Es war die erste Reise ins Ausland, auf die Johanna sie mitnahm. Zuerst hatte sie erzählt, es sei das Geschenk zu Maras siebtem Geburtstag, später hieß es: Wir fahren als Abgesandte der Anti-Atomkraftbewegung von Christiania, um die AKW-Gegner in Deutschland zu unterstützen. Als sie das sagte, hatte Johanna sehr stolz geklungen.
Es fühlte sich dann auch nicht an wie ein Geburtstagsgeschenk.
Zusammengepfercht saßen sie auf der Rückbank eines klapprigen Diesels, der bereits auf der ersten Etappe der Fahrt, bis zur Fähre nach Gedser, mehrfach streikte. Außer Johanna und ihr waren noch drei Männer dabei, Mara kannte sie: Daan aus Amsterdam, er arbeitete in der Backstube und hatte ihr schon ab und zu etwas Süßes oder ein Brötchen zugesteckt, die anderen beiden spielten mit Johanna in der Theatergruppe. Alle hatten lange Haare und rochen nach Zigarettenrauch. Es war sehr kalt im Wagen, die Heizung war kaputt, und Mara trug zwei Jacken übereinander. Das Schiff erreichten sie knapp, und Mara durfte an Bord nicht draußen herumlaufen. Wenigstens war es warm im Inneren.
In Rostock angekommen, saßen sie in einer endlosen Schlange von Autos fest, die kaum vom Fleck kam. Das sei die Grenzkontrolle, erklärte Johanna ihr, das Land sei geteilt und sie müssten ein Stück auf der Transitstrecke durch die DDR fahren.
Als sie endlich den Grenzposten erreicht hatten und an der Reihe waren, verlangte ein Beamter ihre Ausweise. Mara hatte Angst vor dem Mann, denn sie spürte Daans und Johannas Anspannung. Der Beamte reichte Daan ein Blatt Papier. Sie durften weiterfahren. Daan fuhr jetzt langsamer, obwohl die Autobahn leer war. Mara blickte aus dem Fenster, doch es gab nichts Interessantes zu sehen.
Als sie an einer Tankstelle hielten, brach ein Streit aus, alle diskutierten wild durcheinander. »If I don’t get more, we won’t reach Hannover!« Mara verstand kein Englisch, aber sie hörte, wie aufgebracht Daan war. Als die anderen murrend in den Taschen kramten, begriff sie. Er wollte mehr Geld.
»Just a minute.« Johanna verschwand in Richtung der Raststätte. Sie warteten, jeder rauchend bis auf Mara, an die Karosserie des Wagens gelehnt.
Johanna kam nicht.
»Go. Hol deine Mom«, forderte Daan Mara auf.
Sie sagte nie ›Mom‹ oder ›Mama‹, in Christiania nannten alle Kinder, die sie kannte, ihre Eltern bei den Vornamen. Sie lief zu den Toilettenräumen.
»Johanna?«, rief sie in den gekachelten Raum mit den Kabinen.
Ihre Mutter kam aus einer davon hervor, sie war sehr blass und hatte rot umränderte Augen.
»Die warten auf dich«, sagte Mara. »Ich glaube, Daan ist sauer.«
Johanna sagte nichts.
»Hast du kein Geld?«
Sie liefen langsam zurück zum Wagen. »Hey, was …? What are you doing!«, schrie Johanna auf einmal und rannte los. Die Männer hatten den Kofferraum geöffnet und kramten in einem Rucksack. Es war ihrer.
Daan hielt inne und drehte sich zu ihr um. »Ten D-Mark. Zehn. Oder du gehst. With your daughter.«
»Wir können nicht zurück. Nicht auf der Transitstrecke, das weißt du genau.«
Daan und Johanna stritten auf Englisch, Mara hörte immer wieder das Wort »Fuck«. Ein böses Wort, das wusste sie.
Johanna knöpfte ihre Jeans auf. Sie trug ein flaches Lederetui an einem Gurt um den Bauch. Sie zog einen Geldschein heraus. Daan schnappte ihn sich, legte den Arm um Johannas Taille und zog sie zu sich. »Danke, Baby.« Sie ließ sich von ihm küssen. Die anderen grinsten.
