte bezweifeln sollen? Zeugen gab es nicht, niemand hatte ihn gesehen. Das Wendland war eine der am spärlichsten besiedelten Gegenden Deutschlands. Abends um neun niemandem zu begegnen, war kein Kunststück. Doch Thies entschied sich für die Wahrheit: Er hatte keine Ahnung, wo er gewesen war. Mit dem Ergebnis, dass sein bester Freund ihn seitdem verdächtigte.
»Entschuldige. Ich mach mal voran«, sagte er und stieg wieder auf den Rasenmäher.
Es gab keinen Ausweg. Es ging so weiter, für ihn und für Sophie. Niemand half ihnen. Nicht, als Aaron noch lebte und sie zur Verzweiflung brachte, nicht, seitdem er tot war. Er hatte nur Sophie, und sie nur ihn. Doch er konnte sich ihr nicht öffnen. Sie würde in den Abgrund blicken, in dem er gefangen war. Und dann würde sie ihn verlassen.
Er sah Bodo an, der unschlüssig vor ihm stand. »Ich danke dir. Es ist auf jeden Fall gut, dass ich Bescheid weiß.«
»Lass dich nicht unterkriegen, Mann.« Bodo boxte ihm leicht mit der Faust gegen den Oberarm und ging.
*
Thies startete den Mäher. Eine halbe Wiese voll hohem Gras und wilden Kräutern wartete. Er fuhr Bahn um Bahn, den Kopf wie leer gefegt, zu keinem Gefühl fähig. Wenn er das Rumpeln auf dem unebenen Boden und das Vibrieren des Motors im Körper nicht hätte spüren können, wäre er sich vorgekommen wie tot.
»Thies!«
Er hatte gerade gewendet, ratterte wieder auf die Eiche zu.
»Thies!«
Er stoppte den Mäher und drehte sich um. Sophie stand am Rand des Gemüsegartens und bei ihr … die Frau von der Fähre.
Thies stieg ab und schritt auf die beiden zu. Die Unbekannte trug dieselbe Kleidung wie bei ihrer ersten Begegnung. Sophie wirkte schmächtig neben ihr, einen halben Kopf kleiner.
»Das ist sie«, sagte Sophie. »Meine Retterin aus dem Wald.«
Im Bruchteil einer Sekunde traf er die Entscheidung, ihre Begegnungen am Fluss und vor dem Supermarkt nicht zu erwähnen. »Hallo, freut mich sehr, ich bin Thies.« Er streckte ihr die Hand entgegen.
Sie ergriff sie, ein fester Händedruck. »Mara.«
Sophie lächelte. »Wir haben uns zufällig wiedergetroffen, und ich habe sie spontan zum Essen eingeladen.«
Die Frau besaß eine intensive Art, ihn anzusehen, das war ihm schon vor dem Supermarkt aufgefallen. Er fühlte sich beobachtet, und das machte ihn verlegen.
»Braucht ihr mich gleich, oder kann ich mir den Rest der Wiese vorknöpfen?«
»Nimm dir Zeit. Ich zeig Mara das Grundstück.«
Und dann? Zeigte sie ihr auch das Haus? Thies forschte in Sophies Gesicht. Wollte sie das wirklich? Jemand Fremdes in ihr Leben lassen?
Sophie hielt seinem Blick stand, lächelte immer noch: kein großes Ding, spontaner Besuch, ein improvisiertes Essen, Gratisführung durch Bullerbü inklusive. War die entspannte Haltung echt? Oder aufgesetzt?
»Komm«, wandte sie sich an Mara und humpelte los. Nach wenigen Schritten reichte die Fremde ihr den Arm, und Sophie hakte sich bei ihr unter.
Thies schwang sich erneut auf den rissigen Kunstledersitz. Der unerwartete Besuch bescherte ihm einen Aufschub. Er musste Sophie nicht erzählen, was er von Bodo erfahren hatte. Nicht heute Abend.
