Am nächsten Morgen wollte er gerade vor dem Baumarkt in Lüneburg ausparken, als er sie entdeckte: Mara, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, an der Haltestelle, den Rucksack geschultert. Ein Bus hatte gehalten, und sie musste ausgestiegen sein.
Er hatte sich in den Verkehr einfädeln wollen, doch nun bremste er, stellte erneut den Motor aus. Saß wie erstarrt da.
Sie ging weg.
Sie verließ ihn, Sophie und die anderen. Sie verließ ihn. Fuhr nach Christiania oder sonst wo hin. Zu einem neuen Ziel in ihrem Leben.
Gestern Abend in der Laube … Sie hatte ihn abgewiesen, und er verstand, warum. Sie suchte jemanden, der stark war, ihr ebenbürtig, nicht einen Ertrinkenden wie ihn, der von ihr gerettet werden wollte.
Sie lief auf dem Bürgersteig in Richtung Zentrum, war schon nicht mehr in Rufweite.
Die Reisetasche.
Wie elektrisiert blickte er ihr hinterher. Da war nur der Rucksack, die Tasche fehlte.
Warum hatte sie ihm gestern nicht erzählt, dass sie früh in die Stadt wollte?
Er stieg aus und folgte ihr, den Abstand haltend. Es fühlte sich an wie eine Sequenz aus einem Film, nicht wie sein reales Leben. Thies, der zum Baumarkt fährt, um ein Ventil für die Kolbenpumpe zu besorgen. Thies, der einer Frau nachspioniert wie ein Stalker.
Mara war voller Widersprüche. Sie gab die um sein Seelenwohl besorgte Freundin. Die sinnliche Mara, die ihn lockte. Die besonnene Frau, die ihn abwies. Mara, die ihre Geheimnisse hatte.
Ihre Suche nach diesem Mann. Die Laube.
Das ist keine romantische Geschichte.
Was hatte sie für Erinnerungen an diesen Ort? Er hatte sie gefragt, aber keine Antwort bekommen, und erst jetzt wurde ihm bewusst, warum: Mara hatte ihn direkt auf ein anderes Thema gelenkt. Aarons Zimmer, seine und Sophies Kammer des Schreckens. War das ein Ausweichmanöver, weil sie nicht über sich sprechen wollte?
Sie führte Regie. Es wurde Zeit, dass er dem etwas entgegensetzte. Er holte tief Luft.
»Mara!«
Er konnte sehr laut rufen, die Stimmbänder trainiert vor unzähligen Schulklassen von pubertierenden Jugendlichen, er übertönte spielend leicht den Verkehr, das sirrende Geräusch der Fußgängerampel, das Rumpeln des Betonmischers auf einer Baustelle. Mara fuhr herum, sah ihn und blieb stehen.
»Thies! Was machst du hier?«
»Na, und du?«, fragte er. »Wenn du was gesagt hättest, hätten wir zusammen in die Stadt fahren können.«
Sie lächelte nicht. »Es war eine ganz spontane Idee.«
»Wohin willst du denn?«
»Es gibt hier einen Kunsthandwerksmarkt. Ich möchte versuchen, ein paar Kleider zu verkaufen.«
»Wo ist das? Soll ich dich hinfahren?«
»Danke, nein. Es kann nicht weit sein.«
Er spürte ihre Unruhe, sie wollte vorankommen, und er hielt sie auf, trotzdem stand er noch immer vor ihr.
»Wir sehen uns später«, sagte sie. »Ich komme heute Abend auf den Hof.«
Er nickte. Auf den Hof. Wo Sophie war. Jella. Und alle anderen.
Zurück im Auto googelte er den Kunstmarkt. Nach Hause zog ihn nichts. Es war Samstag, und Sophie war da.