»Steig ein«, sagte er zu Mara. Sie musste wieder in die Mitte, weil sie die kürzesten Beine hatte. Sie fuhren schweigend. Irgendwann schlief sie ein, den Kopf an Johannas Schulter gelehnt. Und erwachte von einer fremden, aufgeregten Stimme. Sie kam aus dem Radio. Mara konnte Deutsch gut verstehen, Johanna redete immer in ihrer Muttersprache mit ihr, während sie in der Schule und mit ihren Freunden Dänisch sprach.
»Das gibt es nicht!«, rief Johanna aus. »Diese Schweine!«
»What’s up?«, wollten die anderen wissen.
»Die bringen uns alle um! They’re gonna kill us!«
»Der Reaktorunfall im amerikanischen Harrisburg konnte laut der zuständigen Behörden noch nicht unter Kontrolle gebracht werden«, sagte der Radiosprecher. Johanna übersetzte, zuerst auf Englisch für Daan, dann auf Dänisch. Mara wusste nicht, was ein Reaktor war, begriff nicht, um was es ging. Johanna warf mit komischen Namen um sich. Harrisburg. Three Miles. Sie fuchtelte aufgeregt mit den Armen herum, wiederholte deutsche Wörter, die der Radiomann benutzt hatte. Störfall. Kernschmelze. Kühlwasser. Radioaktives Gas. »Radioactivity, you understand? A horrible accident!«
Die Männer fluchten.
»Was ist denn passiert?«, fragte Mara.
»In einem Atomkraftwerk hat es einen Unfall gegeben, eine teilweise Kernschmelze«, erklärte Johanna.
»Ist der Reaktor jetzt kaputt?«
»Er ist weit weg, in Amerika. Du musst keine Angst haben. Aber genau deshalb protestieren wir. Weil so was auch bei uns passieren könnte.« Sie nahm Mara in den Arm und küsste sie auf die Stirn.
Sie fuhren. Der Motor röhrte gleichmäßig. Mara lehnte den Kopf nach hinten, ihre Lider wurden bleischwer.
»Mara! Wach doch auf. Wir sind da!« Johannas Stimme kam aus weiter Ferne. Mara blinzelte und sah aus dem Seitenfenster. Sie überholten eine Reihe aus unzähligen Traktoren mit Anhängern, an denen Bettlaken mit Parolen hingen. Die Frontscheiben waren mit Tulpen und Osterglocken geschmückt. Zwischen den Treckern liefen Leute herum, mit gelben Regenmänteln, manche mit Regenschirmen, bunte gestrickte Wollmützen auf dem Kopf. Genauso eine hatte sie selbst auch.
Bald waren sie komplett von Fußgängern eingeschlossen und fuhren nur noch im Schritttempo. Daan steuerte den Wagen an den Straßenrand und hielt. Sie stiegen aus. Mara fühlte sich ganz steif, vom langen Sitzen, aber am meisten von der Kälte. Es regnete ununterbrochen. Sie hatte so etwas noch nie gesehen, so einen Strom von Menschen, und alle liefen in dieselbe Richtung. Sie reihten sich ein, wurden mitgezogen, mitgeschoben. Der Wind zerrte an Plakaten und Transparenten, die über die Köpfe gehalten wurden, die an den Balkonen der Häuser und an den Fahrzeugen hingen. Mara konnte die deutschen Wörter darauf nicht lesen, aber sie kannte das Zeichen, das auf den meisten zu sehen war und das die Leute auch auf kleinen runden Ansteckern an den Mänteln trugen: ein gelber Kreis und darin eine orangen lächelnde Sonne. Die Leute sangen und tanzten, manche hatten weiß geschminkte Gesichter und sahen aus wie die Toten aus Johannas letztem Theaterstück. »Albrecht, wir kommen!« Das wurde gerufen, immer wieder, manchmal lachend, manchmal wütend skandiert.
Johanna lachte, tanzte und stimmte in die Parolen ein. »It’s great!«, schrie sie zu Daan hinüber. »This is the Gorleben-Treck! Wir sind dabei!«
»Wer ist Albrecht?« Mara sah zu Johanna auf, doch die hatte sie nicht gehört.
Sie erreichten einen riesigen Platz. Aus allen Straßen kamen die Menschen aus dem Zug hier zusammen. Mara klammerte sich an Johannas Hand, sie durfte sie nicht verlieren. Einmal nahm Daan sie auf die Schultern, und sie erblickte weit und breit keinen Fleck, auf dem sich nicht Menschen drängten. Reden wurden gehalten, von denen sie nichts verstand. Daan setzte sie wieder auf den Boden. Sie wurde gedrängt, gestoßen.