Er hatte nicht erwartet, diese Frau wiederzusehen. Die letzte Bahn zog sich elend in die Länge. Als er fertig war, sprang er vom Sitz ab und lief zum Haus. Er hatte einen Hunger wie schon ewig nicht mehr.
*
Die Haustür war angelehnt, wie früher, als die Nachbarn noch ein und aus gingen. Thies lief zuerst in den Keller und zog zwei Flaschen Riesling aus dem Regal. Sie waren kühl genug, um sie gleich zu trinken. Als er die Treppe hinaufging, hörte er Maras Stimme: »Am besten wäre es, wir würden Eintritt nehmen, dann hätten wir keine Sorgen mehr!« Das markante Lachen folgte. Sophie lachte mit.
Er schob mit dem Fuß die Tür zur Küche auf, die Flaschen in den Händen. Die zwei saßen am Tisch, Sophie zerschnitt Schalotten in winzige Stücke.
»Ah, das ist gut«, meinte Sophie mit Blick auf den Wein. »Machst du gleich eine auf?«
»Klar.« Er holte drei schlanke Gläser aus dem Schrank.
»Mara hat mir irre Geschichten erzählt! Sie kommt aus Kopenhagen, aus Christiania.«
»Wow. Aus dem autonomen — wie sagt man? — Freistaat?«
»Freistadt«, korrigierte Mara freundlich.
»Und was machst du hier in der Gegend?« Thies schenkte Wein ein.
»Mara hat vorhin erzählt, sie sucht jemanden aus Harlingerwedel«, kam Sophie ihrer Antwort zuvor. »Jemand, den ihre Mutter kannte. Sein Name ist Richie, sagt dir das was? Er muss so um die siebzig sein.«
»Richie?« Thies schüttelte den Kopf, während er Maras Handgelenk und ihre langen, schmalen Finger betrachtete, mit denen sie das Weinglas hielt. »Warum suchst du ihn?«
»Er war ein Freund meiner Mutter, und ich will ihm etwas aus ihrem Nachlass bringen, das ihm gehört. Meine Mutter war Deutsche. Sie gehörte zu den allerersten Besetzern von Christiania. Anfang der Siebziger zog sie hin, ich bin dort geboren.«
»Deine Kindheit muss ja aufregend gewesen sein«, meinte Sophie.
»Das kannst du laut sagen. Es war wie ein riesiger bunter Abenteuerspielplatz. Die alten Militärgebäude standen leer, und es kamen recht schnell ein paar Hundert Leute zusammen. Und gefühlt ebenso viele Hunde.« Sie lachte auf. »Man suchte sich einfach ein Zimmer aus. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie oft ich umgezogen bin!«
Thies kannte Christiania von einem einzigen Besuch. Er erinnerte sich an die knalligen Farben von Graffiti und bemalten Holzhütten, an eine Art Fußgängerzone mit Ständen, an die ausdruckslosen Gesichter der Dealer, die dort ihr Hasch verkauften, an Leute, die in den Gebüschen am Wasser schliefen oder in die neugierigen Augen der Touristen blinzelten. Er war sich fehl am Platz vorgekommen, wie jemand, der bei Fremden ungefragt durchs Wohnzimmer trampelt. Ein riesiger bunter Abenteuerspielplatz? Thies hatte es eher als bedrückend empfunden. Vielleicht fühlte es sich anders an, wenn man dort lebte, zur Gemeinschaft gehörte. Er musste Mara danach fragen.
»Eine tolle Küche habt ihr«, sagte sie gerade. »Ich mag diesen warmen Ton. Was ist das für ein Holz?« Sie trank einen Schluck, ihr Blick wanderte durch den Raum.
»Konifere«, antwortete ihr Sophie.
»Schicke Kombination mit den Schieferplatten.«
Sophie lächelte. »Genau das hat der Berater im Küchenstudio auch gesagt.«
Thies wäre es in diesem Moment lieber gewesen, wenn sie ihr altes Sammelsurium an Küchenmöbeln behalten hätten, die wuchtige altmodische Anrichte, die die Bauern ihnen überlassen hatten, zusammengewürfelt mit Sachen aus seiner und Sophies Studenten-WG. Bestimmt fand Mara es furchtbar spießig.
