»Drei, zwei, eins, los!« Bodo schaltete den Rasensprenger an, eine Wasserkaskade schoss in die Höhe, und glitzernde Tropfen regneten auf den Gemüsegarten nieder. Wasser direkt aus dem Brunnen, die Windanlage funktionierte. Sophie, Inga, Thies und Lasse jubelten. Bodo und Thies klatschen sich ab.
»Ihr seid großartig«, sagte Inga. »Das müssen wir feiern.«
»Können wir ein Lagerfeuer machen?«, rief Lasse. »Bitte, Papa! Ich geh Holz sammeln.«
»Viel zu feucht alles«, meinte Bodo.
»Soll ich dir zeigen, wie du in einem nassen Wald trockenes Holz finden kannst?«, fragte Thies den Jungen.
»Ja! Wie denn?« Lasse klang begeistert.
Sophie entging nicht der schnelle Blickwechsel zwischen Inga und Bodo. Kam er wieder einmal hoch, der alte Verdacht gegen Thies, der kein Alibi gehabt hatte, als sein Sohn verschwand? Niemand würde es aussprechen, doch die Vergangenheit war immer präsent zwischen ihnen.
»Na, dann komm!« Thies hatte zum Glück nichts davon mitbekommen und lief mit Lasse los. Das fröhliche Geplapper des Jungen war noch zu hören.
Sophie stellte sich vor, Thies dürfte den Ausflug mit seinem eigenen Sohn erleben. Doch das steigerte den Schmerz nur. Und wieder einmal fühlte sie die Gewissheit: Es hatte nicht an Thies gelegen, dass sie gescheitert waren. Er war ein guter Vater gewesen. Sie waren normale Eltern. Aber wer glaubte das? Außer sie und Thies?
Als er mit Lasse zurückkam, setzte die Dämmerung bereits ein. In ihrer Feuerstelle hinter Ingas und Bodos Haus, einem Kreis, umgeben von dicken Steinen, schichteten sie die Holzscheite auf. Alle zusammen, wie früher. Thies gab sich Mühe, er war präsenter als sonst, scherzte mit Bodo, ließ Lasse von seinem Bier probieren. Sie lachten, als Lasse den Schluck ausspuckte. Doch später, als sie um das Feuer saßen, gab es Momente, in denen Thies abwesend vor sich hinsah. Sophie wusste, dass er auf Mara wartete. Genau wie sie.
Ingas Gesicht leuchtete im Schein der Flammen. Sie wirkte so glücklich. Sophie stieß mit ihr an, die Bierflaschen klackten aneinander.
In diesem Moment klingelte Ingas Handy. »Ja, Schatz? … Okay? Gut. Bis gleich.«
»Mara ist an der Schule«, erklärte sie Bodo. »Jella kommt mit ihr zusammen zurück.«
Thies blickte vom Feuer auf. Sophie forschte in seinem Gesicht. Es war ausdruckslos.
Es verging eine volle Stunde, bis sie eintrafen. Sophie, die sich gerade eine Strickjacke geholt hatte, sah sie zuerst. Mara brachte Jella zur Haustür, nahm sie in die Arme, strich immer wieder über ihren Rücken. So standen sie eine ganze Weile. Dann löste sich das Mädchen von Mara, drehte sich um und lief ins Haus.
Mara machte ein paar Schritte in Richtung des Feuers, blieb stehen, schien zu zögern. Sophie wollte gerade zu ihr gehen, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Thies war aufgestanden. Als Mara ihm begegnete, berührte sie ihn kurz am Arm, ging aber weiter.
»Mara, endlich! Komm her und setz dich!«, rief Inga. »Nein, zuerst: Sieh dir unsere Windpumpe an! Thies’ und Bodos Gemeinschaftswerk. Rad dreht sich, Wasser läuft!«
Sie stockte, als sie bemerkte, dass Mara die Windanlage kaum beachtete. »Wo ist denn Jella?«
»Drinnen.«
»Bestimmt hat sie Hunger. Ich seh mal nach ihr.« Inga stand auf und lief zum Haus.
Bodo versorgte Mara mit einem Bier. Sophie setzte sich wieder auf ihren Platz und beobachtete Thies. Ihre Blicke trafen sich kurz. Er wich ihr aus. Er wirkte wie ein trotziger Junge, dem jemand das Spielzeug weggenommen hatte. Mara hier mit allen teilen zu müssen, klar, das passte ihm nicht.
Ein Holzscheit krachte zu Boden, Funken stoben. Lasse hatte mit einer Eisenstange in der Glut herumgestochert.
»Hör auf damit«, ermahnte Bodo seinen Sohn.
»Kann ich ein neues Holz drauflegen?«
»Du musst noch ein bisschen Geduld haben.«
Inga kam zurück. »Komisch«, sagte sie laut.
»Was denn?«, fragte Bodo.
»Jella. Sie ist irgendwie merkwürdig. Sie mag nichts von der Probe erzählen. Hunger hat sie auch keinen. Ich soll sie in Ruhe lassen.«
Bodo warf Mara einen fragenden Blick zu.
»Na ja, sie ist hundemüde«, fuhr Inga fort. »Die Woche war hart, sie hat zwei Arbeiten geschrieben, und dann heute Geigenunterricht und noch die lange Chorprobe … Aber sie will es ja. Sie ist so ehrgeizig.«
»Meine süße Kleine ist bockig.« Bodo grinste. »Da rückt wohl langsam die Pubertät näher, was?«
Sophie versuchte, verständnisvoll zu lächeln. Wie oft hatte sie früher Aarons Verhalten vor anderen erklärt und entschuldigt und war dankbar gewesen, wenn alle zustimmend nickten und das Thema ruhen ließen.
»Wie war dein Tag, Mara?«, fragte Inga.
