Jella lag zusammengekrümmt da, den Kopf in Ingas Schoß verborgen. Inga hatte die Arme um sie gelegt und hielt sie, bis ihre Schluchzer abebbten und die Atemzüge ruhiger wurden. Gleichmäßiger, dann kaum noch spürbar. Jella war eingeschlafen.
Inga deckte sie zu, berührte ihr Haar, das über ihre feucht glänzende Stirn und die geschlossenen Lider fiel, strich es zurück. Leise schloss sie die Zimmertür hinter sich. Im Haus war es dunkel und still. Auch durch den Spalt unter Lasses Tür drang kein Lichtschein. Sie spähte in sein Zimmer, er lag mit dem Gesicht zur Wand gedreht, die Bettdecke bis über die Ohren gezogen. Schlief er schon? Oder stellte er sich nur schlafend?
In der Küche setzte sie sich an den Tisch. Sie hatte das Abendessen vergessen. Lasse hatte sich nicht mal mehr ein Brot geschmiert. Er hinterließ sonst immer seine Spuren, und die Arbeitsfläche war leer und unberührt. Er war hungrig ins Bett gegangen.
Sie hatte das Gefühl für die Uhrzeit verloren, checkte ihr Handy. Schon zehn. Kein Anruf von Bodo, keine Nachricht. Inga trank ein Glas Wasser aus dem Hahn. Sie war erschöpft, und sie fror, aber es wäre sinnlos, ins Bett zu gehen. Sie war viel zu aufgewühlt. Jella hatte zunächst stockend erzählt, doch dann waren die Worte aus ihr herausgesprudelt. Was sie beschrieb, war ein Albtraum aus Angst und Gewalt, der wochenlang angedauert hatte.
Wo war Bodo? Inga musste ihm das erzählen.
Sie nahm das Handy und wählte seine Nummer. Er ging nicht dran. Sie schrieb eine Whatsapp: Komm nach Hause. Nur das, ohne einen Gruß.
Der Streit tat ihr leid, gleichzeitig war sie noch immer wütend. Es war keine Lösung, einfach ins Auto zu springen und wegzufahren. Und sich dann stundenlang nicht zu melden.
Außerdem fühlte sie sich im Recht. Noch mehr, seit sie erfahren hatte, was Aaron Jella angetan hatte. Was Jella jetzt brauchte, war Liebe, Vertrauen und Verständnis.
Mara hatte all diese Dinge gewusst.
Ingas Ärger über die neue Freundin war längst verflogen. Sie hatte recht gehabt mit ihren Vorwürfen: Inga hätte hinsehen, hinhören müssen, es war ihre Tochter, ihre Familie, ihre Aufgabe, sie zusammenzuhalten. Sie hatte versagt. Ab sofort würde sie es besser machen. Es war ja nicht zu spät. Jella hatte sich ihr endlich anvertraut. Was sie gerade erzählt hatte, war ein Teil der Geschichte, nicht alles, das war Inga schon klar. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie alles erzählen würde.
Ein Blick auf das Handy zeigte zwei blaue Häkchen unter ihrer Nachricht. Bodo musste sie gesehen haben, doch er antwortete nicht. Jetzt war sie froh darüber, denn es verschaffte ihr die Gelegenheit, nachzudenken. Sie brauchte eine Strategie.
Sie spürte den Drang, sich zu bewegen, sich aus der Starre zu befreien, in der sie sich gefangen fühlte. Sie zog Schuhe und Jeansjacke über und lief nach draußen. Es war viel kühler, als sie erwartet hatte, doch sie wollte nicht umkehren und eine wärmere Jacke holen. Vielleicht bog Bodo jeden Moment mit dem Wagen um die Ecke. Ein befremdlicher Gedanke: Sie ging, um Bodo nicht zu begegnen. Zum ersten Mal in ihrer Beziehung wich sie ihrem Mann bewusst aus.
