Ein paar Minuten allein. Ein kurzes Stück Weg, um die Neuigkeit zu verarbeiten. Inga lief die Strecke von ihrer Mutter nach Hause. Der Regen hatte nachgelassen, und sie spürte die winzigen Tropfen wie einen nassen Schleier auf dem Gesicht.
Sie hatte eine Halbschwester! Inga hatte sich immer Geschwister gewünscht. Sie hatte Bodo um seine zwei jüngeren Brüder und die ältere Schwester beneidet.
Zwischen Maras und ihrem eigenen Leben schien es kaum Parallelen zu geben. Und sie wusste fast nichts über Mara. Aber sie würden sich kennenlernen.
Ihr Handy klingelte. Es war Bodo. Sie hatte ein paarmal versucht, ihn zu erreichen, doch es war nur die Mailbox angesprungen. Sie musste ihm sagen, wer Mara war.
Inga musste lächeln. Sie wusste nicht, woher ihre Zuversicht kam, aber sie spürte es: Alles würde sich klären. Sie nahm das Gespräch an. »Bodo, endlich …«
»Wo bist du?«
»Auf dem Weg nach Hause. Und du?«
»Hör zu«, unterbrach er erneut, »Jella hat alles erzählt.«
»Wie meinst du das, alles?«
»Was mit Aaron passiert ist.«
»Was hat sie gesagt?« Inga blieb stehen, lehnte sich an den nächsten Baumstamm.
Er redete schnell, die Informationen drangen auf sie ein. Was sie bedeuteten, vermochte sie noch gar nicht zu erfassen.
»Inga, hörst zu mir zu?«
»Ja, natürlich.«
»Wir reden später darüber. Kannst du Jella vom Chor abholen?«
»Was? Wie konntest du sie aus dem Haus lassen?«
Sie hörte, wie er einatmete, es klang genervt. »Sie wollte unbedingt hin. Und dann habe ich gedacht: Besser, sie ist da, als allein zu Hause.«
Inga lief nun weiter, das Handy am Ohr. »Und wo bist du?«
»Im Büro. Ich komme hier so bald nicht weg.«
»Gut, ich hole sie.«
Inga beendete das Gespräch und beschleunigte ihre Schritte. Sie erreichte den Hof, sah niemanden und stieg ins Auto. Wenige Minuten später parkte sie vor dem Schulgebäude. Die Chorprobe war offenbar noch nicht zu Ende, die Tür war geschlossen, der Hof leer.
Inga lehnte sich zurück und schloss die Augen. Von ihrer Zuversicht war nur noch eine vage Hoffnung zurückgeblieben. Eines war klar: Sie musste sich jetzt um ihre Tochter kümmern. Mara musste erst einmal warten.
Als jemand an ihr Fenster klopfte, schreckte Inga aus ihren Gedanken hoch. Es war Jellas Musiklehrerin, die auch den Chor leitete. Inga stieg aus. Grüppchen von Schülerinnen und Schülern liefen nun über den Hof. Jella war nicht dabei. Frau Bergmanns sonst so strahlendes Gesicht, wenn sie die Mutter ihrer begabtesten Schülerin erblickte, erschien Inga heute ernst. Sie ahnte, dass sie nun unangenehme Dinge zu hören bekommen würde, und wappnete sich gegen die neuerdings übliche Tirade: Jella war wie ausgewechselt. Unaufmerksam, abwesend. Wenn sie sich bedrängt fühlte, wurde sie aggressiv. Wie die Klassenlehrerin Inga berichtet hatte, hatte Jella einem anderen Mädchen einen Rucksack aus der Hand gerissen und auf den Boden geschleudert.
Was war nun wieder vorgefallen?
»Wir studieren ja gerade ›Hallelujah‹ von Leonard Cohen ein. Ich habe es neu arrangiert, für Chor und einen Solopart. Ich will es den Kindern erst nächste Woche sagen, aber Sie sollen schon Bescheid wissen: Jella soll das Solo singen. Sie ist wirklich außergewöhnlich begabt. Haben Sie mal überlegt, sie in professionellen Gesangsunterricht zu geben?«
Inga sah die Lehrerin erstaunt an. »Nein, bisher nicht. Sie nimmt ja schon die Geigenstunden und …« Sie zögerte. »Im Moment hat Jella ein paar Schwierigkeiten.«
»Oh ja, die Pubertät rückt näher.« Frau Bergmann lächelte. »Denken Sie in Ruhe darüber nach. Sprechen Sie mit Ihrem Mann. Und mit Jella. Das, was sie an Förderung bräuchte, kann ich ihr im Chor und im Musikunterricht nicht geben.« Sie blickte zur Schultür. »Da kommt sie ja.«
Inga sah zuerst nur Isabell und ein zweites Mädchen, deren Name ihr nicht einfiel. In die Mitte hatten sie Emma genommen, ebenfalls seit der ersten Klasse eine Freundin von Jella. Jella folgte ihnen, allein, mit diesem schlurfenden Gang, den sie sich immer mehr angewöhnte. Sie hielt den Blick gesenkt und hatte das Auto ihrer Mutter nicht entdeckt.
