Früher hatte sie die Fähre geliebt. Wenn sie einmal mit der Schule fertig war, würde sie Oma Ediths Job übernehmen, das war ihr Plan gewesen. Edith hatte sie sogar manchmal ans Steuer gelassen, aber nie, ohne in der Nähe zu bleiben. Man musste gut aufpassen. Die Strömung ist tückisch, Jella.
An diesem Nachmittag hatte der Himmel ein so müdes, mutloses Grau, als wollte er Jellas Seelenzustand abbilden. Vom Wasser aus sah sie die Stelle am Ufer. Die drei Büsche, die eng zusammenstanden und deren Blätter im Wind raschelten, als würden sie sich Botschaften zuflüstern, wie alte Hexen, die miteinander tuschelten. Das Gebüsch und der Strandginster. Unberechenbare, böse Geister.
Jeder Tag war nun gleich für Jella. Ab dem Morgen, wenn sie aufwachte, zerrannen die Stunden, und die Zeit raste auf den Moment zu, wo sie zum Fluss gehen musste.
Der Wind blies zu kalt für Anfang April. Jella fror. Am liebsten wäre sie nach der ersten Tour von Bord gegangen. Doch sie hatte ihrer Oma versprochen, ihr zu helfen. Oma hatte so viel Arbeit. Alles musste zum Beginn der Saison wieder in Schuss gebracht werden.
Jetzt tuckerten sie über die Elbe, Kurs auf den Anleger gegenüber. Ins Zonenrandgebiet, wie Oma es manchmal noch nannte. Nur ein Scherz, sagte sie dann, aber sie klang dabei nicht lustig. Oma klang sowieso nie lustig.
Früher hatte Opa Ulrich Touristen mit seinem Ausflugsboot auf dem Fluss herumgefahren, viele Jahre lang. Auf der östlichen Elbseite patrouillierten die Wachboote der DDR, am gegenüberliegenden Ufer sah man die Grenzanlagen mit Beobachtungstürmen. Ein Anblick, der Neugierige aus dem ganzen Land anlockte.
Oma hatte ihr auch erzählt, wie es gewesen war, als Opa die Fähre übernahm und zum ersten Mal nach drüben durfte, die Mauer war gefallen, die DDR bald Geschichte. »Opa brachte die Leute aus dem Osten hier rüber. Es waren Hunderte, und es wurde ein großes Fest der Wiedervereinigung gefeiert.« Als Oma davon erzählte, hatte sie Tränen in den Augen gehabt, und sie hatte stolz auf Opa geklungen. Aber wenn Jella sie heute darauf ansprach, wollte sie nicht mehr darüber reden.
»Kind, bitte sieh mal nach, ob die Schwimmwesten vollständig sind. Das müssten zwanzig Stück sein.«
Jella lief zu den Holzbänken, die für die Fahrgäste vorgesehen waren. In Harlingerwedel war niemand an Bord gekommen, aber drüben warteten Menschen. Die Sitzfläche einer ehemals weiß lackierten und jetzt verwitterten Bank ließ sich hochklappen, und in der Kiste darunter leuchteten ihr die orangen Rettungswesten entgegen. Jella holte Weste für Weste heraus und legte sie vor sich auf den Boden. Die mit Styropor gefüllten Kissen rochen muffig, und bei einigen Exemplaren war der Kunststoffbezug mit grau-schwarzen Punkten übersät.
»Und? Hast du gezählt?«, rief Edith vom Steuerstand aus.
»Es sind alle da. Aber bei manchen ist ganz viel Schimmel drauf!«
Sie hatten das Ufer fast schon erreicht, und Jella räumte die Westen wieder ein. Sie wusste, dass die Fahrgäste gleich den Platz brauchten. Die beschädigten Exemplare legte sie obenauf.
Zurück auf der heimischen Seite sah ihre Oma selbst nach dem Rechten. »Diese drei sortieren wir aus«, meinte sie, »da muss ich wohl Neue kaufen.« Sie zögerte. »Oder, warte mal. Im Keller müssten noch Ersatzwesten sein.«
Jella staunte. »Im Keller?«
»Da drin.« Edith zeigte auf eine Bodenklappe in der Mitte der Fähre. »Du bist klein und gelenkig, versuch mal, hineinzuklettern.«
Edith hob den Deckel so weit an, dass Jella hineinkriechen konnte. Der ›Keller‹ war ein lichtloser Raum, in dem sie sich nicht einmal aufrichten konnte. »Ich seh nichts!«, rief sie. Edith reichte ihr eine Taschenlampe nach unten.