»Ganz gut.«
»Was hast du heute gemacht?«
Mara malte mit der Fingerspitze Linien in das Kondenswasser auf ihrer Bierflasche. »Ich war spontan in Lüneburg, auf einem Kunsthandwerksmarkt.«
»Ach? Um was zu verkaufen?«, fragte Inga.
»Ja, ein paar Klamotten.« Mara stellte die Flasche so achtlos auf den Boden, dass sie umkippte und heller Schaum herausquoll. »Merkt ihr wirklich nicht, wie sich Jella fühlt? Oder wollt ihr es nicht sehen?«
Alle sahen sie überrascht an, doch ihr Blick war auf Inga gerichtet.
»Macht doch endlich mal die Augen auf.« Aus ihrem Ton war die Freundlichkeit verschwunden.
»Wieso? Was ist denn mit ihr?« Ingas Stimme klang unsicher.
»Warum spricht sie mit mir, einer Fremden? Ganz offenbar, weil sie niemanden sonst hat.«
»Was soll das jetzt plötzlich?« Bodo richtete sich auf. »Kannst du mal Klartext reden, was eigentlich los ist?«
»Jella war am Fluss, als Aaron gestorben ist. Sie war dabei.«
Die Flammen loderten an den Holzscheiten hoch, sprühten Funken in den rußgrauen Himmel.
»Was?« Inga stand auf.
»Warum hat sie das nie gesagt?«, fragte Sophie. »Hat sie … Was hat sie gesehen?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Ich habe Jella versprechen müssen, es vertraulich zu behandeln und mit niemandem darüber zu sprechen.«
»Verdammt, Mara!« Thies’ Stimme war so laut, dass Sophie zusammenfuhr. »Das hier betrifft Aarons Tod, wir haben ja wohl ein Recht darauf, zu erfahren …«
»Nein«, fuhr Bodo ihn an. »Auch wenn ihr das glaubt, aber es dreht sich nicht immer und ewig alles nur um euren Sohn.«
Thies und er starrten sich an. Eine falsche Bemerkung, und die Situation würde eskalieren.
Mara hob ihre Flasche auf und trank den Rest aus. Sie schlug entspannt die Beine übereinander und lehnte sich zurück, als sei sie Zuschauerin bei einem Theaterstück und nicht die Urheberin dieser Spannungen.
»Können wir mit Jella sprechen?«, fragte Sophie. »Wenn sie etwas weiß …«
»Sophie. Ich verstehe dich ja«, unterbrach Inga sie, »aber zuerst rede ich mit meiner Tochter. Wir«, sie drehte sich zu Bodo um, »wir fragen sie. Ich erkläre mir das so, dass sie …«
»Ich glaube, da liegt exakt das Problem«, warf Mara ein. »Ihr wollt alles erklären. Auch Dinge, die ihr gar nicht versteht. Ihr fragt nicht. Ihr hört nicht zu. Deshalb ist Jella zu mir gekommen. Sie tut mir leid. Genau wie ihr. Ihr freut euch über den neuen Frieden hier. Eine reparierte Pumpe, wie schön. Ein Lagerfeuer. Ein Blech Pizza, prima Sache. Aber glaubt ihr wirklich, dass das reicht?«
»Was denn? Was reicht deiner Meinung nach?«, fragte Inga.
»Lass sie einfach«, sagte Bodo, seine Stimme bebte. »Sie ist Madame Neunmalschlau, und wir sind hier die Dummen!«
Mara erhob sich und zog den Reißverschluss ihrer Lederjacke zu. »Es tut mir leid. So sollte es nicht rüberkommen.«
Obwohl die Entschuldigung ernst gemeint klang, spürte Sophie, dass Mara genervt war, von der Situation, von ihnen allen.
Und nun ging sie. Thies erwachte aus der Erstarrung, machte einen Schritt hinter ihr her. »Mara … warte.«
Sie reagierte nicht. Er versuchte nicht weiter, sie aufzuhalten. Setzte sich wieder. Sophies Augen brannten von der Hitze der Glut, sie blickte Mara nach, so lange wie möglich. Bis sie von der Dunkelheit verschluckt wurde.
Sie hatten das Feuer gut genährt, es züngelte und leckte gierig, immer höher. Es trennte sie voneinander, eine unüberwindbare Grenze: sie und Thies auf der einen Seite, Inga und Bodo auf der anderen. So kamen sie nicht weiter. Sophie suchte nach den richtigen Worten, um Inga zu erreichen. Inga musste sie doch verstehen!
»Natürlich könnt ihr mit Jella sprechen«, kam Inga ihr zuvor. »Aber erst mal müssen wir klären, ob das alles überhaupt stimmt.« Sie unterbrach sich, zögerte, warf Bodo einen hilfesuchenden Blick zu. »Es würde mich wundern, denn dann müssten wir davon wissen. Und dass sie angeblich Mara mehr vertraut als ihrer eigenen Mutter? Ich habe ein enges Verhältnis zu Jella. Was glaubt ihr, wie oft ich mit anderen Müttern rede: Die kriegen kaum noch was mit. Dreizehn ist ein heikles Alter. Sie wollen nicht länger Kinder sein, lassen sich extrem leicht beeinflussen. Himmeln irgendwelche Youtuberinnen an. Aber mir erzählt Jella das alles und sie …«
»Ist ja gut«, stoppte Thies ihren Redeschwall, »wir wissen, dass du eine perfekte Mutter bist.«
Inga verstummte mit einem hasserfüllten Blick.
Niemand sagte etwas. Das wütende Knacken des Feuers und das Krachen, wenn Holzscheite zu Boden gingen, waren die einzigen Geräusche.
Thies stand auf. »Dann bitte. Sprecht mit Jella. Jetzt.«