»Wahnsinn, oder?«, rief Johanna. »Wahnsinn!« Sie sah ganz fremd aus, ihre Augen leuchteten, sie lachte und sprach mit wildfremden Leuten. Daan und die anderen waren verschwunden, sie waren allein in der Menschenmasse. Mara hatte plötzlich Angst.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sich der Platz irgendwann leerte. Johanna zog an ihrer Hand. »Komm. Hier entlang.«
Mara war durchnässt und fror, die Brote, die sie mitgenommen hatten, waren längst aufgegessen. »Fahren wir jetzt zurück?«, fragte sie. »Wo ist das Auto?«
»Wir bleiben noch. Sonst hätte sich der weite Weg doch gar nicht gelohnt.« Johanna ließ Maras Hand los, sie ging schnell, und Mara musste fast rennen, um Schritt mit ihr zu halten.
»Los. Geh da rein.« Johanna öffnete eine Tür, Lärm und Qualm schlugen Mara entgegen, Rauch biss in ihre Augen. Aber die Luft war warm. Sogar sehr warm. Es war eine Kneipe, zum Bersten gefüllt, hauptsächlich mit Männern, die Bier tranken und rauchten.
»Warte auf mich«, befahl ihr Johanna.
Und Mara quetschte sich an eine mit Holz vertäfelte Wand. Sie versuchte, ihre Mutter nicht aus dem Blick zu verlieren.
Kurze Zeit später hatte die eine Zigarette und ein Bier in der Hand. Zwei Männer sprachen gleichzeitig auf sie ein. Sie lachte und warf ihre Haare zurück. In ihren Augen funkelte es. Mara kannte das Funkeln.
Später landeten sie in der Wohnung dieser Männer, bekamen eine Matratze zugewiesen. Mara ließ sich in ihren Kleidern darauf fallen und rollte sich in eine Decke. Sie wollte weinen, doch das würde nur Kraft kosten. Sie sah noch, dass Johanna den Raum verließ und die Tür zuzog, dann fielen ihre Augen zu. Als Mara aufwachte, lag ihre Mutter nicht neben ihr.
Nachdem sie den Vormittag wieder auf der Demo verbracht hatten, durften Johanna und sie auf einem Traktor von der Protestkundgebung nach Hause mitfahren. Ins Wendland. Da wollte Johanna als Nächstes hin. Anfangs fand Mara es aufregend, sie thronten so hoch über der Straße, aber dann ging es nur langsam vorwärts, der Motor dröhnte, und es wurde wieder kalt. Johannas Augen funkelten für den Bauern auf dem Fahrersitz. Mara blieb still auf ihrem Platz. Sie wusste aus Erfahrung, dass Johanna nie etwas planlos tat. Sie würde für sie beide sorgen. Am besten kam sie ihr dabei nicht in die Quere.
Irgendwann fuhren sie eine schnurgerade Straße durch einen Wald, der Mara endlos erschien, dann schnaufte der Trecker einen Hügel bergauf, und Mara blickte in eine weite Ebene. Sie wurde von einem Fluss geteilt, der sich in die Ferne schlängelte, so weit sie blicken konnte.
»Die Elbe!«, rief Johanna. »Schau, Mara, an dem Fluss bin ich geboren worden.«
Häuser tauchten auf, der Traktor erreichte einen Ort, hielt auf einem kleinen Platz mit einem Brunnen.
»Am besten, ihr wartet hier«, sagte der Fahrer. »Ich sag ihm Bescheid.«
Sie stiegen ab und setzten sich auf den Brunnenrand. Die Gebäude ringsum sahen alt und gemütlich aus, weiß gestrichen, mit schwarzen Holzbalken. Mara schielte zu den Geschäften, besonders zu einer Bäckerei hinüber. Warmes Licht schien im Inneren, und sie bildete sich ein, dass es bis zu ihr nach Brot und Kuchen duftete. Die Schatten der Häuser wuchsen, fielen über sie. Die Geschäftsleute verließen die Läden, schlossen die Türen ab. Nur sie und Johanna blieben zurück auf dem Platz.
»Er muss kommen«, murmelte Johanna.
Mara war zu müde, um sie zu fragen, auf wen sie eigentlich warteten. Ihr war furchtbar kalt.
