Die Scheibenwischer flogen hin und her, kämpften gegen die Regenflut, die auf sie niederging. Sophie sah nur wenige Meter weit. Sie hielt am Straßenrand an.
Seit Mara verschwunden war, fehlte sie ihr. Sie hoffte immer noch, sie wiederzusehen. Genau wie Thies hatte Sophie die ersten Begegnungen mit Mara für glückliche Zufälle gehalten. Spontane Zuneigung. Gegenseitige Sympathie. Vielleicht traf das sogar zu. Anfangs. Doch was war dann geschehen? War alles nur ein großes Täuschungsmanöver gewesen? Wer war Mara?
Sophie schaltete den Motor aus und ließ den Regen über die Scheibe strömen. Der Waldrand und die Straße verschwammen in einem Meer von Tropfen. Sämtliche Umrisse, die schwarzen Baumstämme, das glänzende Grau des Asphalts lösten sich auf. So fühlt es sich an, dachte Sophie: mein Leben. Ich kann nicht mehr klar sehen.
Sie schaltete die Scheibenwischer wieder ein, fuhr weiter, parkte schließlich auf dem Hof.
Als sie auf ihre Haustüre zuschritt, sah sie Thies durch das Küchenfenster. Sie blieb trotz des Regens einen Moment stehen. Er befand sich am Herd, bereitete offenbar etwas zu essen zu, und er war nicht allein. Jella und Lasse saßen am Tisch. Thies drehte sich ständig zu den Kindern um, sie debattierten irgendetwas. Sophie hörte sie durcheinanderrufen, ohne Genaues zu verstehen. Jetzt stand Jella auf, lief zu Thies und sah zu, wie er mit einer Pfanne hantierte. Er lachte.
Sophie trat ins Haus, hängte den Mantel auf, zog die Stiefel aus. Es roch verführerisch, nach süßem Teig, der gebacken wurde. Erinnerungen an die Kindheit stiegen in ihr auf. An die Adventssonntage, an denen ihre Mutter höchstpersönlich die Küche betreten hatte. Die Köchin hatte freigehabt, trotzdem zog der Duft von Vanillekipferln oder Bratäpfeln durch das Haus. Sophie war jedes Mal erstaunt über die Fähigkeiten ihrer Mutter gewesen.
»Hey, hey! Unentschieden!«, rief Thies in diesem Moment hinter der geschlossenen Küchentür und holte Sophie in die Gegenwart zurück. Der feine Geruch und der Klang seiner Stimme zogen sie magisch an, sie fröstelte in dem kühlen Flur, trotzdem blieb sie stehen. Lauschte.
»Ihr könnt ja die Zeit stoppen. Warte, Lasse, noch nicht! Okay, Teig ist in der Pfanne. Ich leg die Apfelspalten drauf. So, ab … jetzt!«
»Darf ich ihn gleich hochwerfen? Also, ich meine: wenden?« Das war Jella.
»Ja, diesmal bist du dran.«
Niemand hatte Sophies Ankunft bemerkt, weder den Wagen gehört noch das Geräusch der zufallenden Tür. Wieder war sie unsichtbar. Gast im Haus einer anderen, fremden Sophie. Einer, die das Leben lebte, das sie selbst sich erträumt hatte. Thies und sie. Und zwei Kinder.
So hätte es auch sein können.
Sie wollte nicht hineinplatzen und sehen, wie die Illusion vor ihren Augen zerstob, deshalb rief sie laut »Hallo, ich bin zurück!«, bevor sie eintrat.
»Wo ist denn Mama?«, fragte Jella sofort.
Sophie spürte, dass die Atmosphäre keineswegs so entspannt und heimelig war, wie sie gedacht hatte. Oder hatte sie sich im Moment ihres Eintretens gewandelt? Auch Thies fixierte sie mit einem angespannten Gesichtsausdruck.
»Sie kommt bestimmt gleich. Sie ist noch kurz bei deiner Oma zu Hause.«
»Was ist denn mit Opa?«, fragte Lasse.
»Er muss viel schlafen, aber es geht ihm schon besser«, beruhigte Sophie die Kinder. Von Maras Besuch bei Ulrich sagte sie nichts. Es würde Jella nur aufregen. Und Thies? Ihn sicher auch.
