Mara hatte aufgehört zu erzählen, doch sie schien den Blick nicht von dem Sofa lösen zu können.
Auch Edith schwieg. Es war, als sähe sie es noch, in der Dunkelheit hinter dem Türspalt. Das fiebernde Kind.
Edith erinnerte sich an den ersten Treck nach Hannover. Hunderte Bauern aus dem Wendland waren damals mit ihren Traktoren aufgebrochen. Auch Ulrich war mitgefahren. Sie hatte ihm nichts angemerkt in diesen Tagen.
Lüg doch nicht wieder. Du kannst dich sehr genau erinnern an den Abend.
Er war spät nach Hause gekommen, und er war aufgewühlt gewesen. Sie hatte sich mit einem ›Was soll los sein?‹ von ihm zufriedengegeben. Am nächsten Tag in der Bäckerei war sie gefragt worden, ob Verwandtschaft zu Besuch sei? Weil Ulrich eine Frau mit einem Kind am Brunnen abgeholt hatte? Der Ort hatte tausend Augen und tausend Ohren. Sie hätte der Sache auf den Grund gehen können. Stattdessen hatte sie freundlich geantwortet: ›Ja, eine Großcousine von Ulrich mit ihrer Tochter‹, hatte abgewartet, ihn beobachtet und war recht bald zur Tagesordnung übergegangen. Sie hatte nichts davon wissen wollen.
»Was hat deine Mutter dann gemacht?«, fragte sie.
Mara wandte sich zu ihr um, wie in Zeitlupe, als sei sie noch immer in den Erinnerungen gefangen. »Wir sind zurückgefahren nach Christiania. Ich bin lange krank gewesen. Johanna hat weitergekämpft. Sie hat verschiedene Jobs angenommen. Aber wir kamen nicht gut klar.«
»Ulrich hat sich also nicht um euch gekümmert?«
»Johanna hat mir gesagt, dass er sich nicht für uns interessieren würde. Ulrich war mit dir zusammen. Er hat uns weggestoßen.« Sie hob den Kopf und lachte auf. »Das war die Version, die Johanna mir verkauft hat, jahrelang. Und so habe ich ihm die Schuld gegeben. Wenn er uns damals geholfen hätte, wäre unser Leben anders verlaufen. Johanna wäre vielleicht nicht drogenabhängig geworden. Sie hat sich vor ihm erniedrigt. Er hätte merken müssen, warum sie sich ihm anbietet. Ganz bestimmt nicht, weil sie ihn so sehr begehrte! Das kann ich ihm am wenigsten verzeihen. Er hat die Situation ausgenutzt, es war demütigend und würdelos.
Meine Mutter ist langsam abgedriftet in ihre eigene Welt, sie hat viel getrunken und gekifft. Ich half mir damit, ihre Schmuckvorräte zu verkaufen, von irgendetwas mussten wir ja leben, dann habe ich selbst Makramee und Nähen gelernt. Sie war mal hier, mal da, hatte verschiedene Jobs, wechselnde Männer. Ich habe ihr immer wieder Geld gegeben. Ein paarmal habe ich versucht, woanders hinzugehen, auch ins Ausland, aber es hat nicht funktioniert. Wenn ich zurückkam, nahm sie es kaum zur Kenntnis. Ich schien ihr egal zu sein, so wie ihr alles zunehmend gleichgültig wurde. Irgendwann hat sie dann mit dem Heroin angefangen. Sie wollte sich nur noch zerstören.«
»Wie geht es ihr jetzt?«
Mara blickte überrascht auf. »Sie ist tot, schon seit vielen Jahren. Eine Überdosis.«
»Warst du bei ihr? Am Schluss?«
»Wir hatten kaum noch Kontakt. Ich konnte das alles nicht mehr mitansehen.«
»Das muss schwer für dich gewesen sein.«
Mara zuckte die Schultern. »Meine Mutter glaubte, sie habe viel Pech gehabt. Vor allem mit Männern. Aber inzwischen denke ich, es lag an ihr selbst. Sie konnte die Nähe nicht ertragen. Sie wollte keine Verantwortung übernehmen, weder für sich noch für jemand anderen.«
«Und heute? Kannst du ihr verzeihen?«
»Ich konnte es lange nicht. Wie anders hätte meine Kindheit sein können, in einer echten Familie, mit einem Vater. Inzwischen verstehe ich sie besser. Manchmal habe ich Angst, dass ich genauso bin wie sie.«
»Wieso bist du hierhergekommen? Ausgerechnet jetzt?« Edith hatte Mara nun auch geduzt. Es fühlte sich auf einmal richtig an.
»Vor ein paar Wochen sprach mich jemand an, in Christiania. Ein Engländer, der in ein Zimmer in der großen Kaserne eingezogen ist, das Johanna früher mal bewohnt hatte. Sie hatte persönliche Dinge dort gelassen, in einem Schrank. Ballast abwerfen, nannte sie das. ›Lass es hinter dir, geh weg und fang neu an.‹ Das war ihr Credo. Jedenfalls hat dieser Typ mir einen Karton gebracht. Da drin waren Briefe von Ulrich. Er hatte ihr nach dem Vorfall hier in der Hütte geschrieben. Sie um Verzeihung gebeten. Er wollte Verantwortung übernehmen. Er würde eine Lösung finden, wie wir zusammen sein könnten.« Mara sah Edith an. »Er hatte vor, dir alles zu sagen. Ich vermute, Johanna hat ihm nicht mehr geantwortet. Offenbar hatte sie sich alles längst wieder anders überlegt. Aber sie hätte sein Geld nehmen können. Für mich.«
»Er hat nie mit mir über euch gesprochen«, sagte Edith.
»Es ist nicht schwer, ein paar Briefe zu schreiben. Er hat es sich viel zu leicht gemacht. Er ist mein Vater. Er hätte zu uns kommen müssen.« Sie stand auf. »Und dann habe ich ihn heute früh da liegen sehen, so hilflos. Er hat geweint, als er mich sah. Aber ich kann ihm nicht vergeben.«
Und ich war genauso feige wie er, dachte Edith.
Mara hatte nicht gefragt, woher Edith überhaupt von ihrer Existenz gewusst hatte. Und sie würde sich lieber die Zunge abbeißen, als mit Mara darüber zu sprechen.
Sie sah den prall gefüllten Rucksack und die Reisetasche. Mara hatte gepackt. Obwohl sie nicht fertig war mit Ulrich. Nicht klarkam mit ihren Gefühlen. Mara litt weiter. Die Bilder von dem, was auf diesem Sofa geschehen war, ließen sie nicht los.
»Du willst zurück?«, fragte Edith.
Mara nickte.
»Wartet jemand auf dich?«
Sie schwieg.
Edith trat zu ihr. »Ich möchte nicht, dass du fährst.«
»Wieso nicht?«
»Ich … Ach, was weiß ich.« Edith merkte, wie schroff ihre Stimme klang. »Aber wenn niemand auf dich wartet, kannst du ja auch bleiben. Ich nehme dich mit zu mir.«
Mara schien zu zögern. Ihr Blick flackerte zu ihrem Gepäck.
Edith sah sich um. »Hier ist es zu kalt. Und man denkt nur an früher.« Sie griff nach Maras Reisetasche. »Du fährst erst mal mit. Dann sehen wir weiter.«
Sanfter fügte sie hinzu. »Es würde mich freuen.«