*
Scheinwerfer tauchten auf, zwei grelle Lichtpunkte, die sich schnell näherten und direkt auf sie zuhielten. Mara erschrak und war gleichzeitig froh, dass endlich etwas passierte. Und wirklich, das Auto hielt vor ihnen! Ein Mann stieg aus, er hatte dunkelbraunes Haar und trug einen warmen Mantel mit Hornknöpfen, genau so einen, wie Mara ihn sich wünschte, aber nicht bekam, weil Johanna kein Geld dafür hatte.
»Hallo Richie«, sagte Johanna, ohne sich zu bewegen.
Wie auf der Hut. Freute sie sich nicht, diesen alten Freund wiederzutreffen? Ihre Mutter war sonst nie so zurückhaltend. Ihre Stimme klang, als müsse sie erst einmal etwas Sperriges herunterschlucken.
Dieser Richie blieb stumm, irgendwie bekam auch er die Zähne nicht auseinander, er starrte Johanna nur an. Und dann Mara. Immer abwechselnd.
Mara wartete ab und schwieg. Erwachsene verhielten sich oft komisch. Langsam wurde sie jedoch ungeduldig, weil nichts passierte. Ihr Magen tat weh vor Hunger. Aber besser war es, den Mund zu halten. Denn irgendwas stimmte nicht mit ihrer Mutter und diesem Mann.
Plötzlich riss der Mann Johanna an sich und umarmte sie.
Auch das dauerte. Als er sie wieder losgelassen hatte, kam er zu Mara. Streckte ihr die Hand entgegen. Als sie etwas zögerlich ihre hineinlegte, zog er sie ebenfalls in die Arme. Sie wurde gegen seine Brust gedrückt, bekam kaum Luft, aber die Umarmung fühlte sich trotzdem gut an. Ihr wurde ganz warm.
Richie brachte sie mit dem Auto zu einer Hütte aus Holz. Die lag im Wald und hatte ein Plumpsklo im Garten. Ein bisschen war es wie zu Hause, nur vollkommen einsam. Im Inneren gab es zwei Räume. In dem größeren standen Gartenmöbel mit dicken, geblümten Sitzkissen darauf. Und ein Sofa mit einer Wolldecke. Richie ging in den zweiten, kleineren Raum, in dem sich Gartengeräte, ein Grill und allerhand Krimskrams stapelten. Er schleppte eine Matratze heran.
»Lass sie doch nebenan liegen, dann kann Mara gleich schlafen gehen«, meinte Johanna.
Richie hatte Bier mitgebracht, Brot und Aufschnitt. Aus einem Schrank holte er eine Flasche Korn. Johanna lehnte ab, sie wolle keinen Alkohol und nichts zu essen. Aber Mara machte sich zwei Brote, und er sah ihr zu, wie sie gierig kaute. Johanna redete ununterbrochen, erzählte von dem Platz in Hannover, von der Kundgebung. Mara hörte nicht richtig zu, erst als ihre Mutter plötzlich eine Pause einlegte und hörbar einatmete, blickte sie auf.
»Ich bin wegen dir hingefahren«, sagte Johanna zu Richie.
Er verzog den Mund. »In den Nachrichten haben sie gesagt, wir waren hunderttausend Atomkraftgegner. Die bisher größte Protestveranstaltung in der Bundesrepublik. Und du dachtest, du könntest mich da treffen?« Es klang nicht nett. Als würde er nicht viel von Johanna halten. Er war nicht gern bei ihnen in der Hütte, das spürte Mara. Er rutschte auf dem Gartenstuhl herum, hatte nicht mal die Jacke ausgezogen. Und er sah heimlich auf die Uhr.
»Und was nun?«, fragte er.
Johanna antwortete ihm nicht. Sie sah kurz zu Mara und ganz schnell wieder weg.
Richie betrachtete seine Hände auf dem Tisch. Er trommelte mit den Zeigefingern einen Rhythmus.
Mara tat, als müsse sie gähnen. Sie rieb ihre Augen. »Kann ich ins Bett gehen?«
Johanna führte sie in die Kammer, wo schon der Rucksack stand. Sie wartete, bis Mara sich hingelegt hatte, deckte sie zu. Dann nahm sie Maras Kopf sanft in beide Hände und gab ihr einen Kuss. »Meine Große. Schlaf gut.«
Sie schloss die Tür.
Schlagartig war es stockdunkel. Mara zog die Wolldecke bis über ihre Ohren. Sie kratzte und roch wie etwas Öliges aus einer Werkstatt. Doch es war besser, sie zu haben, als frieren zu müssen. Von nebenan hörte sie den Gartenstuhl quietschen. War Richie aufgestanden? Ging er jetzt? Dann konnte sie bestimmt zu Johanna in den warmen, großen Raum umziehen.
