Wenn die Dämmerung einsetzte, steigerte sich die Angst. Sie lauerte schon den ganzen Tag auf Jella, wie ein Marder in seiner Höhle, der nun hervorkroch, sich anschlich und die Zähne in sein Opfer schlug.
Es war so weit. Sie durfte nicht zu spät kommen.
Auf dem Weg am Ufer entlang versuchte sie, an etwas anderes zu denken, sich abzulenken. Egal, woran sie dachte, alles war frustrierend. In der Schule gab sie sich Mühe wie immer, die guten Noten waren ihr jedoch gleichgültig. Isabell und Annalena fragten schon gar nicht mehr, ob sie sich nachmittags treffen wollten. Jella gehörte noch zur Clique, aber die Gespräche über Frisuren, Pferde, Annalenas neues Meerschweinchen interessierten sie nicht. Sie trottete teilnahmslos hinter den Freundinnen her. Wenn sie gefragt wurde, was los sei, zuckte sie mit den Schultern.
Jella fühlte, wie die kühlen Perlen gegen ihr Handgelenk drückten. Es war lange her, dass etwas sie derart in seinen Bann gezogen hatte. Sie schob den Ärmel ihrer Jacke hoch und tauchte mit den Augen ein in die blaue Tiefe des Steins. Ihr Himmelsstein und ihr Meeresstein. Nun, im Dämmerlicht sah sie in ihm einen Ozean mit Fischschwärmen und Korallen.
Sie würde das Armband nur tragen, wenn sie allein war. In der Schule und zu Hause würde sie es zwar bei sich haben, aber in der Hosentasche verstecken.
Eine Silbermöwe schwebte über ihr, getragen von dem kalten Wind, die Flügel weit gespannt, sie korrigierte die Flugbahn nur durch winzige Bewegungen einzelner Federn. Plötzlich stieß der Vogel Schreie aus. Jella erschrak. Sie war schon ganz nah bei Aaron. Bei den Büschen, hinter denen er kauerte wie der Marder.
Aber heute war es anders.
Sie konnte ihn sehen, er versteckte sich nicht wie sonst. Er hockte auf den Fersen und hatte die Arme um die Knie geschlungen. Jetzt hörte sie, dass er Geräusche machte. Merkwürdige Geräusche.
Jella blieb stehen. War das ein Schluchzen? Weinte er?
Er hatte sie noch nicht entdeckt. Heute lauerte er nicht in stiller Vorfreude darauf, ihr wehzutun. Er war mit sich selbst beschäftigt.
Sie konnte weglaufen. Wegschleichen.
Aber wenn er es merkte? Und sie morgen um so härter bestrafte, weil sie nicht gekommen war?
Sie vermochte den Blick nicht von ihm abzuwenden. Was war los mit ihm? Die einzigen Gefühle, die er ihr zeigte, waren Wut und Hass, Häme und Triumph. Jella hatte ihn nie glücklich erlebt. Nie traurig oder verzweifelt.
Sie hatte nie darüber nachgedacht. Auch nicht darüber, wie merkwürdig das war. Er hatte doch allen Grund, zu weinen. Er war immer allein. Niemand mochte ihn. Die Kinder machten sich aus dem Staub, wenn er kam. Ihre Furcht schien ihn noch mehr in Rage zu bringen.
Jella sah ihn zum ersten Mal verletzlich. Sie hörte ihn schniefen. Er war nicht wachsam, achtete nicht auf seine Deckung. Er hatte sie vergessen!
Vielleicht war der Albtraum nun endlich zu Ende. Die Angst jeden Tag. Vielleicht musste sie nicht mehr zum Fluss kommen.
Die Möwe schoss schreiend über Aaron hinweg. Er fuhr zusammen, riss den Kopf in den Nacken. Erwachte aus seinen Gefühlen. Und dann traf sein Blick sie.
Jella wagte es nicht, sich zu bewegen. Jetzt wurde alles noch schlimmer. Sie hatte ihn weinen gesehen, und dafür würde sie bezahlen.
Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Eine hässliche Grimasse. Er stand auf, hob die Hand und winkte sie herbei, lässig, mit zwei Fingern. Jella machte ein paar zögerliche Schritte. Und dann schoss der Gedanke in ihren Kopf wie ein Stromschlag. Das Armband! Sie hatte es noch um!
Ohne Aaron aus den Augen zu lassen, nahm sie in Zeitlupe die Arme hinter den Rücken, schob den linken Arm zum rechten und nestelte an dem Verschluss. Das Armband saß fest. Dabei ging sie weiter auf Aaron zu. Sie durfte ihn nicht reizen. Endlich gelang es ihr, das Band zu lockern. Sie streifte es ab und bewegte den Arm millimeterweise vor und dann nach oben, um die Finger, die das Schmuckstück umschlossen, in ihre Jackentasche gleiten zu lassen. Sie steckte auch die andere Hand in die Tasche, wie um sie vor dem kühlen Wind zu wärmen.
