Er war immer wieder bewusst falsch abgebogen, endlose Umwege durch den Wald gelaufen. Nun ging er doch auf die Hütte zu.
Er sehnte sich danach, Mara zu sehen, zu berühren. Ihr zu vertrauen. Aber gleichzeitig fürchtete er sich davor, ihr zu begegnen. Sie kam nicht mehr zu ihm. Sie hatte nicht die Wahrheit gesagt. Und wollte er die überhaupt wissen? Was tat er, wenn Maras Wahrheiten noch schwerer zu verkraften waren als ihre Lügen?
Er näherte sich der Rückseite der Laube, nahm den Fußpfad zwischen den Buchen, deren zartgrünes Blätterdach über ihm im Sonnenlicht funkelte. Doch das Grundstück betrat er nicht durch eines der Löcher im Zaun, sondern auf dem offiziellen Weg, durch das Tor.
Er klopfte an die Holztür. Wenn sie da war, hatte sie ihn längst gesehen. Er hoffte, dass sie herauskam, mit einem Lächeln. Ich habe auf dich gewartet, Thies.
Die Hütte lag still und schäbig vor ihm. Kein Laut, keine Bewegung. Dann hörte er doch etwas. Das Scharren eines Stuhls auf dem Boden? Er klopfte erneut. Schließlich Schritte, sie näherten sich der Tür. Ihr Gesicht war ausdruckslos, als sie öffnete. Sie nickte.
Dieses Nicken machte ihn nervös. Es sagte: Ich hatte mit dir gerechnet. Ich bin vorbereitet. Es hieß nicht: Ich hatte Sehnsucht nach dir.
»Kann ich reinkommen?«
»Klar.«
Sie ließ die Tür offen, ging voraus durch den Wohnraum in die Abstellkammer. Er folgte ihr wie bei dem ersten Besuch. Auf der Matratze lagen gefaltete Shirts und Unterwäsche. Der Schlafsack war aufgerollt und stand neben ihrem Rucksack.
»Du packst?«
Sie erwiderte seinen Blick und schwieg.
»Weil du hier aufgeflogen bist?«
»Was soll die Frage, Thies?«
»Was sollte die Lüge denn? Dass du die Hütte gemietet hast?«
Sie lächelte selbstbewusst. »Leute wie ihr brauchen doch solche Erklärungen.«
»Ah so.« Thies zog die Augenbrauen hoch. Leute wie ihr.
»In Christiania ist niemand Besitzer von irgendwas. Diese Hütte steht leer, kein Mensch braucht sie, warum sollte ich nicht hier wohnen?«
»Du hättest fragen können.«
»Ist das dein Problem?«
»Bodo hat es herausgefunden.«
»Oh je, dann rückt bald die Polizei an, ja? Bekomme ich zuerst einen Räumungsbescheid?«
Das war wieder eine neue Seite an ihr: So kurz angebunden und patzig hatte er sie bisher nicht erlebt. Sie wollte ihn als Spießer dastehen lassen, aber eigentlich war sie es, die nicht souverän wirkte. Thies gefiel die Richtung gar nicht, die das Gespräch gerade nahm.
»Entschuldige. So sollte es nicht rüberkommen. Mir persönlich ist es gleichgültig, ob du legal hier wohnst oder nicht.« Noch sanfter fügte er hinzu: »Hauptsache, ich weiß, wo du bist.«
Sie kam zu ihm, berührte seine Wange, fuhr mit den Fingerspitzen über den Dreitagebart. »Seit wann rasierst du dich nicht mehr? Steht dir.«
»Ich habe dich vermisst.« Er umfasste ihr Handgelenk, legte den anderen Arm um ihre Taille und zog sie in seine Arme. Sie ließ es zu, doch er spürte Widerstand. Er wollte von ihr wahrgenommen werden, körperlich und seelisch. Vor einem Jahr hatte er aufgehört, sich selbst zu spüren. Seit Aarons Tod wusste er nicht mehr, wer er war. Wer er vorher gewesen sein sollte. Das Selbstvertrauen, mit dem er früher durchs Leben gegangen war, als Sophies Partner und auch im Beruf, war so selbstverständlich gewesen. Er hatte nie darüber nachgedacht. Erst, als diese Sicherheit verschwunden war. Mara konnte die Leere füllen, die sich in ihm ausgebreitet hatte. Wenn sie ihn gut fand, ihn begehrte. Gleichzeitig wusste er, wie gefährlich es war, sich ihr auszuliefern. Er kannte sie nicht. Bodo hatte recht mit seinem Misstrauen: Was wollte sie von ihnen?
Aber wo sollte die Gefahr liegen? Er fühlte sich sowieso am Tiefpunkt, was konnte sie ihm denn antun?
Sie konnte abreisen. Einfach verschwinden.
Warum fühlte er sich so abhängig von ihr? Sie nutzte ihre Überlegenheit nicht einmal aus. Ihre Passivität erregte ihn. Obwohl ihn zuerst ihre Stärke angezogen hatte. Er presste seine Erektion gegen ihren Körper. Spürte keinen Widerstand mehr. Sie schloss die Augen. Was auch immer er nun tat, sie würde es zulassen. Sie schien sich ihm hinzugeben. Oder einfach abzuwarten?