Als sie den Hof überquerte, sprang der Bewegungsmelder an. Nur Sekunden später erlosch das Licht in Sophies und Thies’ Schlafzimmer, der Vorhang bewegte sich. Sie hatte Zuschauer. Wie ein nächtlicher Gast in einem Theater, der heimlich die Bühne betrat und den plötzlich ein Scheinwerfer erfasste.
Sie sah zu dem Fenster der beiden hinauf, dann zurück zu ihrem Haus. Ihr Zuhause. Sie hatte sich hier mit der Sicherheit einer Schlafwandlerin bewegt, sie kannte jeden Stein und jeden Grashalm, sie wusste alles über Bodo, über Thies und Sophie. Und über sich selbst. Warum fühlte sie sich auf einmal wie eine Fremde?
Sie war doch Teil einer Gemeinschaft. Dieses Gefühl hatte ihr Leben bestimmt, ohne dass sie bewusst darüber nachgedacht hatte: Sie war im Einklang mit ihrer Welt gewesen, hatte sich auf ihrem Platz darin sicher und geborgen gefühlt. Jetzt war sie isoliert. Jeder von ihnen kämpfte für sich allein.
Sie floh vor diesen Gedanken auf den Pfad zum Fluss. Es tat gut, schnell zu laufen. Sie sog die kühle Luft in die Lunge und spürte einen leichten Schwindel.
Sie war nie wieder spät abends an der Elbe gewesen. Nicht seit der mondlosen Nacht, in der sie ausgeschwärmt waren, um Aaron zu suchen. Sie hatten sich aufgeteilt. Die Kinder hatten Bodo begleitet, doch Inga war allein unterwegs gewesen, auf genau diesem Weg, dem Uferabschnitt bis zum Fähranleger. Da war Aaron längst tot gewesen. Auf dem Grund der Elbe. Unter Wasser, die ganze Nacht. Selbstverständlich hatte Inga ihn gesucht. War dem fahlen, flackernden Strahl der Taschenlampe gefolgt. Aber sie hatte an alles Mögliche gedacht. Dass Jella und Lasse im Dunkeln herumliefen. Dass Lasse am nächsten Tag eine Deutscharbeit schrieb, dass er müde sein würde. Und abgelenkt von der Aufregung, die Aaron mal wieder verursacht hatte. Nicht eine Sekunde hatte sich Inga vorstellen können, dass Aaron ernsthaft etwas zugestoßen war. Was musste Sophie durchgemacht haben in dieser Nacht. Als sie zurückkamen, hatte Inga versucht, sie zu beruhigen, ihr Tee gekocht, sie im Arm gehalten. Aber sie hatte nicht mit ihr gefühlt. Weil Aarons Schicksal sie nicht berührte. Nicht im Herzen. Vielleicht war er entführt worden? Inga hatte eine diffuse Zufriedenheit bei der Vorstellung verspürt, dass er verschwunden bleiben würde, ganz kurz nur währte das Gefühl, doch am nächsten Tag hatte sie deshalb Schuldgefühle gehabt. Erst recht am übernächsten Tag, als sie ihn fanden.
Der Pfad endete am Fluss. Sie blieb stehen. Mondlos war auch dieser Abend, trotzdem lag ein matter Schimmer auf dem Wasser. Inga konnte die Strömung kaum noch sehen und schon gar nicht hören, doch sie spürte sie, wie einen Luftzug, ein sanftes Prickeln in ihrer Brust, in ihren Armen. Sie hatte viel zu lange einfach nur stillgehalten, hatte gedacht, dass Schuld und Scham sich irgendwann auflösen mussten, aber das war nicht geschehen. Sie hatte sich geschämt für ihre Gefühllosigkeit gegenüber Aaron. Erst jetzt fühlte sie etwas, wenn sie an ihn dachte. Diese brennende Wut. Wie hatte er Jella das antun können?
Sie lief weiter, am Ufer entlang, bis sich neben ihr Büsche erhoben, die lange Schatten warfen. Inga schaltete die Taschenlampe an ihrem Handy ein. War es hier gewesen? Da wuchsen Strandginster und Brenndolden. Jella hatte es genau so beschrieben.