Er ließ den Wagen stehen und lief die paar Minuten bis zum Stresemannplatz. Schon aus der Entfernung sah er die Verkaufstische, zwischen denen sich Menschen drängten. Er näherte sich, und in der zweiten Reihe entdeckte er Mara. Sie diskutierte mit einer Frau, die hinter einem der Stände saß. Beide lachten kurz auf. Die andere erhob sich, schob ihre Ware, gestrickte Pullover und Tücher, zusammen, sodass ein Teil des Tisches frei wurde. Auch auf der Kleiderstange hinter ihr wurde Platz geschaffen, und Mara hängte Kleider auf, die denen ähnelten, die sie trug.
Thies blieb weit genug entfernt, sodass sie ihn nicht entdeckte. Auf dem Tisch breitete sie ein Stück schwarzen Samt aus und legte Schmuckstücke darauf aus. Thies trat näher, bewegte sich jedoch im Sichtschutz der Kleiderstange. Und blieb so abrupt stehen, dass ein Passant in seinen Rücken prallte.
Armbänder aus Makramee, darin goldene und blaue Perlen. Und blaue Schmucksteine. Lapislazuli.
Aarons Armband.
Wie konnte das sein? Das war keine Massenware, Mara verkaufte handgefertigten Schmuck. Wie war Aaron an so ein Armband gekommen? Mara hatte doch gesagt, sie sei als Kind zum letzten Mal in dieser Gegend gewesen.
Es gab sicher eine ganz simple Erklärung. Nur fiel ihm keine ein.
Thies verließ den Markt, bevor sie ihn entdeckte, lief zurück zum Auto. Er stieg ein, blickte auf die toten Insekten an der Windschutzscheibe. Musste er nicht Bodo von dem Schmuck erzählen? Doch der würde die Kollegen informieren, die in Aarons Todesfall ermittelt hatten. ›Der Fall kann jederzeit wieder aufgenommen werden, wenn sich neue Aspekte ergeben.‹ Bodos Worte. Ganz sicher hatte Mara nichts mit Aarons Tod zu tun. Aber sie würde in den Fokus rücken, man würde sie vernehmen. Und sie erfuhr dann, dass er derjenige war, der die Polizei zu ihr geschickt hatte. Das Risiko war zu groß. Er durfte sie nicht verlieren. Und das konnte durchaus geschehen, wenn er jemandem von der heutigen Entdeckung erzählte.
Er ließ den Motor an und fuhr nach Hause, beherrscht von einem Durcheinander von Gedanken und Gefühlen, gleichzeitig wie in Trance. Festhalten. Mara festhalten.
Er parkte auf dem Hof und entdeckte Sophie sofort. Sie stand mit Inga bei den Kräutern, hatte eine Gartenschere und ein paar Zweige Rosmarin in der Hand. Er winkte ihnen zu. »Ich komme gleich«, rief Sophie. Er hob den Daumen.
Im Wohnzimmer zog er die Schublade in der Kommode auf, tastete, fischte den Umschlag heraus und öffnete ihn. Das Armband fiel auf die oberste weiße Tischdecke.
Seine Erinnerung hatte ihn nicht getäuscht.
Er hörte Sophie an der Haustür und ließ Armband und Umschlag verschwinden. Er stand noch bei der Kommode, als sie ins Zimmer trat. Sie musterte ihn.
»Hast du Mara Aarons Armband gezeigt?«
»Was?« Er sah sie verständnislos an. »Nein, wieso?«
»Komisch«, sagte Sophie, »ich bin sicher, es war nicht mehr am selben Platz wie zuvor.«
Sie schien auf etwas von ihm zu warten, doch als er nicht reagierte, drehte sie sich um und verließ den Raum.
Thies setzte sich und blickte in die Wiesen. Was machte er da gerade? Wohin würde das führen, wenn er Sophie nicht einweihte?
Er belog sie ja nicht direkt. Er brauchte nur ein wenig Zeit. Zum Nachdenken darüber, was er heute gesehen hatte.
Mara festhalten. Das Gefühl des Aufbruchs. Das Verliebtsein. Die neue Energie.
All das war bereits vorbei, wie Gift sickerte die Erkenntnis in ihn hinein.
Nein. Nur, wenn er das zuließ. Mara würde ihm alles erklären. Er musste sie nur fragen.