»Wie lange lebt ihr schon hier?«, wollte sie wissen.
»Auf diesem Hof seit ungefähr fünfzehn Jahren. Thies ist in der Nähe aufgewachsen, in Gartow. Ich komme aus Hamburg.«
Sophie, Enkelin einer Kaufmannsdynastie aus Othmarschen, Villa mit Park, alter Hanseatenadel. Thies wusste, dass sie das nicht erwähnen würde. Eine Welt, die sehr weit entfernt war von Maras Abenteuerspielplatz.
»Und wo habt ihr euch kennengelernt?«
»Ich bin in eine WG in der Schanze gezogen«, antwortete Sophie, »und da war er.«
Sie erzählte Mara, wie sie sich verliebt hatten, heirateten und später den Hof fanden. Und wie dann ein Jahr darauf ihre Freunde Inga und Bodo dazukamen und auf dem Grundstück bauten.
Es war eine fast unmerkliche Veränderung in ihrem Tonfall, aber Thies spürte, woran sie jetzt dachte. An ihre Entscheidung für dieses Leben hier. Wenn sie damals geahnt hätte, dass sie mit ihren Träumen scheitern würde, welchen Weg hätte sie dann genommen? Wäre sie mit ihm zusammengeblieben?
War sie überhaupt noch mit ihm zusammen?
Mara beobachtete ihn. Sie saß zurückgelehnt, wirkte entspannt, nippte an ihrem Wein, aber er hatte ihre volle Aufmerksamkeit. Es war wohltuend, so als wüchse durch sie seine Präsenz im Raum. Auch Sophie blühte auf in Maras Gegenwart, sie redete heute Abend mehr als im letzten halben Jahr insgesamt. Nur er war bisher still gewesen.
»Vergiss nicht, wir waren uns vorher schon einmal begegnet, beim dritten Castor-Transport«, sagte er zu Sophie. »Sitzblockade in Gorleben. Wir haben zufällig nebeneinander auf dem Asphalt gehockt.« Er suchte ihren Blick. Welche Bilder hatte sie vor Augen, wenn sie sich an diesen Tag erinnerte? Dachte sie überhaupt manchmal an ihre gemeinsamen Anfänge zurück? Bereute sie es, ihm begegnet zu sein?
»Nebeneinander! Und das unter viertausend anderen Leuten.« Sophie schenkte nur Mara ein Lächeln, nahm einen Schluck Wein, trat zum Herd. »Habt ihr noch Geduld? Je länger die Tomatensoße köchelt, desto besser wird sie.«
»Es riecht schon wunderbar«, sagte Mara. »Darf ich mir so lange euer Haus anschauen?«
Sophie zuckte zusammen, sie stand mit dem Rücken zu ihnen, rührte in der Pfanne. Aber Thies hatte es gesehen.
»Na klar.« Sie drehte sich um, ihre Stimme war etwas zu hoch. »Thies, gehst du mit?«
Mara und er verließen die Küche, die noch halbvollen Gläser in den Händen, durchquerten den Flur und betraten das Wohnzimmer. Bei ihrem Einzug hatte Thies die alten Fenster herausreißen und neue einbauen lassen, die bis zum Boden reichten. Die Aussicht ging in die Wiesen hinaus — sanfte, lang gestreckte Hügel —, auf den Weiher und eine schnurgerade Reihe von Pappeln, hinter denen jetzt die Sonne unterging, ein Feuerball, dessen Schein das Zimmer in unwirkliches oranges Licht tauchte.
In Thies’ Brust zog sich etwas zusammen. Er hatte diese Schönheit so lange nicht wahrgenommen. Er lief durchs Haus wie ein Untoter, vegetierte dahin, ohne zu sehen, zu fühlen, zu schmecken. Wie ertappt verzog er das Gesicht.
