Diesmal war er es, der am Mast der Windanlage hochgeklettert war. Sein Blick schweifte über sandige Dünenfelder, den Bruchwald und die erblühenden Wiesen bis zum Fluss, der stahlblau und scheinbar bewegungslos dalag. Ein Meister der Täuschung. Die Auenlandschaft war sein Werk, immer wieder überschwemmte er sie, um sie neu zu formen.
Hinter dem schützenden Deich erstreckten sich Weiden und Äcker, Petersilienfelder mit ihrem bläulichen Schimmer, die gelben Kleckse erster Rapsblüten. Rinder dösten im Schatten einer mächtigen Trauerweide an einem Tümpel. Thies sah die vereinzelten Höfe mit ihren Scheunen, weiter hinten die Altstadt von Harlingerwedel mit den im Halbrund verlaufenden Gassen und den roten Dächern der Fachwerkhäuser.
Unter ihm sein altes Bauernhaus und der hellbraun verklinkerte Neubau von Bodo und Inga. Der blühende Apfelbaum. Der Kräutergarten, durch den gerade die braune Katze streifte. Im Hof spielte Mara gegen Jella Tischtennis. Mara kommentierte jeden Ball. »Dreizehn zu Zehn! Aufschlag Jella!«
Mara hatte etwas von der braunen Katze an sich. Sie war die Älteste unter ihnen, doch sie bewegte sich grazil und schnell.
Sophie reparierte einen Platten an ihrem Fahrrad, Inga hängte Wäsche auf. Lasse war von Freunden zum Fußballspielen abgeholt worden.
In den vergangenen Tagen war Mara noch einmal abends auf den Hof gekommen, aber auch dieser Besuch galt Inga, der sie offenbar besondere Techniken beim Nähen beibrachte. Thies hatte Mara zwar kurz gesehen, doch sie waren nie unter sich gewesen und über Smalltalk nicht hinausgekommen.
Thies’ Hauptbeschäftigung bestand inzwischen darin, auf ihr Auftauchen zu warten, das scheinbar ganz spontan erfolgte. Was aber machte sie, wenn sie allein war? Sie hatte die Suche nach dem Freund ihrer Mutter nicht wieder erwähnt, und Thies hatte nicht gefragt, weil er sich vor einer bestimmten Antwort fürchtete: Dass sie ihn gefunden hatte und nun nach Kopenhagen zurückfahren würde.
An diesem Feiertag war Sophie ausnahmsweise nicht in gereizter Stimmung wie sonst an den Wochenenden, wenn ihr das Labor fehlte und sie sich nicht mit ihren Messungen ablenken konnte. Heute hatten sie ausgeschlafen, und Thies hatte gerade bei einem ersten Kaffee gesessen, als Bodo ans Küchenfenster klopfte. »Ich krieg das nicht hin ohne dich. Los, wir reparieren das verdammte Ding.«
Dass Thies nun in luftiger Höhe an der Rotorachse schraubte und Bodo ihm die Ersatzteile in einen Eimer legte, den er an einem Seil nach oben zog, war Versöhnungsangebot und Vertrauensbeweis zugleich.
Jella jubelte. »Gewonnen!«
»Ha, der war im Aus, der gilt nicht!«
»Er hat die Platte noch gestreift!«
Mara blieb stehen, strich sich Haarsträhnen aus dem geröteten Gesicht. »Thies, hast du das gesehen? Sie schummelt. Sie will mich fertigmachen!«
Thies grinste. »Los, zeig’s ihr.«
Bodo ruckelte am Seil des Eimers. »Hallo? Du bist da oben zum Arbeiten. Konzentrier dich gefälligst.«
»Pause!«, rief Mara. »Aber dann gibt es Revanche!«
Thies beobachtete, wie sie den Kopf in den Nacken legte und Wasser aus der Flasche trank. Seine Kehle wurde trocken.
Inga lachte. »Keine Chance, Mara, sie ist zu gut!«, rief sie.
»Los Jella! Jetzt bist du fällig!« Mara nahm den Schläger auf, blickte kurz zu Thies.
Er winkte. »Ich bin auf deiner Seite!«
»Zieh die Schrauben nur handfest an«, wies Bodo ihn von unten an. »Erst muss die Windfahne befestigt sein.«
Jella scheuchte Mara hin und her, aber die erreichte jeden Ball.
»Thies! Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
»Ja. Alles klar.« Er konzentrierte sich auf die Montage. Die Sonne blendete, sein Arm wurde lahm vom Festhalten. Als er endlich fertig war, standen sie am Fuß des Mastes und beobachteten, wie sich die Flügel im Wind drehten und die Mechanik die Kolbenpumpe in Betrieb setzte, um gleich darauf festzustellen, dass diese trotzdem nicht funktionierte. Nach ein paar Minuten hatte Bodo den Fehler gefunden. »Das Ventil ist kaputt. Kannst du mal im Baumarkt versuchen, ein neues zu kriegen? Du hast doch Zeit.« Er reckte die Faust hoch, in Richtung des Windrades. »Wir geben niemals auf. Du wirst schon sehen!«
Das ständige Klacken der Bälle auf der Tischtennisplatte im Ohr, trug Thies den alten Gartentisch aus dem Schuppen. Er stellte ihn mitten in den Hof, wie früher. Inga legte ihre rot-weiß-karierte Decke darüber, Stühle wurden aus den Ecken hervorgeholt.
»Ein Bierchen?« Bodo kam mit ein paar Flaschen Astra.
»Zum Frühstück?«, fragte Inga.
Bodo grinste. Sie stießen an. Das Klacken des Tischtennisballs hörte auf. Thies wandte sich um. Mara und Jella unterhielten sich.
»Thies, kannst du mir kurz helfen?«, rief Sophie.
Er trat zu ihr.
»Der Mantel muss drauf. Halt bitte mal das Vorderrad fest.«
Sie hatte zwei Plastikstäbe unter den straff gespannten Rand des Mantels geklemmt und versuchte nun, einen dritten hineinzubekommen. Thies ging in die Hocke und assistierte ihr, aber er hatte Mara immer im Blick.
»Jella und ich gehen ein bisschen zum Fluss«, rief sie zu Inga hinüber.
»Bleibt nicht zu lange«, gab Inga zurück.
»Ach, Thies!« Sophie war mit dem Plastikstab abgerutscht. Offenbar hatte sich das Vorderrad bewegt, weil er abgelenkt gewesen war.
Sophie schüttelte den Kopf über ihn. »Sie kommt ja wieder.« Es klang ironisch und leichthin gesagt, aber er hörte einen anderen Ton, den sie darunter versteckte. Eine Verletzung.
»Bitte entschuldige. Ich bin … ein Idiot.«
Mit einem letzten Blick sah er Mara und Jella hinter dem Schuppen verschwinden. Und konzentrierte sich dann auf Sophies Rad.