Auf einmal ahnte er, dass dies ein Abschied war. Sie überließ ihm die Entscheidung, wie sie auseinandergehen würden. Als Liebespaar … als Freunde … als Fremde … Sie nahm es hin, weil es für sie keine Bedeutung mehr hatte.
Er küsste sie. Berührte mit der Zungenspitze ihre Lippen, die sich öffneten. Ihre Zunge erwiderte seine Zärtlichkeiten.
Er ließ sie los.
»Was ist?«, fragte sie leise. »Was brauchst du?«
Er könnte mit ihr schlafen, dieses eine Mal. Aber sie begehrte ihn nicht, war nicht einmal wirklich anwesend.
»Du musst mir keinen Gefallen tun.«
Sie war ihm noch immer so nah, dass er nur den Arm hätte ausstrecken müssen, um sie wieder zu berühren, doch in ihren Augen sah er, dass sie bereits weit entfernt war. Er wandte sich ab.
»Ich mag dich sehr, Thies«, sagte sie. »Euch alle.«
Draußen pochte ein Specht, ein schnelles Hämmern wie kleine Gewehrsalven, drängend.
Sie ging in den Wohnraum, die Tür fiel hinter ihr zu. Er hörte, wie sie herumkramte, offenbar Möbel verschob.
Er betrachtete ihren Rucksack. Er war nur bis zur halben Höhe gepackt. Der Schmuck lag nirgendwo im Zimmer, er musste darin sein. Thies hob die Abdeckung, zog die Hand wieder zurück. Nein, das durfte er nicht. Aber es fiel ihm so schwer, sie zu konfrontieren. Zuerst musste er Klarheit haben. Er griff hinein. Seine Finger tasteten durch mehrere Lagen von Stoff, bis er kleine, kugelige Gegenstände fühlte. Sie waren im Inneren eines Beutels. Er zog ihn heraus, kippte den kompletten Inhalt auf die Matratze. Vor sich spürte er eine Bewegung und sah auf: Mara stand in der Tür.
»Was machst du?«
»Wie ist Aaron an so ein Armband gekommen?«
»Das frage ich mich genauso wie du.« Sie wich ihm nicht aus. »Woher weißt du davon?«
»Ich bin dir gefolgt. An dem Morgen in Lüneburg.«
»Auf den Kunsthandwerksmarkt?« Sie zögerte. »Hast du jemandem davon erzählt?«
Er deutete ein Kopfschütteln an.
»Warum nicht?«
Er antwortete nicht. Kam sich jetzt dumm und schwach vor, dass er sich von den Gefühlen für sie hatte verleiten lassen. Er hätte Bodo einweihen müssen.
»Ich weiß es, seit mir Sophie von Aarons Armband erzählt hat«, sagte sie. »Ich hab es mir angesehen, heimlich, bei euch im Wohnzimmer.«
»Was hast du mit Aaron zu tun gehabt?«
»Überhaupt nichts. Was denkst du denn?«
»Es muss eine Erklärung dafür geben.«
Sie richtete sich auf, wirkte plötzlich entschlossen. »Ja. Und ich ahne auch, von wem ich sie bekomme.«
»Mara. Du musst mir sagen, was du weißt.«
»Kann ich nicht.«
»Ich bitte dich.«
»Nein.«
»Jella hat angefangen, mit Inga zu reden. Aber wir wissen nicht, was sie beobachtet hat an dem Abend, als Aaron verschwunden ist.«
Mara wandte den Blick ab, das letzte Gefühl der Nähe schwand.
»Dann mach doch, was du willst«, sagte Thies. »Ich brauche deine Hilfe nicht.« Er ging an ihr vorbei aus der Laube, ohne sie noch mal anzusehen, steuerte auf ein Loch im Zaun zu.
»Thies, warte!«
Es kostete ihn Kraft, sich umzudrehen.
»Sprich mit Edith«, stieß sie hervor.
Er kam einen Schritt näher. »Wieso Edith? Weiß sie etwas?«
»Frag nicht mich.«
Er nickte: Das war’s. Mara hatte ihm ein Bröckchen hingeworfen, mehr würde er von ihr nicht bekommen. Was brauchst du? Es war ihr gleichgültig, was in ihm vorging.
Während sie stehen blieb wie eingefroren, entfernte er sich, blickte nicht mehr zurück. Der Wald hüllte ihn ein mit flirrendem Grün, verwirrend schnell wechselten Licht und Schatten.
Edith war damals vernommen worden. Wie sie alle. Wo war sie gewesen an dem Abend, als Aaron nicht nach Hause kam? Meine Mutter hat nichts gesehen, sie hatte ganz pünktlich Feierabend gemacht, hatte Inga ihnen erzählt. Weder Sophie noch er hatten das hinterfragt.
Anfang April war Aaron verschwunden, die Dämmerung hatte irgendwann gegen acht Uhr abends eingesetzt. Es stimmte, um die Zeit lag Ediths Boot längst vertäut am Anleger. Normalerweise. Aber hatte sie etwas verschwiegen?
Oder war das Ganze wieder eines von Maras Ablenkungsmanövern?
Er musste sich jetzt auf Edith konzentrieren. Nur nicht mehr an Mara denken.