»Entschuldigung?«, erklang draußen eine fremde Stimme. Jella hörte die Schritte ihrer Oma über ihrem Kopf auf dem Deck. Edith ging von Bord, sprach mit irgendjemandem.
Jella leuchtete umher, Westen waren hier nicht zu sehen, eigentlich gar nichts in leuchtenden Farben. An den Wänden reihten sich Behälter verschiedener Größe auf. In einem lagen Taue, ordentlich aufgeklart, im nächsten Werkzeug, in einem weiteren schmutzig gelbe Öljacken und schwere Wetterkleidung, steif von Wachs und trotzdem feucht. Es stank tranig aus dieser Kiste. Jella zwang sich dennoch, darin zu wühlen. Vielleicht waren ja Westen unter dem muffigen Zeug begraben. Jella hob eine speckige Regenhose heraus und leuchtete den Grund des Behälters ab. Etwas schimmerte dort hellgrau. Eine flache Metallbox. Jella nahm sie in die Hand. Papa hatte so eine ähnliche, in der die Spiralbohrer für seine alte Black & Decker aufbewahrt wurden. Doch diese Box hier war für Werkzeug viel zu leicht. Jella öffnete den Schnappverschluss. Zwei Briefumschläge fielen ihr entgegen. Jemand hatte sie aufgeschlitzt, und Jella erkannte, dass in einem davon neben mehreren Briefbögen auch Fotos steckten. Sie zog eines heraus. Eine Frau mit langen blonden Haaren und einem Perlenstirnband. Sie sah aus wie eine wunderschöne Prinzessin, fand Jella. Und sie hatte ein Kind auf dem Arm, ein kleines Mädchen mit ähnlich dichter Haarpracht, aber in dunkelbraun. Während die Frau in die Kamera lächelte, blickte das Kind ernst, ein Fäustchen ans Auge gedrückt, als habe es gerade eine Träne weggewischt. Jella kannte sie beide nicht. Sie schob das Foto zurück, betrachtete ein weiteres: wieder dieselben zwei Personen. Unter den Briefen lag ein Täschchen aus Samt, mit einem Band zusammengehalten. Jella zog die Schleife auf, und ein Armband fiel heraus. Es bestand aus winzigen aneinander gereihten Knoten, Jella kannte diese Knüpftechnik aus der Schule, das war Makramee. Es bildete eine Art Ornament, in dessen geschwungene Linien blaue und goldene Perlen eingewebt waren. In der Mitte prangte ein blauer Stein, etwas größer als Jellas Daumennagel. Das musste ein Edelstein sein. Im Strahl der Lampe sah sie helle Maserungen und Punkte in dem Blau, sie funkelten wie Sterne und die Milchstraße im Nachthimmel. Jella hatte noch nie ein so schönes Schmuckstück gesehen. Sie legte es um ihr Handgelenk. Viel zu weit. Aber dann entdeckte sie, dass sich der Verschluss verschieben ließ.
Über ihr erbebte das Deck unter Ediths Schritten. »Jella?«
Jella kroch zur Luke, streckte den Oberkörper hinaus und hielt ihrer Oma das Armband hin.
»Was hast du da?«
»Das war in einer der Kisten. Ich glaube, es ist wertvoll. Das ist nämlich ein Edelstein. Und die Perlen sind aus Gold.«
Edith nahm ihre Brille ab und betrachtete das Schmuckstück aus der Nähe. »Das ist kein Gold, sondern Messing. Aber der Stein ist sicher echt.«
»Es war in dieser komischen Schatulle hier.«
Edith griff nach der Blechschachtel und inspizierte den Inhalt. Sie setzte sich auf die Sitzbank der Passagiere und entfaltete die Briefe. Auch sie betrachtete einige der Fotografien, legte sie dann neben sich auf die Bank, runzelte die Stirn und begann zu lesen.
