Es hätte ihr klar sein müssen, dass es so leicht nicht funktionierte. Nur weil sie heute den frühen Zug nach Hause genommen hatte und nun seit einer Stunde herumsaß und die Einfahrt beobachtete, hieß das noch lange nicht, dass Mara auch wirklich auftauchte.
Sophie trank die dritte Tasse Tee und blätterte ein paar Werbeprospekte durch. Irgendwann kam Lasse mit einem Ball unter dem Arm vorbei und verschwand im Haus. Nicht mal Inga schien schon Feierabend zu haben. Sophie bereute es, nicht im Labor geblieben zu sein. Eine der streunenden Katzen, die kleinere Braungestromte, tauchte auf, blieb mitten im Hof stehen und sah zu Sophies Fenster. Dann machte sie einen erschreckten Satz nach vorn und verschwand hinter der Hecke, obwohl sich Sophie nicht bewegt hatte.
Hatte das Tier Schritte gehört? Kam jemand?
Nichts passierte.
Früher hatte es oft spontane Besuche von Nachbarn und Freunden gegeben, jemand kam mit dem Rad aus dem Ort vorbei oder zu Fuß von den umliegenden Bauernhöfen, auf einen Kaffee oder ein Bier am Feierabend. Doch das gab es nicht mehr. Dabei waren Bodo und Inga nach wie vor aktiv in der Umweltinitiative. Aber die Nähe zu Thies und ihr hielt die Leute ab. Offenbar ahnten viele, dass auf dem Hof keine gute Stimmung herrschte.
Sophie räumte die Spülmaschine aus. Sie füllte Salz und Klarspüler nach. Sie sortierte ältere Wischlappen aus und ersetzte sie durch neue. Schließlich fegte sie den Boden um den Tisch herum. Mehr als drei Brotkrümel kamen dabei nicht zusammen.
Ein Lachen ließ sie aufhorchen. Inga. Sophie blickte aus dem Fenster. Inga und Mara verließen gemeinsam das Haus! Wie konnte das sein? Sie waren die ganze Zeit da gewesen.
Inga trug etwas auf den flachen Händen, als wolle sie es präsentieren. Erst als die beiden näher kamen, erkannte Sophie, dass es ein Stück Stoff war, mehrfach gefaltet. Ein Stoff, der ihr merkwürdig bekannt vorkam.
Sie begriff viel zu spät: Sie kamen zu ihr! Schon klopfte es an der Tür.
Als Sophie öffnete, sah sie zuerst nur Maras Lächeln. Tauchte ein in das warme Braun ihres Blickes.
»Hey!« Inga strahlte. »Überraschung.«
Und da erkannte Sophie den Stoff. Er gehörte ihr. Stahlgraue Baumwolle mit einem feinen schwarzen Muster, wie mit einem japanischen Tuschestift gezeichnet.
»Weißt du noch, wie wir den gefunden haben?«, fragte Inga. »Du warst sofort verliebt in das Design. Wir wollten dir immer etwas daraus nähen.«
»Das war im Urlaub in Dänemark. Auf dem kleinen Markt«, erinnerte sich Sophie.
»Und seitdem hat er bei mir im Schrank gelegen. Ich hatte ihn wirklich vergessen. Aber heute …« Sie wechselte einen Blick mit Mara, »heute kam Mara mit diesem Ersatzteil und hat die Nähmaschine zum Laufen gebracht. Auf der Suche nach Stoffen zum Ausprobieren haben wir den hier gefunden. Und jetzt sieh dir an, was sie gemacht hat …«
Inga hielt den Stoff in die Höhe. Er entfaltete sich zu einem schmal geschnittenen Kleid mit trapezförmigen Ärmeln. Es hatte Ähnlichkeit mit den Kleidern, die Mara selbst trug.
»Sie näht dir so was in einer halben Stunde fertig, es ist unfassbar.« Ingas Augen klebten erwartungsvoll an Sophie. »Jetzt sag schon. Wie gefällt es dir?«
Sophie nahm das Kleid und betrachtete es aus der Nähe. »Es ist wunderschön geworden. Wirklich. Vielen Dank.«
»Probiere es am besten mal an«, meinte Mara. »Dann sehe ich, ob ich was ändern muss.«
Sophie ging ins Schlafzimmer, zog sich um und besah sich im Garderobenspiegel. Das Kleid passte wie angegossen. Sie lief zurück in die Küche.
