Das Motorgeräusch des Wagens verklang. Gegenüber, in Ingas und Bodos Küche, brannte noch Licht. Einer von ihnen hatte Thies’ und Maras Abfahrt am Fenster beobachtet, war jedoch schnell wieder hinter dem Vorhang verschwunden.
Sophie fühlte sich auf einmal allein. Sie hätte jetzt gern jemandem von Mara erzählt. Nicht irgendjemandem. Inga.
Sie ging zurück ins Haus, räumte den Tisch ab, stellte Geschirr und Gläser in die Spülmaschine. Der Rest konnte bis morgen warten. Als sie im Bett lag, merkte sie, wie aufdreht sie noch war.
Schon auf dem Weg zum Hof hatte Mara sie zum Lachen gebracht, mit Geschichten über allerhand schrullige Leute in Christiania. Sophie hatte ihr Rad geschoben, und der Weg war trotz ihres schmerzenden Knies wie im Flug vergangen.
Auch Thies hatte der Abend gefallen, er war entspannt gewesen wie lange nicht. Er mochte Mara, das spürte sie.
Sophie zog die Decke höher und schloss die Augen. Vorhin hatte es einen Augenblick gegeben — sie hatten gerade angestoßen, der Wein war köstlich, Mara und Thies überboten sich darin, das Essen zu loben —, an dem sie sich annähernd glücklich gefühlt hatte. Vollkommen gedankenlos. Umso heftiger hatte der Schmerz kurz darauf wieder eingesetzt. Sie hatte so viel in den letzten Jahren verloren.
Es hatte solche fröhlichen, entspannten Abende mit Inga und Bodo gegeben. Einen Grund zum Feiern hatten sie ja immer gefunden. Ingas Schwangerschaftstest … Sie gaben das Stäbchen herum, betrachteten ehrfürchtig die zwei rosa Linien. Da hatte sie selbst schon gemerkt, dass es bei ihr nicht einfach so klappte. Ihr Teststreifen zeigte ein negatives Ergebnis, Monat für Monat. Aber damals ahnte sie nicht, wie viele vergebliche Versuche sie und Thies noch vor sich haben würden.
Als Lasse, Ingas Erstgeborener, zwei Jahre und vier Monate alt war, kam Jella zur Welt, winzig, mit hellblondem Flaum auf dem Kopf. Inga hatte nun einen Sohn und eine Tochter, und Sophie versuchte, nicht zu verzweifeln. Fast jeden Morgen, wenn sie zur Arbeit aufbrach, hörte sie eines der Kleinen weinen oder schreien, sie sah Inga am Küchenfenster, wo sie Fläschchen und Brei zubereitete. Inga sah übernächtigt aus, ausgezehrt vom Stillen, sie schminkte sich nicht mehr und lief in fleckigen T-Shirts und ausgebeulten Jogginghosen herum, aber Sophie hätte ohne zu zögern ihr eigenes Leben gegen das der Freundin eingetauscht.
Und dann geschah ein Wunder. Als Sophie schwanger wurde, drei Monate nach Jellas Geburt, erzählte sie es niemandem, nicht einmal Thies, so groß war ihre Angst, dass es sich als Irrtum erweisen würde. Oder dass ein Unglück geschehen würde, eine Fehlgeburt in den ersten zwölf Wochen, Sophie kannte die Statistiken. Doch Aaron, ihr ersehntes Wunschkind, wuchs in ihr und kam gesund zur Welt, ein Sommerkind wie Jella. Inga war noch in der Elternzeit, und sie verbrachten viel Zeit gemeinsam. Sie frühstückten spät, wenn Thies und Bodo längst zur Arbeit gefahren waren, schoben die Kinderwagen nebeneinander her, und Lasse sauste auf einem Laufrad aus Holz herum. Sie picknickten in den Wiesen am Fluss.
Das Geräusch des Wagens draußen ließ Sophie hochschrecken. Thies war zurück.
