Ingas Vater lag vor ihr im Bett, seine Augen waren eingesunken in schattigen Höhlen, die Lider geschlossen. Sie betrachtete seinen Arm. Aus dem Handrücken, lila verfärbt von Blutergüssen, hing ein Schlauch, der zu einem Tropf führte.
Sie atmete so flach, wie sie konnte, es schien kaum Sauerstoff in dem Raum zu sein. Es roch nach Körperausdünstungen und Desinfektionsmittel.
Sophie war Ulrich seit dem Beginn der Chemo nicht begegnet. Wenn sie an ihn gedacht hatte, dann hatte sie ihn im Führerstand der Fähre vor sich gesehen, in seinem Norwegerpullover, eine dunkelblaue Kapitänsmütze auf dem Kopf.
Inga beugte sich über ihren Vater, berührte seinen Arm. »Papa?« Sie wandte sich zu Sophie um. »Er reagiert nicht. Was ist denn jetzt mit ihm?«
Sophie trat neben sie und starrte auf Ulrichs Brustkorb unter der Decke: Er hob und senkte sich, aber fast unmerklich.
Eine Pflegerin kam herein, etwa in ihrer beider Alter, mit einem herzförmigen Gesicht und Fältchen um Augen und Mund.
»Ihr Vater hat ein Beruhigungsmittel bekommen, er wird noch einige Stunden schlafen«, erklärte sie Inga. »Hat Ihnen das meine Kollegin nicht gesagt?«
»Nein«, gab Inga zurück. »Was ist denn eigentlich los?«
»Er hatte eine Tachykardie, also akutes Herzrasen. Er hat hyperventiliert. Zum Glück war der Hausarzt gerade im Gebäude, er hat ihn versorgt und kommt heute Abend wieder vorbei. Wir haben ihn erst mal in das Einzelzimmer verlegt. So hat er mehr Ruhe. Und das Schwesternzimmer ist gleich nebenan.«
»Ich bleibe bei ihm«, sagte Inga. »Hätten Sie mich nur früher angerufen.«
Die Schwester blickte überrascht auf. »Ihre Mutter war ja hier.« Sie überprüfte den Tropf. »Es war alles ganz normal, bis er heute morgen den Besuch von dieser Frau bekam. Die Begegnung muss ihn sehr aufgeregt haben. Wir dachten zuerst, es sei ein Herzinfarkt, aber das hat sich zum Glück nicht bestätigt.«
Inga hob den Kopf. »Was für ein Besuch?«
»Ich selber hatte erst später Dienstbeginn. Meine Kollegin meinte, es war eine Frau, so Ende vierzig. Und dass sie sie noch nie gesehen hat.«
»Kann denn jeder hier einfach reinspazieren?«, fragte Sophie.
»Selbstverständlich nicht«, antwortete die Pflegerin, freundlich wie zuvor. »Man muss sich am Empfang anmelden. Und bei fremden Personen fragen wir vorher nach. Sie wäre also nicht zu Ihrem Vater gelassen worden, wenn er dem Besuch nicht zugestimmt hätte.« Sie inspizierte Ulrichs Kanüle im Handrücken und wandte sich zum Gehen. »Falls etwas sein sollte, klingeln Sie bitte.«
Die Tür schloss sich hinter ihr mit einem schmatzenden, gummigedämpften Geräusch.
Inga und Sophie wechselten einen Blick.
»Glaubst du …«, brachte Inga hervor.
Sophie hob die Schultern.
»Was soll das? Was will sie bei meinem Vater?«
»Frag beim Empfang nach dem Namen«, sagte Sophie.
Inga ging zur Tür, drehte sich noch einmal um. »Sophie. Du musst nicht hierbleiben.«
»Geh nur, ich warte auf dich.«
Sophie setzte sich und lehnte den Kopf an die Wand. Stille kroch aus den Ecken, kein Laut kam von Ulrich, nicht mal ein leises Atmen. Draußen im Park, in den Bäumen, sangen Vögel.
Inga kam zurück, sank auf den zweiten Stuhl. »Mara Thielmann. Unter dem Namen hat sie sich angemeldet. Und noch was: Sie hat gesagt, sie sei mit meinem Vater verwandt.«