Weder er noch Bodo wussten von Maras Auftauchen im Pflegeheim. Von dem Verdacht, dass Mara Ulrichs Tochter war. Sophie konnte es nicht ansprechen. Nicht vor Jella und Lasse. Es war Ingas Sache, es ihrem Mann und ihren Kindern zu erzählen. Sie selbst würde mit Thies sprechen, wenn sie allein waren. Sie sehnte sich nach Ruhe. Auch sie musste ihre aufgewühlten Gedanken sortieren.
Ein verbrannter Geruch zog durch die Küche.
»Mist!«, Thies fuhr herum zum Herd, »der ist zu dunkel geworden. Jella, schnell, dreh ihn um.«
Jemand klopfte von außen an die Scheibe. Bodo stand vor dem Fenster. Sophie winkte ihn herein. Sie hoffte, dass er die Kinder nun mit nach Hause nahm.
»Na, ihr zwei habt es ja gut!« Er lächelte Jella und Lasse an, die vor ihren Eierkuchen saßen, aber seine Augen waren ernst.
»Ich war bei der Hütte«, sagte er. »Mara ist endgültig weg.«
Jellas Gabel fiel aus ihrer Hand auf den Tisch. Sie starrte ihren Vater an.
»Endgültig? Wie meinst du das?«, fragte Thies.
»Zurück in ihre Hippiekommune, nehme ich an. Ihre Sachen sind nicht mehr da.«
»Bodo.« Sophie nickte unauffällig mit dem Kopf in Jellas Richtung. Wie konnte er so unsensibel sein? »Können wir kurz reden? Nebenan?«
»Ja, gleich.« Bodo fixierte Thies mit einem Blick. »Hast du Kontakt zu ihr? Wenn du weißt, wo sie ist, was sie vorhat, dann sag es mir jetzt.«
Thies nahm den Pfannenwender und hob den letzten Pfannkuchen hoch. »Wer will noch?«
Die Kinder reagierten nicht. Thies legte einen Deckel auf die Pfanne und drehte den Herd aus. Seine Bewegungen wirkten merkwürdig eckig, wie ferngesteuert. Er lehnte sich an die Arbeitsplatte. Sein Blick schweifte aus dem Fenster.
Sophie kannte ihn in diesem Zustand. Er war in seinen Gedanken gefangen.
»Thies.« Bodo trat zu ihm. »Hör auf zu träumen. Sie ist gegangen! Was auch immer du für sie empfindest, es beruht nicht auf Gegenseitigkeit.«
»Das weiß ich, danke.« Thies’ Blick kam aus der Ferne zurück. Er wirkte plötzlich hellwach. Und aggressiv. »Dann sag ich auch mal was. Mara stellt Schmuck her und verkauft ihn. Armbänder. So welche, wie das von Aaron. Geflochten, mit blauen Lapislazuli-Steinen.«
Alle Augen im Raum richteten sich auf ihn.
»Was?«, brachte Sophie heraus.
»Du hast diese Armbänder gesehen?«, fragte Bodo.
Thies verschränkte die Arme. »Ich habe Mara neulich in Lüneburg getroffen. Sie ist zu einem Kunsthandwerksmarkt gegangen und hat da solchen Schmuck angeboten.«
»Aaron hat ein Armband von Mara getragen?« Bodos Gesicht rötete sich vor Erregung. »Das hättest du mir sagen …«
Bodo brach ab, als Sophie abrupt aufstand. Sie ertrug es nicht länger, in Thies’ Nähe zu sein. Sie hatte damit umgehen können, dass er sich in Mara verliebt hatte. Dass er sich noch mehr von ihr, seiner Frau, entfernt hatte. Aber ihr diese Sache zu verschweigen, das war zu viel. Das hätte er nicht tun dürfen.
»Glaub ja nicht, dass du sie weiter schützen kannst.« Bodo bedachte Thies mit einem kalten Blick. »Wir werden sie mitsamt ihren Armbändern finden.«
Er legte die Hand auf Jellas Schulter. »Los, ihr beide. Wir gehen rüber. Mama kommt bestimmt gleich.«
Jella stieß ihn mit einer jähen Bewegung weg und sprang auf. »Mara kann nichts dafür! Das Armband war gar nicht von Aaron. Es war von mir.«