Die Haustür ging auf und zu, ein leises Klirren aus der Küche, danach Stille. Sophie lauschte eine Weile. Er kam nicht herauf. Sie war nicht traurig darüber. Der Alltag würde sie früh genug wieder einholen. All das Unausgesprochene zwischen ihnen.
Es gelang ihr nur noch selten, sich an die glückliche Zeit zu erinnern, und das wollte sie jetzt auskosten. Aaron in ihrem Arm. Im Tragetuch warm an ihrer Brust. Sein erster Versuch, sich auf den Bauch zu drehen. Er war ein waches Baby gewesen, groß und kräftig, voller Energie. Wenn er ein Ziel gehabt hatte, gab er keine Ruhe, bis er genau das erreicht hatte. Mehr von dem leckeren Obstbrei zu bekommen oder sich mithilfe des Tischbeins auf die Füßchen zu ziehen. Dann strahlte er, und der Stolz war ihm anzusehen. Wehe aber, es klappte nicht so, wie er es wollte. Er konnte so eine unbändige Wut entwickeln.
Sophie wusste, dass dies der Moment war, wo sie aufhören musste. Denn nun drängten die anderen Erinnerungen in den Vordergrund. Seine Gefühlsausbrüche, sein Schreien und Toben, das sie bald nicht mehr unter Kontrolle bekam, nicht durch die geschicktesten Ablenkungsversuche oder Bestechungen mit Süßigkeiten, die Inga bei ihren Kindern niemals erlaubt hätte.
Sophie drehte sich um, atmete bewusst tief in den Bauch, versuchte, sich wieder zu entspannen. Jetzt wünschte sie, dass Thies zu ihr käme. Früher hatte er sich an sie geschmiegt, sein Körper wärmte ihren Rücken, sein Arm lag schwer über ihrer Hüfte, und so waren sie eingeschlafen. Aber er blieb lieber im Wohnzimmer, allein mit seinen Gedanken. Sicher trank er noch ein Glas. Er musste ja auch nicht fit sein für den nächsten Arbeitstag. Er musste nur am Fluss sitzen und Edith dabei zusehen, wie sie die Fähre von einem Ufer zum anderen steuerte.
Sie könnte nach ihm rufen. Zu ihm nach unten gehen.
Oder sie nahm eine Tablette.
Sie drückte eine Kapsel aus dem Blister, das Wasser auf dem Nachttisch schmeckte abgestanden. Sie sank zurück ins Kissen, wartete auf den Schlaf. Doch der Film in ihrem Kopf setzte einfach wieder ein.
An dem Abend zehn Jahre später.
Der erste Tag, an dem es warm genug gewesen war, draußen zu essen. Viel zu warm für Mitte April. Sie hatte wenig Appetit gehabt, keine Lust, etwas zu kochen, hatte nur Brot und Aufschnitt auf den Tisch gestellt.
Thies beschmierte eine Scheibe mit Leberwurst, er war beim zweiten Bier, seine Sporttasche lag unausgepackt im Flur.
Das Gespräch mit dem Schuldirektor ging Sophie im Kopf herum. Von wegen Gespräch …! Sie war abgekanzelt worden, wie immer, wenn sie einbestellt und über Aarons Fehlverhalten in Kenntnis gesetzt wurde. Sie war es so leid, zu nicken, Besserung zu versprechen, konstruktive Vorschläge zu unterbreiten. Manchmal sogar betteln zu müssen. Um einen neuen Aufschub. Um einen letzten Aufschub. Sie trugen die Verantwortung, sie waren schuld. Sie las es in den Augen des Schulleiters: ein derart aggressives Kind. Die Eltern mussten ja etwas falsch machen.
Es war ihr Problem. Sie war mit Thies und dem Problem allein. Und Thies wusste auch nicht weiter.
»Wenn er wenigstens noch bis zum Ende des Schuljahrs dortbleiben könnte …« Sie führte den Satz nicht aus. Die Schulkonferenz hatte bereits gegen Aaron entschieden.