Aaron beobachtete sie mit unbewegter Miene. Er sah aus wie immer, da war keine Spur von Tränen mehr zu sehen, seine Augen waren hellgrün und ohne jeden Glanz, wie matte Quarzsteine.
Als sie ihn erreicht hatte, schlug er zu. Die Faust in ihren Magen. Jella krümmte sich, fiel nach vorn auf die Knie. Der Schmerz explodierte in den Kniescheiben, die von den Prellungen schon grün und blau waren. Sie presste ihre Hand auf den Mund. Nicht schreien! Nicht weinen, nicht mal wimmern! Das hatte sie schnell gelernt: Jeder Laut von ihr steigerte nur seine Raserei. Aaron stand über sie gebeugt. Der nächste Hieb würde ihren Rücken treffen. Jella hielt die Luft an.
Der Schlag kam nicht.
»Was hast du gerade versteckt?«, fragte er, keine Spur Häme in der Stimme, nur aufrichtige Neugier.
Jella versuchte es mit einem unschuldigen Augenaufschlag, der bei ihren Eltern meist gut funktionierte. »Gar nichts?«
Er schnaubte. »Ich hab’s doch gesehen. In deiner Tasche.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.« Sie war selbst erstaunt, wie ruhig und selbstbewusst sie klang.
»Na gut.« Er steckte die Hände in seine Hosentaschen. Er wirkte entspannter als sonst, wippte locker mit einem Fuß. »Dachte ja nur.«
Kein neuer Faustschlag?
Aaron wandte sich um und blickte über die Elbe.
Jella konnte dort nichts Besonderes entdecken. Ihr Blick schwenkte nach rechts zur Fähre, die weiß hervorstach im Graublau des Flusses und des Himmels. Und da sah sie es: Da war Licht! Die Lampe im Führerhaus brannte. War das Oma? Aber die musste doch längst zu Hause sein.
Und wenn sie zurückgekommen war? Und Jellas Diebstahl entdeckt hatte?
Aarons Stoß erwischte Jella kalt, sie flog und prallte dann mit der Schulter auf den harten Boden. Sie schrie vor Schmerz auf. Aaron beugte sich über sie, bohrte seine Knie in ihre Rippen. Jella wagte nicht, sich zu wehren. Er war stärker, sie hatte keine Chance. Er riss ihre Arme nach hinten, griff in ihre Taschen, wühlte darin, zog das Armband hervor.
Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig, während er es betrachtete. »Woher hast du das?«
»Geschenkt bekommen.«
»Von wem denn?«
Jella zögerte. »Von meinen Eltern.«
Aaron lachte auf. »Für deine tollen Noten, ja?«
Jella schwieg. Bitte, gib es mir wieder.
»Warum versteckst du es dann?«
Sie hob die Schultern.
»Los, sag schon. Warum versteckst du es?«
Jella lag einfach da. Reize ihn nicht. Sag das Richtige. Doch die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf durcheinander. Sie hatte geglaubt, ihn gut zu kennen. Die Situation war neu. Aaron war anders. Nicht berechenbar wie sonst.
»Bitte gib es mir zurück«, sagte sie, so gefasst sie konnte, und streckte die Hand aus.
Aaron legte seine Faust mit dem Armband auf ihre Handfläche. Ganz vorsichtig. Sanft. Noch hielt er es fest. »Irgendwas ist damit«, murmelte er, wie zu sich selbst.
Jella konzentrierte sich auf ihren Atem. Ruhig. Ruhig.
Dann zog er die Faust zurück. »Ich behalte es.«
»Nein!«
Er lächelte. Was willst du dagegen machen?, hieß das. Er kam auf die Beine, drehte sich um und schlenderte zum Ufer.
Jella wusste, dass dies ihre Chance war, ihm zu entkommen. Wenigstens für heute. Er war mit der Beute beschäftigt, mit seinem Triumph. Wenn sie jetzt wegrannte, würde er sie gehen lassen. Aber sie wollte ihr Armband wiederhaben.
Sie erreichte ihn mit wenigen Schritten, packte seine Hand, versuchte, ihm das Schmuckstück zu entwinden. »Gib es her!«
Er war überrumpelt von ihrem Angriff, geriet aus dem Gleichgewicht und stolperte zur Seite. Doch seine Finger waren wie Schraubzwingen, sie ließen es nicht los.
