Im Flur war alles ruhig. Sie legte ein Ohr an Jellas Tür. Da war ein Geräusch. Ein Schluchzen? In diesem Moment drehte Lasse nebenan die Musik auf.
Inga klopfte und schob die Tür einen Spalt auf. Jella lag auf dem Bett, den Kopf im Kissen vergraben. Hatte sie den Streit zwischen Bodo und ihr mitangehört? Inga machte sich Vorwürfe: Wie hatten sie nur so die Kontrolle verlieren können?
Sie setzte sich auf die Bettkante und legte ihre Hand auf Jellas Schulter. »Hey … meine Süße. Was ist nur los?«
Jetzt nahm sie den durchdringenden, fast beißenden Geruch im Zimmer wahr. Er musste vom Hamster in der Ecke kommen. Wie lange hatte sich Jella nicht um das Gehege gekümmert? Die Streu schien schon Klumpen zu bilden.
»Jella, sieh mich an.«
Ein wenig bewegte sich ihr Kopf, immerhin.
»Wann kommt Mara?«
Mara! Inga streichelte über den Rücken ihrer Tochter. Sie wollte ihre Wut nicht zeigen. Mara war seit dem Lagerfeuerabend nicht mehr aufgetaucht. Nicht nur, dass sie die schreckliche Sache mit Aaron wieder aufgerührt hatte, sie hatte Jella offenbar auch gegen sie und Bodo aufgewiegelt. Sie hatte alles durcheinandergebracht und ließ sie nun im Stich.
»Ich weiß nicht, wann sie kommt«, antwortete sie.
»Ruf sie an.«
»Sie hat kein Handy.«
»Ich will zu ihr.«
Inga verspürte plötzlich einen heftigen Drang, Jella zu erschrecken, sie aus ihrer Bockigkeit herauszureißen. »Vermutlich ist sie längst weg. Zurück nach Dänemark. Wir sehen sie nie wieder.«
Jella hob den Kopf aus dem Kissen, in ihren verweinten Augen glomm Wut auf. »Das stimmt nicht. Sie würde nie wegfahren, ohne sich von mir zu verabschieden.«
Inga schüttelte den Kopf. »Da wäre ich nicht so sicher.« Sie fasste ihre Tochter an den Schultern. Im gleichen Moment spürte sie, wie sich das anfühlte: Genauso hatte Bodo sie vorhin gepackt. Sie ließ trotzdem nicht los. Sie wollte zu Jella durchdringen. »Es geht so nicht weiter, das musst du doch verstehen.«
Jella blickte stur an ihr vorbei. Die Bässe von Lasses Musik wummerten durch die Wand.
»Jella, bitte. An dem Abend, als das mit Aaron passiert ist, warst du unterwegs. Du hast damals gesagt, bei Isabell. Das stimmt, oder?«
Jella kniff die Lippen zusammen.
»Vielleicht kannst du dich nicht erinnern? Das macht gar nichts. Ich könnte Isabells Mutter anrufen und sie fragen, ob sie es noch weiß. Dann hätten wir Klarheit.«
Jella schloss die Augen, und Inga schüttelte sie leicht. »Rede mit mir! Hast du mir die Wahrheit gesagt? Es ist wichtig, das musst du doch begreifen.«
Jellas Oberkörper hing zwischen Ingas Händen wie eine fadenlose Marionette. Inga rüttelte sie jetzt heftiger. »Gib mir eine Antwort!« Plötzlich kam Spannung in Jellas Körper. Sie richtete sich auf, streckte den Rücken. »Du willst gar nichts von mir wissen. Ich soll die Tollste und die Schlauste und die Schönste sein. Das ist doch alles, was dich interessiert.«
Inga ließ sie los, und ihre Tocher fiel zurück aufs Bett, vergrub den Kopf in den Armen.
Wie kam Jella dazu? Hatte Mara ihr das eingeredet?
Nein, den Vorwurf hatte sie nicht verdient. Sie gehörte nicht zu diesen von Ehrgeiz zerfressen Müttern, die ihre Kinder zu Höchstleistungen anpeitschten. Natürlich freute sie sich über Jellas Erfolge. Genauso wie über Lasses. Die beiden waren fleißig und zielstrebig, weil sie so sein wollten. Nicht weil jemand sie dazu zwang. Inga sah ihre Tochter an, erkannte die Ablehnung in ihren Augen und wusste nicht weiter. Aber sie riss sich zusammen: Aufgeben war keine Option.
Sie stand auf, holte tief Luft. »Sag es mir, wenn du dich beruhigt hast. Ich bin für dich da.«
»Lass mich einfach in Ruhe!«
»Jella, ich will doch nur …«
»Geh raus aus meinem Zimmer!«
Nebenan stoppte die Musik. Benommen vor Wut und Hilflosigkeit ging Inga hinaus. Die Tür fiel hinter ihr zu. Sie lehnte sich an die Verstrebungen des Treppengeländers. Wusste nicht weiter. Bis sie Geräusche hörte. Durch die Wand drang leises Weinen. Jellas klägliche Stimme.
»Mama.«
Inga lief zurück zu ihr. Ihre Plüschkatze an die Brust gedrückt, saß sie im Bett. Inga nahm sie in den Arm und hielt sie fest. »Schon gut … ich bin ja da.«
Unterdrückte Schluchzer ließen Jellas Körper erbeben. Im Hamstergehege raschelte es leise.
»Mama.« Jella flüsterte in die dicke Wolle von Ingas Strickjacke. »Aaron war gemein zu mir.«