Mara trat neben ihn. »Was ist?« Sie hatte ihn wieder beobachtet.
»Ich lach mich nur selber aus.«
»Das solltest du nicht.«
»Manchmal verstrickt man sich in etwas und denkt, da kommt man nicht mehr raus.« Er verspürte den absurden Wunsch, dass sie verstand, was er meinte. Doch sie war eine Fremde, sie wusste nichts über ihn, Sophie und Aaron.
Sie lächelte. »In Christiania könntest du sagen: Nichts wie weg hier, ich suche mir ein anderes Zimmer. Oder: Ich baue mir eine Hütte direkt am Wasser. Du veränderst etwas. Und damit verändert sich deine Sicht auf die Dinge.«
»Klingt romantisch.« Und irgendwie zu einfach.
Thies hatte keine Idee, was er verändern könnte. Das Haus gehörte Sophie und ihm gemeinsam. Es gab nur ein Zimmer, das er gegen seines hätte eintauschen können. Dasjenige, das er nicht mehr betrat. Doch er wusste, Mara hatte es nicht wörtlich gemeint.
Der Feuerball am Horizont war auf die Größe einer Herdplatte geschrumpft, und die Schatten der Pappeln wuchsen in den Raum wie ausgestreckte Finger.
Sie sah ihn an. »Na komm, du wolltest mir das Haus zeigen.«
Das war deine Idee, nicht meine, dachte er.
Sie stiegen die Holztreppe hoch, die Stufen knarrten. Es war lange her, dass jemand Fremdes hier oben gewesen war. Thies war sich bewusst, dass Sophie sie hörte: Sie stand am Herd, rührte in der Soße, nahm jedoch nicht das sanfte Schaben des Holzlöffels auf dem Teflonboden wahr, sondern folgte ihnen in Gedanken. Lauschte. Schritt für Schritt.
Thies öffnete die Tür zum Schlafzimmer, sie traten ein. Mara ließ den Blick durch den Raum schweifen. Über das Bett mit der geblümten Bettwäsche, die blauen Wände, den Sessel in Ocker, auf dessen Lehne Sophies Kleider der letzten Tage hingen.
»Kräftige Farben. Mag ich«, meinte Mara.
Draußen schrillte eine Fahrradklingel. Sie blickten aus dem Fenster. Lasse fuhr auf den Hof, bremste scharf mit seinem Mountainbike, Steinchen spritzten.
»Der Sohn unserer Nachbarn.«
»Kennt ihr euch gut, ihr und die Nachbarn?«
»Wir sind schon lange befreundet. Inga und Bodo haben zwei Kinder. Das da ist Lasse, und dann gibt es noch Jella, sie ist etwas jünger.« Er wandte sich um zur Tür.
Mara war stehen geblieben. Sie sah weiter hinaus. »Sind sie aus der Gegend, wie du?«
»Ja, Inga stammt direkt aus Harlingerwedel und Bodo aus Lüchow.« Warum interessierte sie das?
»Komm.« Er verließ das Zimmer, und sie folgte ihm zurück auf den Flur.
Die mittlere Tür. Verschlossen.
Thies lief daran vorbei ohne eine Erklärung, was sich dahinter befand. Mara fragte nicht. Er öffnete die letzte Tür, schaltete das Deckenlicht an und trat mit ihr ein. »Mein Arbeitszimmer.«
Der Raum war liebevoll eingerichtet, sein alter Holzschreibtisch stand so, dass Thies in die Auen sehen konnte. Die Regale an den Wänden waren voller Bücher. Thies’ Fachbücher auf der einen Seite, die Belletristik gegenüber. Davor sein bequemer Schaukelstuhl. Er hatte lange nicht dort gesessen. Sein Blick fiel auf den Beistelltisch. Ein Stapel Romane. Ungelesen. Thies schaffte es nicht mehr, in andere Welten abzutauchen. Er hasste sein Leben und konnte es trotzdem nicht loslassen.