Hatte Aaron sie hier geschlagen und gequält? Abend für Abend? Die Treffen mussten nach dem Abendessen stattgefunden haben. Während Inga gedacht hatte, dass Jella an ihrem Schreibtisch saß und Hausaufgaben machte. Sie musste sich durch den Keller rausgeschlichen haben. Und hinterher war sie wieder auf ihrem Zimmer verschwunden.
Jella hatte sich ihnen nicht anvertraut, so groß war ihre Angst gewesen, dass Aaron ihr etwas antun würde. Aber Inga hätte trotzdem merken müssen, wie sehr ihre Tochter litt. Sie war das wirklich, was Mara ihr vorgeworfen hatte: achtlos und gefühllos. Sie nahm nicht wahr, was um sie herum vorging. Das war das Schlimmste, was sie über sich selbst denken konnte.
Ihr Handy klingelte. Es war Bodo.
»Wo bist du?«, fragte sie.
»Beim Stammtisch im Ratskeller. Es ist Dienstag.« In seiner Stimme lag ein aggressiver Unterton.
»Warum ist es da so still?«
»Ich bin im Flur vor der Toilette.« Er verwischte die Konsonanten. Hatte er getrunken?
»Komm nach Hause. Dann können wir reden.«
»Wieso? Was ist mit Jella? Hattest du Erfolg mit deinen Samthandschuhen?«
Das Gespräch war ihr zu blöd, sie legte auf. Eigentlich wollte sie nicht, dass er zurückkam. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie er reagierte. Bei ihm würde es kein behutsames Abwarten geben. Er würde Jella wecken und sie bedrängen. Wie, wo, wann, wie oft war sie Aaron begegnet? Bodo brauchte Fakten, Daten, Details.
Und wenn er die Frage stellte, warum Jella so lange geschwiegen hatte? Als Aaron noch lebte, stand sie unter dem Bann seiner Drohungen. Aber nach seinem Tod gab es doch keine Gefahr mehr für sie. Keinen Grund mehr, es nicht zu erzählen. Hatte sie etwas zu verheimlichen?
Konnte es sein, dass sie sich an Aaron gerächt hatte?
Der Gedanke war plötzlich einfach da.
Nein, das war vollkommen absurd. Aaron war der Täter, Jella das Opfer. Inga war sicher, dass sich die Rollen nicht vertauscht hatten. Jella hatte auch nach Aarons Tod geschwiegen, und den Grund dafür würde Inga herausfinden, aber niemals hatte ihr Kind Aaron etwas angetan. Inga würde sie beschützen und ihre Unschuld beweisen. Auf ihre Weise, mit absoluter Ehrlichkeit und notfalls gegen Bodos Willen. Es würde kompliziert werden mit ihm, und noch mehr mit Sophie und Thies.
In diesem Moment begriff Inga, dass Sophie und Thies es wissen mussten. Sie mussten erfahren, was Aaron getan hatte. Sie würden sich dagegen wehren: Hörte das denn nie auf mit seinen Sünden, nicht mal jetzt, wo er tot war? Inga wusste genau, was die beiden sich wünschten: eine Erklärung, warum er gestorben war. Sie wollten damit abschließen und all das Hässliche endlich hinter sich lassen. Sie sehnten sich nach einem Schlussstrich.
Dabei fing alles erst an.
Inga lief durch die wolkenverhangene Dämmerung zurück zum Hof, bis das Licht des Scheinwerfers sie erneut erfasste. Diesmal blieb sie stehen, mitten im Lichtkegel, direkt vor Sophies und Thies’ Fenster. Die Zeitschaltuhr des Bewegungsmelders zählte die Sekunden herunter, bis es klackte.
Aus. Dunkel.
Die Haustür gegenüber öffnete sich. »Inga? Bist du das?« Sophie trat heraus und kam auf sie zu. Das Licht sprang wieder an.