»Weiß sie es?« Das war seine Stimme, gedämpft, aber zu verstehen.
»Schsch«, machte Johanna. »Warte.«
Mara schob die Decke von den Ohren herunter und lauschte. Es blieb eine ganze Weile still. Draußen rief ein Käuzchen. Eine Nachteule. Sie war ja mitten in einem riesigen Wald. Bestimmt schlichen Tiere um die Hütte herum. Füchse. Vielleicht ein Wolf. Mara machte sich klein, rollte sich zusammen, schloss die Augen. Sie sah sich durch dunkles Dickicht laufen. Alle Geräusche um sie verstummten, das lag an ihr. Sie musste leiser sein. Sie lief auf Zehenspitzen, das Moos gab unter ihr nach. Noch leiser … Gemurmel drang in ihr Bewusstsein. Stimmen. Schschsch … Die Tiere krochen in ihre Höhlen. Versteckten sich.
Plötzlich fiel ein Lichtschein über das Bett, die Tür war aufgegangen. Mara blinzelte, kniff die Augen schnell wieder zu.
»Sie schläft«, sagte Johanna, und das Licht verschwand, als sie die Tür schloss.
»Du kannst doch nicht urplötzlich hier auftauchen.« Das war Richies Stimme. »Du hast dich jahrelang nicht gemeldet.«
»Hast du Kontakt zu den anderen auf St. Pauli?«, fragte Johanna. »Sind die noch in den besetzten Häusern?«
»Schon lange nicht mehr. Und ich war ewig nicht in Hamburg.«
»Was machst du denn so?«
»Ach, Johanna, was soll das? Ich habe keine Lust, mich von dir ausfragen zu lassen. Ich muss jetzt los.«
Wieder quietschte der Stuhl. Und noch ein zweiter.
»Es tut mir leid. Ich wäre ja nicht hergekommen, aber ich brauche … Wir brauchen deine Hilfe.«
»Auf einmal?«
Johanna sagte nichts.
»Und wie stellst du dir das vor?«
»Ich dachte« — eine längere Pause entstand — »vielleicht können wir hierbleiben.«
»Auf keinen Fall.«
»Richie. Bitte. Warum denn nicht?«
»Ich habe mich selbstständig gemacht. Mit einem Schlosserbetrieb und …«
»Das ist doch toll!«, unterbrach Johanna ihn. »Ich könnte dir helfen. Ich schreibe die Rechnungen für die Kunden. Gehe ans Telefon, mache Termine aus oder so …«
»Johanna, ich bin verheiratet. Wir haben eine Tochter. Inga. Sie ist zwei Jahre alt.«
Stille. Niemand sagte mehr etwas. Eine lange Zeit.
Mara schob die Wolldecke weg und setzte sich auf. Was sollte das? Warum kam ihre Mutter auf die Idee, zu diesem Typen ziehen zu wollen? Mara wollte nach Hause, nach Christiania. Zu ihren Freunden, zu Ebba und Lykke. Zu den Hundewelpen, die keinem gehörten und sich von ihnen füttern und streicheln ließen.
»Du musst zurückfahren«, sagte Richie. »Gleich morgen früh.«
»Kannst du uns etwas Geld geben?«
»Ja, sicher … Warte.«
Mara hörte Richies Schritte.
»Hier.«
»Nein, ich meine … monatlich. Nur vorübergehend.«
Von ihm kam keine Antwort.
»Im Sommer wird es besser. Ich mache Schmuck und verkaufe ihn in der Pusher Street. Die Touristen kommen erst ab Juni. Wenn ich allein wäre, käme ich klar. Aber nicht mit Mara … Sie ist auch deine Tochter.«
»Die nicht mal von mir weiß. Tut mir leid, Johanna. Damals habe ich dich angefleht, hierzubleiben. Du wolltest unbedingt die große Freiheit. Hier war dir alles zu spießig. Ich war dir zu spießig, mit meiner Wohnung in Harlingerwedel. Mit meiner Lehrstelle. Arbeit von sieben bis vier.« Seine schweren Schritte hallten durch den Raum. »Ich habe mir hier etwas aufgebaut. Und das riskiere ich nicht für eine Frau, die vor acht Jahren aus meinem Leben verschwunden ist. Ich muss wirklich los. Edith fragt sich sicher schon, wo ich bin.«
Mara warf die Decke endgültig von sich und stand auf. Sie fror. Gleichzeitig war ihr heiß.