Neben den Büchern lag der Stein. Thies hatte vergessen, dass er dort war. Er war grau und unauffällig, hatte nicht mal eine schöne Form. Aber er hatte ihn einmal von Aaron geschenkt bekommen. Ein merkwürdiges, unerwartetes Zeichen von Zuneigung. Das Einzige, an das er sich erinnern konnte.
»Was machst du beruflich?«, riss ihn Mara aus seinen Gedanken.
»Gymnasiallehrer.«
»Ach. Welche Fächer?«
»Deutsch und Geschichte.«
Sein Tisch war aufgeräumt, es war über ein Jahr her, dass er hier zum letzten Mal Klassenarbeiten korrigiert hatte. Mehrere Kartons mit Küchengeräten und allerhand Kram standen jetzt darauf, alles Dinge, die sie nicht behalten wollten und die er auf Ebay verkaufen sollte. Er saß zwar manchmal am Computer, doch für diese praktischen Arbeiten fehlte ihm die Kraft.
Als Sophie nach ihnen rief, gingen sie zurück in die Küche. Thies trat zu ihr an den Herd und blickte über ihre Schulter. Die Spaghetti dampften in einem Sieb. Thies spürte Sophies Freude, einen Gast zu haben, und auch die Anstrengung, die es sie kostete. Er empfand es genauso. Er legte seine Hand kurz auf ihren Rücken und wusste, dass sie die Geste verstand: Sei ganz ruhig. Wir waren oben. Aber wir haben nicht über ihn gesprochen.
»Es ist schön bei euch«, sagte Mara. »Ein Zuhause.«
Thies dachte: Ja, das ist es. Und wir sollten es endlich wieder als solches betrachten. Doch vielleicht hatte Mara etwas anderes gemeint. Einen Ort, den man nicht beliebig aufgeben oder verändern konnte? Sie hatten hier Wurzeln geschlagen, die sich von unten in sie krallten, sie festhielten. Er wusste nicht, ob das gut war.
Er öffnete die zweite Flasche Wein. Sie deckten den Tisch im Wohnzimmer, Sophie zündete Kerzen an, sie setzten sich und aßen. Durch die offene Terrassentür drangen die Balzrufe der Kröten. Ein Windhauch ließ die Flammen erzittern. Die Sonne war verschwunden, die Dämmerung tauchte die Wiesen in ein kaltes Blaugrau.
»Mir wäre es vermutlich zu einsam hier«, spann Mara ihre Gedanken weiter. »Ich bin Trubel gewöhnt, viele Menschen auf engem Raum, vor allem im Sommer, wenn bei uns die Touristen einfallen.«
»Was arbeitest du?«, wollte Sophie wissen.
»Ich verkaufe selbst genähte Kleider. Manchmal auch Schmuck.«
»Das Kleid, das du anhast, ist das von dir?«
»Das ist die aktuelle Kollektion. Silber, Anthrazit und Schwarz.«
»Toll. Das heißt, du hast da einen Stand, in Christiania?«
»Genau.« Mara trank den letzten Schluck aus ihrem Glas. Als Thies ihr nachschenken wollte, lehnte sie ab. »Ich denke, ich mache mich langsam auf den Rückweg.«
»Wo musst du hin?«, fragte Thies. »Soll ich dich bringen?«
»Es ist nicht weit. Das schaffe ich gut zu Fuß.«
»Sag schon, wo wohnst du?«
Sie zögerte. »In einer Gartenlaube am Waldrand, in der Nähe, wo Sophie und ich uns getroffen haben.«
Thies wechselte einen Blick mit Sophie. Es gab nur eine einzige Laube in der Gegend: die von Berthold Werninger. Der hatte sie früher selbst genutzt, dann viele Jahre an Touristen vermietet. Aber war der nicht längst im Altenheim? Thies wusste nicht, wer sich jetzt um die Hütte kümmerte.
»Die Nächte sind verdammt kalt. Kannst du denn da heizen?«, fragte er.