Thies legte das Messer auf den Tisch, bemerkte nicht die schmierige Spur, die die Wurst auf dem Holz hinterließ. »Du musst Höller verstehen, in seiner Position …. Er hat massiven Druck von den Eltern der Klasse bekommen.«
Es machte sie wütend, dass er für den Schulleiter Verständnis aufbrachte. Nicht für sie. Gleichzeitig wusste sie, dass er recht hatte.
Schluss damit. Schlaf ein!
Sophie drehte sich auf die andere Seite. Die Tablette musste bald wirken. Sie war so erschöpft. Doch er ließ sie nicht los, dieser Abend vor dreizehn Monaten, an dem sich alles geändert hatte.
»Unsere Schonfrist ist vorbei«, hatte Thies mit harter Stimme gesagt. »Der Vorfall mit der Treppe war zu viel.«
»Aber was machen wir jetzt? Die Schule in Lüchow? Ich müsste morgens den Wagen nehmen und Aaron bringen. Doch wie kommt er mittags zurück?«
Thies drehte den Kronkorken seiner Bierflasche zwischen den Fingerspitzen. Er hatte das Abendessen nicht angerührt.
»Es wäre übrigens toll, wenn du dir auch mal ein paar Gedanken machst.« Sophie erschrak selbst über die Aggression in ihrer Stimme.
Er wandte den Blick ab. »Vergiss die Schule in Lüchow.«
»Wie bitte? Hast du eine bessere Idee?«
»Nein. Ich habe gar keine Idee mehr. Aber sie nehmen ihn nicht.«
Er log. Es konnte nicht — es durfte nicht wahr sein.
»Die Direktorin hat mit Höller gesprochen. Du weißt, wie das läuft. Eltern kennen sich. Tauschen sich aus. ›So einen an unserer Schule? In unserer Klasse? Er hat einen Jungen die Treppe heruntergestoßen. Der liegt im Krankenhaus. Das hätte tödlich enden können.‹«
»Was sollen wir denn dann machen?«, brachte sie heraus.
Thies betrachtete seine Bierflasche, es reichte nicht mal für ein Schulterzucken.
Sie beherrschte sich, ihn nicht anzuschreien. Er war selbst Lehrer, er sollte doch wissen, wie man mit diesen sogenannten Pädagogen redete. Wie man ihnen klarmachte, dass Aaron eine weitere Chance brauchte. Er war in Therapie, das ließ sich ja nachweisen. Auch wenn es noch keine Fortschritte gab. Aber die musste es geben. Bald.
»Er hat doch Schulpflicht«, sagte sie.
Thies schüttelte müde den Kopf. »Er ist ausgeschult. Vielleicht muss er doch in die Klinik. Wollen wir wetten, dass die vom Jugendamt wieder damit anfangen, wenn sie kommen?«
Sophie umklammerte ihr Weinglas. Waren sie wirklich an dem Punkt? Gescheitert? Sie sah Ingas entsetzten Gesichtsausdruck vor sich. ›Ihr gebt Aaron weg? Auf eine Förderschule? In einer Klinik? Ach, Sophie! Es tut uns so schrecklich leid. Können wir euch irgendwie helfen?‹
Inga! Die hatte gut reden. Wie schön, wenn die eigenen Kinder einfach perfekt waren. Jella hatte gerade den Musikwettbewerb der Schule gewonnen. Als jüngste Teilnehmerin. Sophie und Bodo hatten bei dem feierlichen Abschlusskonzert unter den Zuschauern gesessen, selbstverständlich waren sie der Einladung gefolgt: Jellas großer Tag. Sophie liebte Jella, sie kannte sie seit ihrer Geburt. Und da stand dieses Kind auf der Bühne, in einem schlichten blauen Kleid, setzte die Geige an und spielte das Adagio von Albinoni. Eine Frau neben Sophie wischte sich eine Träne der Rührung aus den Augen. Sophie weinte auch.