Der Mann war ihr Vater.
Sie drückte die Klinke der Tür herunter, ganz langsam, ohne ein Geräusch zu machen. Sie schob sie einen Spalt auf. Ihr Vater. Sie wollte ihn sehen.
Johanna stand vor ihm, mit dem Rücken zu Mara. Sie strich mit der Hand über seine Wange, ließ sie in seinem Nacken liegen. »Ich habe dich vermisst«, flüsterte sie.
Er packte ihr Handgelenk und zog ihren Arm herunter. »Lass es, Johanna. Das zieht nicht mehr.«
Johanna lehnte sich gegen seine Brust, eine ihrer Hände verschwand zwischen ihnen. Mara sah nur Richies Augen, die auf das Gesicht ihrer Mutter gerichtet waren.
»Erinnerst du dich?«, fragte Johanna. »Das hast du gemocht.«
Beide atmeten heftiger.
»Nein. Hör auf«, er wich einen Schritt zurück. Sah Johanna aber immer noch an.
Sie griff nach seiner Jacke und zog sie ihm aus. Ließ sie auf den Boden fallen. Sie öffnete sein Hemd und streifte es von seinem Körper. Sie küsste ihn in die Halsbeuge. Das alles ging wie in Zeitlupe vor sich.
Mara konnte den Blick nicht abwenden. Sie war sich bewusst, dass sie leicht zu entdecken war. Aber ihre Mutter und Richie waren zu beschäftigt, um in ihre Richtung zu sehen. Und es war Mara auf einmal egal. Hitze und Kälte kämpften unerbittlich in ihrem Körper, sie spürte, dass sie Fieber hatte. Sie biss die Zähne fest aufeinander.
Johanna zog ihren Wollpullover aus. Mara sah ihren schmalen Rücken im Unterhemd.
»Fass mich an.«
Richie berührte Johanna. Er keuchte.
Mara konnte sich nicht bewegen. Sie wollte das nicht sehen, es war peinlich, und sie ekelte sich. Und gleichzeitig fühlte sie sich genauso wie an dem Tag, an dem die Verkäuferin in Kopenhagen sie beim Klauen erwischt hatte und sie in einem Raum eingesperrt warten musste, bis Johanna sie abholen kam: Sie schämte sich. Und sie fühlte sich schuldig.
Wenn ich allein wäre, käme ich klar. Aber nicht mit Mara. Sie ist auch deine Tochter.
Richie umfasste Johannas Schultern und drängte sie zu dem Sofa, wo er ihr das Unterhemd auszog. Sie trug keinen BH. Als sie vor ihm lag, streifte er die Hose ab und legte sich auf sie.
Mara sah seinen nackten Rücken, der sich auf und ab bewegte. Auch sein Kopf war in ständiger Bewegung, er küsste Johannas Brüste, ihren Hals, näherte sich ihrem Mund. Dabei stöhnte er. Von Johanna kam kein Laut, doch sie drehte sich zur Seite, wich seinen Küssen aus.
Mara sah ihr Gesicht. Es war nass von Tränen. Aber noch viel schlimmer waren ihre Augen. Ihr Blick wie festgefroren. Dieser Mann tat ihr weh. Und dann, auf einmal, traf der schreckliche ausgelöschte Blick sie. Mara erstarrte, erwiderte ihn stumm. Sie weinte nicht. Sie half Johanna nicht. Sie wartete, dass das Stöhnen aufhörte. Das Aufklatschen von Haut auf nackter Haut.
Und es hörte auf.
Richie blieb auf Johanna liegen, er verdeckte sie mit seinem Körper, sie schloss die Augen.
Mara ließ den Türspalt offen und kroch unter die Decke auf der Matratze. Heiße Wellen durchfluteten sie, während ihre Zähne unkontrollierbar aufeinanderschlugen. Sie sehnte sich nach dem kühlen, stillen Wald, doch ein Regenbogen aus allen Farben leuchtete hinter ihren schmerzenden, pochenden Schläfen, dann zerbarst er in bunte Dreiecke, Vierecke, Kreise. Und die zerstoben weiter in einzelne leuchtende Punkte wie ein Feuerwerk.
Irgendwann spürte sie eine Berührung auf ihrer Stirn. Es war Johannas Hand. Sie war eiskalt.