»Das geht schon. Es ist ganz gemütlich.«
Thies stand auf. »Ich fahr dich hin, keine Widerrede.«
Sie traten gemeinsam vor die Haustür. Der Himmel hatte sich zugezogen, schwere Wolken, die nach neuem Regen aussahen.
Mara und Sophie umarmten sich zum Abschied.
»Das Essen war fantastisch, Sophie, auch der Wein, vielen Dank für alles.«
»Nein, ich sollte dir danken.«
»Wenn wir dir helfen können, den Freund deiner Mutter zu finden …«, sagte Thies.
»Danke.« Mara lächelte. »Aber das wird schon klappen, ich habe genug Zeit.«
»Komm auf jeden Fall noch mal vorbei, bevor du zurückfährst«, sagte Sophie.
»Das mache ich, ganz bestimmt.«
Sie stiegen ins Auto. Als Thies den Motor startete, bewegte sich im Nachbarhaus der Vorhang vor dem Küchenfenster.
*
Die Fahrt dauerte nicht lang. Nur die Scheinwerfer des Wagens erhellten die dunkle Straße. Zu Fuß, ohne Taschenlampe, hätte Mara Mühe gehabt, den Weg zu finden.
»Wie bist du hergekommen? Ich meine, bis zur Fähre?«, fragte Thies. »Am östlichen Ufer ist ja nicht gerade viel los.«
»Ich bin getrampt. Und vorher war ich mit Bus und Schiff unterwegs, es gibt eine günstige Verbindung von Kopenhagen über Gedser nach Rostock. Dann habe ich auf einem Hof an der Elbstraße übernachtet. Und gestern Morgen hatte ich Glück, dass die Fähre schon in Betrieb war.«
»Die fährt übrigens Edith, die Mutter unserer Nachbarin Inga.«
»Wirklich? Ich war überrascht. Eine Frau in dem Beruf ist sicher selten.«
»Sie hat ihn sich nicht ausgesucht.«
»Wieso macht sie es dann?«
Thies erreichte Werningers Grundstück. Aus dem Holzzaun waren Latten herausgebrochen. Er hielt an und schaltete die kleine Leuchte am Rückspiegel an, um Maras Gesicht besser sehen zu können. »Als Ediths Mann schwer krank wurde, ist sie für ihn eingesprungen. Irgendwann war klar, dass er nicht mehr arbeiten kann, und sie musste weitermachen. Sie hasst die Fähre.«
»Das habe ich ihr angemerkt«, sagte Mara.
Thies warf einen Blick auf das Tor im Zaun, das schief in den Angeln hing. Das Standlicht erhellte ein kurzes Stück des Weges. Unkraut wucherte überall. Von der Hütte konnte er nur die Umrisse erahnen. In welchem Zustand mochte sie sein, wenn es hier draußen schon so verwahrlost aussah?
»Ich wäre nicht gern hier allein über Nacht. Soll ich dir meine Mobilnummer geben?«
»Ich habe gar kein Handy.« Sie lachte auf. »Jetzt hältst du mich für verrückt, oder?«
»Ziemlich.« Er lächelte, wurde gleich darauf wieder ernst. »Kommst du wirklich zurecht?«
Sie nickte, legte ihre Hand auf seinen Arm.
Als Mara und Sophie sich umarmten, hatte sein Körper begonnen, sich etwas zu wünschen, doch bewusst wurde ihm das erst jetzt.
Mit einer langsamen Bewegung zog sie ihre Hand zurück und stieg aus. Auch er verließ den Wagen, begleitete sie bis zum Tor. Der nahe Wald war spürbar, feucht und still. Sie waren vermutlich die einzigen Menschen weit und breit.
»Danke, Thies. Fürs Fahren und für den schönen Abend.«
Sie trat zu ihm und umarmte ihn, wie sie es zuvor bei Sophie getan hatte. Ihr Haar streifte seine Wange, und schon war der Moment vorbei. Sie ging auf die Hütte zu und verschwand in der Dunkelheit.