»Perfekt«, sagte Inga.
Sophie wäre es lieber gewesen, das von Mara zu hören, aber sie wusste, dass Inga absolut recht hatte. »Danke.«
In dem Moment kam Thies herein.
»Hey, was steht ihr denn hier herum?«, fragte er, dann erst fiel sein Blick auf Sophie in dem Outfit.
»Mara hat mir was genäht.«
»Schick.« Doch statt Sophie sah er nun Mara an.
Die musste lachen. »Thies! Das da ist das neue Kleid.«
»Ja ja, schon klar.«
»Mama, ist Mara bei dir?«, rief eine Stimme aus dem Hof.
»Warte Jella, ich bin gleich da«, rief Mara zurück.
Inga sah sie fragend an.
»Sie möchte so gern mal mit in die Waldhütte. Ich glaube, sie findet mein Nomadenleben spannend«, erklärte Mara. »Wäre das okay? Ich bringe sie natürlich zurück.«
»Klar. Ihr könntet die Räder nehmen«, schlug Inga vor. »Aber zuerst soll sie noch Geige üben.«
»Ich sag’s ihr.« Mara wandte sich zu Sophie um. »Bis bald hoffentlich.« Sie gingen zur Tür.
Draußen wurde Mara sofort von Jella in Beschlag genommen, und sie verschwanden im Haus.
Thies stand neben Sophie, auch er blickte Mara hinterher.
»Ich wusste gar nicht, dass Mara und Jella so eng sind«, sagte Sophie.
Thies wandte sich ab und nahm mit zügigen Schritten die Treppe nach oben. Als wäre sie nicht da. Kurz darauf kam er wieder herunter, verließ das Haus, lief vor dem Fenster vorbei, ohne einen Blick zurück. Er hatte sich umgezogen, trug seine Arbeitshose und ein ausgewaschenes T-Shirt.
Sie hatten keinen Streit gehabt, keine Unstimmigkeit. Er war weder schlecht gelaunt noch aggressiv. Er war einfach mit seinen Gedanken woanders, bei irgendetwas, das er vorhatte. Sophie hatte ihn lange nicht so zielstrebig gesehen, so voller Energie.
Sophie setzte sich wieder an den Küchentisch. Aus dem Nachbarhaus wehte eine melancholische Geigenmelodie herüber.
Vielleicht war das neue Kleid aus einem Stoff, der unsichtbar machte? So kam sie sich jedenfalls vor. Überflüssig und unsichtbar.
Sie war sich nicht sicher, wie sie zu dem Geschenk stand. Sie hatte sich gewünscht, ein paar Stunden mit Mara zu verbringen. Stattdessen war die wieder mit Inga beschäftigt gewesen. Und jetzt auch noch mit Jella.
Vielleicht hätte Sophie gefragt werden wollen, was mit ihrem alten Stoff geschehen sollte? Aber sie kannte ja Inga. Wenn die sich einmal eine Idee in den Kopf gesetzt hatte …
Sie musste aufhören, so empfindlich zu sein. In allem etwas Negatives zu suchen. Und es war wirklich ein schönes Kleid.
Mara kam aus dem Haus. Sie wandte sich in Richtung des Gartens.
Sophie trat näher zum Fenster. Thies bearbeitete mit einer Heckenschere den Kirschlorbeer. Als er Mara kommen sah, hielt er inne, legte dann das Gerät auf den Boden. Ein paar späte Sonnenstrahlen trafen auf das Dunkelrot von Maras Kleid und ließen es aufleuchten. Ein rötlicher Schimmer lag auch auf ihrem Haar, in dem eine Sonnenbrille steckte. Während sie sich unterhielten, schob Thies den Ärmel des T-Shirts hoch und massierte seinen Oberarm. Er lachte, als Mara ihm die Sonnenbrille aufsetzte. Sie schlenderten in Richtung der Bank auf der großen Wiese. Und verschwanden aus Sophies Blickfeld.