»Hau ab!« Mit der freien Hand stieß er sie weg. Sie taumelte, fing sich wieder. Er hielt den Arm mit dem Armband hoch über sich und begann zu lachen. »Na, was ist? Hol es dir! Hol es dir doch!«
Er wich vor ihr zurück, wedelte mit dem Arm in der Luft. »Oh, jetzt hab ich aber Angst! Komm mir nicht zu nahe!«
Jella folgte ihm, ohne den Abstand zu verringern. Aaron war nur noch einen halben Meter vom Fluss entfernt. Machte zwei weitere Schritte rückwärts. Patschte ins Wasser, eine Welle schwappte über den Rand seines Turnschuhs. »Verdammter Mist!« Sofort war ihm das Missgeschick peinlich, es heizte seine Wut an. »Na, was ist? Blöde Kuh, komm her!«
Jella näherte sich ihm, während Möwen kreischend über ihnen kreisten. Sie sah nicht nach oben, sie wusste auch nicht, was sie gerade tat. Ihre Füße machten Schritt um Schritt, ihr Arm streckte sich Aaron entgegen. »Gib es mir wieder!«
Aaron trat mit dem zweiten Fuß ins Wasser. »Huh, das ist eisig!« Er lachte auf. Ging weiter rückwärts, der Fluss umströmte seine kräftigen Beine. Er streifte das Armband über das Handgelenk, zeigte es ihr. »Hol’s dir doch!«
Sie durften nicht in der Elbe baden. Auch die Erwachsenen schwammen hier nicht. Es gab tiefe Stellen, wie aus dem Nichts. Eine plötzliche Strömung über dem Grund. Jella lief ins Wasser, widerlich kalt füllten sich ihre Stiefeletten, saugte der Stoff ihrer Jeans sich voll. Aaron spielte nicht mehr den Ängstlichen und Flüchtenden. In seinem Gesicht zeigte sich Erstaunen. Ganz sicher hatte er nicht damit gerechnet, dass sie ihm in den Fluss folgte. Ganz sicher wusste er nicht, was sie vorhatte. Jella hätte es sich selbst nicht beantworten können. Sie wusste nur, dass sie das Armband nicht aufgeben würde. Auch sein Angriff kam überraschend, und sie schrie auf. Er griff in ihren Nacken und drückte sie hinunter, ins Wasser. Jella schlug nach ihm, er wich geschickt aus. Sie zielte auf seinen Hals, auf sein Gesicht. Schlug und kratzte. Erwischte ihn. Er ließ sie abrupt los, und sie sah Blut auf seiner Wange. Es ging nicht mehr um das Armband. Es ging darum, Aaron wehzutun. Doch er traf sie auch. Seine Hand prallte hart auf ihre Brust. Alles um sie herum wurde schlagartig schwarz, und eine Welle der Übelkeit überflutete sie. Jella schnappte nach Luft. Aaron war nur noch ein Schatten vor ihren Augen. Sie stolperte Richtung Ufer, hörte ihn hinter sich lachen. Als sie wieder atmen konnte, lag sie auf dem harten Sand. Durch den nassen Stoff ihrer Jeans spürte sie die kleinen Steine, mit denen sie früher gespielt hatten. Lasse und sie. Und Aaron. Dekoration für ihre Sandburgen.
Gehetzt ging ihr Blick zurück zur Elbe. War er ihr gefolgt? Wie nah war er?
Er war nicht da.
Sie stand auf. In der Dämmerung verschwammen Fluss und Himmel vor ihren Augen.
Aaron war nicht mehr da.
Renn. So schnell du kannst.
Die Angst ließ sie erstarren. Vielleicht lauerte er hinter den Büschen? Wenn sie weglief, und er sie erwischte … In ihrem Kopf hämmerte ein einziger Gedanke: Wo ist er? Wo ist er?
»Aaron!« Ihre Stimme klang hohl. Als Antwort schrie eine Möwe über ihr. Er zeigte sich nicht.
Jella drehte sich um und rannte den Uferweg entlang, rannte wie nie zuvor in ihrem Leben. Bog ab auf den Pfad zum Hof. Sie wandte sich nicht um, aber sie spürte schon, wie er näher kam, nach ihr griff, sie zu Boden zerrte. Diesmal würde er das Messer benutzen.
Sie versteckte sich in der Scheune, bis ihr Atem sich beruhigt hatte. Ging zur Haustür, zog Schuhe und Strümpfe aus. Die Stiefeletten waren zum Glück dunkelblau, die Nässe des Leders fiel nicht auf. Sie verbarg sie trotzdem hinter Lasses Sneakers. Die Küchentür war geschlossen, die anderen saßen beim Essen, der Geruch von gebratenen Zwiebeln zog durchs Haus. Jellas Magen rebellierte. Sie schlich durch den Flur hoch in ihr Zimmer. Sie musste die nassen Kleider loswerden. Sie suchte eine Hose und ein frisches Sweatshirt heraus. Dann ging sie nach unten.
»Wo kommst du denn her?«, fragte Inga. »Wir haben auf dich gewartet.«
»Entschuldigung.« Jella setzte sich auf ihren Platz neben Lasse. »Ich war bei Isabell und hab nicht auf die Uhr geschaut. Und ich habe da schon was gegessen.«