Sie liebte ihren Sohn. So sehr. Aber manchmal war das Gefühl wie verschüttet, unter dicken Schichten von Geröll. Manchmal wusste sie einfach nicht, wer er war. Er war ihr fremd.
»Wo ist Aaron eigentlich?«, riss Thies sie aus ihren Gedanken und holte sie auf die Terrasse zurück. In das Gespräch darüber, dass ihr Sohn eine Schule in einer psychiatrischen Klinik besuchen sollte.
»Keine Ahnung.« Sophie sah auf die Uhr. Schon acht. Aaron hätte um sieben hier zum Essen sein sollen. Das war die einzige Regel, die er einigermaßen beachtete. Hunger hatte er immer.
Er war gegen fünf mit seinem Mountainbike losgefahren, wohin, wusste sie nicht. Freunde hatte er nicht. Sie stellte sich vor, dass er an den Sandbergen Kunststücke übte, wie ein Verrückter die Abhänge hinunterfuhr. Sie hatten es ihm zwar verboten, es war zu gefährlich, und das teure Rad ging davon kaputt, aber das hatte ihn sicher nicht weiter beeindruckt.
Sie lauschte, vielleicht kam er gerade auf den Hof zurück. Die Blätter der Pappeln rauschten. Wind strich über die Wiesen, lau wie an einem Sommerabend. Scheinbar so friedlich. Sie nahm noch einen Schluck Wein, erlaubte sich ein kurzes Abgleiten in einen Traum, der ihr manchmal half, weiterzumachen: Sie und Thies allein, abends auf der Terrasse, ein trotz vieler Jahre Ehe sich immer noch liebendes Paar, zufrieden den Feierabend genießend. Es gab keinen Aaron. Keine Ohnmachtsgefühle. Nur nette Belanglosigkeiten.
Ich geh rein und hol mir eine Jacke.
Bringst du mir mein Buch mit?
Klar. Magst du auch noch von dem Chardonnay? Der ist gut, nicht? Ich glaube, davon bestelle ich uns eine Kiste für die Spargelzeit.
Aaron war nicht geboren. Nicht in dieser Welt.
Thies stand auf. »Ich geh mal rüber. Vielleicht hat Lasse ihn gesehen.«
Sophie nickte. In ihrem Traum fuhr sie auf einen internationalen Kongress, hielt einen Vortrag über den Einfluss von Pestiziden auf die Lebensbedingungen bodenlebender Wassertiere. Sie hatte ihre alte Stelle nicht aufgegeben. Abends ging sie mit Kollegen aus. Sie feierten, tranken Cocktails. Sie flog Business zurück, da schlief sie aus.
Irgendwann kehrte Thies heim und der Traumfaden riss.
»Ist er zurück?«, fragte er. Sophie schüttelte den Kopf.
Um elf war Aaron immer noch nicht da. Thies, Inga, Bodo und sogar die Kinder fuhren los und suchten die Umgebung ab. Sophie hielt die Stellung, falls er zu Hause auftauchte. Es war nach Mitternacht, als alle zurückkehrten. Erfolglos. Da rief sie die Polizei an.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Sophie keine Schuldgefühle. Nicht in der Nacht, nicht am nächsten Tag oder am Tag darauf, als die Suche nicht enden wollte. Sie war eine Mutter im Ausnahmezustand. Wo konnte er stecken? Sie brauchte all ihre Kraft, um logisch zu denken, um Informationen weiterzugeben: Sie war diejenige, die ihren Sohn am besten kannte.
Doch dann, als Bodo den Anruf der Kollegen bekam … Als sie mit ihm hinfuhren. Zum Fluss. Als die Polizisten Thies und sie zuerst abschirmten, mit Bodo allein sprechen wollten. Als Bodo zum Wasser ging, wo eine Kinderleiche lag, in einem blau-gelben Superman-Shirt. Als er zurückkam und sie es in seinen Augen las.
Da hatte sich die Schuld über sie gestülpt wie brennende Haut.
Eine Welt ohne Aaron. Davon hatte sie geträumt. Jetzt war sie real.