Jella wartete. Endlich passierte mal etwas Spannendes. Sie hatte einen Schatz gefunden!
Edith las beide Briefe, die jeweils aus mehreren Bögen bestanden. Ihr Gesichtsausdruck war so konzentriert und abweisend, dass Jella sich nicht traute, sie zu unterbrechen, obwohl sie vor lauter Neugier kaum stillhalten konnte. Ediths Atem wurde von Seite zu Seite schneller und heftiger, bis sie die Papiere unsanft in die Umschläge quetschte und diese gemeinsam mit dem Armband zurück in die Box stopfte.
»Was ist denn, Oma?«
Edith wandte sich um und sah Jella an, aber sie spürte, dass ihre Oma sie nicht wahrnahm. Im Kopf war sie woanders.
»Von wem sind die Briefe?«
»Das ist eine Sache« — Edith schloss für einen Moment die Augen —, »die geht uns nichts an.« Sie stand auf und schwankte, setzte sich wieder.
»Hallo? Können wir an Bord kommen?« Zwei Fahrradtouristen schoben ihre Räder auf die Rampe.
»Moment!«
Die Radler hielten erschrocken inne, so aggressiv hatte Ediths Stimme geklungen, und rollten zurück an Land.
Edith verschloss die Blechbox und gab sie Jella. »Schnell. Lass das Zeug verschwinden. Genau da, wo du es gefunden hast.«
Jella wusste, dass man gut daran tat, Oma zu gehorchen, vor allem, wenn sie wütend war.
Ihr Kopf war schon ein paar Schritte voraus, zurück in der Luke, bei der stinkenden Kiste, aber ihr Körper stand auf der Stelle wie angewurzelt. »Oma?«, hörte sie sich sagen, obwohl sie ahnte, dass das keine gute Idee war. »Das Armband …«
»Was ist damit?«, bellte Edith, die gerade vor der Nase der Fahrgäste die Schranke herunterklappte.
»Kann ich es vielleicht behalten?«
»Nein. Es gehört Opa. Pack es weg.«
Jella fand die Vorstellung unerträglich, diesen wunderschönen Sternenhimmelstein zurück in die Kiste mit dem stinkenden Ölzeug zu verbannen. Es erschien ihr vollkommen sinnlos. »Darf ich … Darf ich Opa selbst mal fragen?«
»Entschuldigung?« Einer der Radtouristen hatte sich wieder auf die Rampe vorgewagt. »Fahren Sie denn demnächst rüber?«
»Es ist Feierabend für heute.« Ediths Stimme bebte. »Feierabend!« Die Radfahrer wechselten einen hilflosen Blick, wichen zurück und zogen ihre Handys heraus.
Edith packte die Hündin am Halsband. »Auf, Joschi. Beweg dich. Runter hier.«
Jella kroch in die Luke und legte die Blechschachtel wieder an ihren Platz.
»Mach schnell, Jella!«
Als sie herausgeklettert war, ließ ihre Oma die Bodenabdeckung mit einem donnernden Geräusch zufallen. Schweigend vertäuten sie das Boot. Jella wagte keine Frage mehr zu stellen.
»Geh nach Hause, Kind«, sagte Edith, es klang versöhnlicher. »Danke, dass du mir geholfen hast.«
Jella gab ihr zum Abschied einen Kuss auf die Wange, wie sie es immer tat, und lief los, auf dem Pfad am Ufer. Nach etwa fünfzig Metern wandte sie sich um. Edith verschloss gerade die Tür zum Führerstand, der dicke Schlüsselbund in ihrer Hand klimperte. Die Hündin stand an der Rampe, bewegungslos und grau wie eine Steinskulptur. Edith ging von Bord, an den Touristen vorbei, die Straße entlang, Joschi trabte mit gesenktem Kopf hinterher.
Auch Jella lief weiter. Doch beim nächsten Gebüsch blieb sie wieder stehen, duckte sich dahinter. Die Touristen fuhren in Richtung des Ortes. Edith war nicht mehr zu sehen. Aus der Ferne wehten die Befehle herbei, mit der sie die Hündin zur Eile antrieb. Dann wurde es still.
Jella kroch hinter dem Busch hervor und kehrte um. Zum Boot.