»Die Mädchen konnten sich kaum konzentrieren heute. Emmas Oma ist verstorben. Es ist sehr lieb, wie sich alle um sie kümmern.«
»Jella!«, rief Inga.
Während ihre Tochter auf sie zukam, verabschiedete sie sich von der Chorleiterin.
Jella stieg auf der Beifahrerseite ein, und Inga setzte sich neben sie. »Hey, alles okay?«
Nur ein angedeutetes Kopfnicken.
»Wie war die Probe?«
»Gut.«
»Das freut mich.« Inga legte ihre Hand auf die ihrer Tochter. »Papa hat mir vorhin erzählt, dass du …«
Jella kniff die Lippen zusammen und wandte den Kopf ab. Inga brach ab. Sie musste das vorsichtiger angehen.
»Lass uns erst mal nach Hause fahren«, sagte sie. »Du hast bestimmt ziemlichen Hunger, oder?«
Jella blieb abgewandt. Inga startete den Wagen und fuhr los. Auf dem Bürgersteig waren Chorkinder unterwegs, manche riefen etwas und winkten. Jella schien sie gar nicht wahrzunehmen.
Der Regen hatte aufgehört, und der fast stürmische Wind trieb die Wolken nach Norden. Flecken von blauem Himmel leuchteten auf. Die frisch austreibenden Kopfweiden, die die Allee säumten, spiegelten sich auf der nassen Landstraße.
»Mama, wenn jemand gestorben ist, was passiert dann mit diesem Menschen?«
Inga warf ihr einen kurzen Blick zu. »Na ja, weißt du doch, der Leichnam wird auf dem Friedhof in ein Grab gelegt.«
Jella starrte nach vorn durch die Windschutzscheibe. »Emmas Oma ist gestorben.«
»Ja, Frau Bergmann hat es mir eben erzählt. Emma ist bestimmt sehr traurig.«
»Die Toten bleiben auf der Welt. Sie haben keinen Körper mehr. Aber trotzdem sind sie ganz nah bei uns. Das hat Emmas Mutter gesagt.«
Der Wagen hinter Inga fuhr dicht auf, hupte und startete ein Überholmanöver. Da sich auf der Gegenfahrbahn ein PKW näherte, scherte er wieder ein. Inga blickte auf den Tacho, Hundert war erlaubt, doch sie war immer langsamer geworden, ohne es zu bemerken. Sie trat aufs Gaspedal.
»Glaubst du, das stimmt, Mama?«
Inga wollte so schnell wie möglich ankommen, es gefiel ihr gar nicht, ausgerechnet jetzt mit Jella ein Gespräch über den Tod zu führen, während sie sich eigentlich auf den Verkehr konzentrieren musste.
»Es tut sehr weh, wenn ein Mensch, den man liebt, plötzlich nicht mehr da ist. Ich glaube, für Emma und ihre Mutter ist es ein Trost, sich vorzustellen, dass die Oma in ihrer Nähe ist.«
Inga beschleunigte wieder auf Hundert. Am Straßenrand lag ein totes Tier, nur noch ein Haufen aus blutigem Fell und Knochen. Es war nicht zu erkennen, was es einmal gewesen war.
»Ich glaube, Aaron ist auch da.«
Inga blickte ihre Tochter an. Jellas Gesicht war verkrampft, ihr Kinn zitterte.
Inga wollte anhalten, doch hier gab keine Gelegenheit. Sie fuhr noch schneller, bis eine Parkbucht auftauchte.
Endlich stoppte sie.
»Jella, hör mir zu …« Keine Reaktion. »Du musst dich vor Aaron nicht mehr fürchten. Glaub mir bitte. Er ist nicht mehr da. Und er kommt auch nicht zurück.« Sie wollte Jella in den Arm nehmen, doch die blieb mit steifem Oberkörper sitzen.
Jella war nicht mit auf Aarons Beerdigung gewesen. Sie hatte eine starke Migräne gehabt und zwei Tage lang in ihrem abgedunkelten Zimmer fast durchgehend geschlafen. Edith war an dem Vormittag bei ihr geblieben, und Inga war ziemlich sicher gewesen, dass ihre Mutter froh war, nicht zum Friedhof mitgehen zu müssen.
Inga traf eine Entscheidung. Sie wartete ab, bis die Straße einen Moment frei war, und wendete.
»Mama, was machst du?«
»Ich will dir was zeigen.«
Sie fuhr dieselbe Strecke zurück, an der Schule vorbei, bis zu dem schmiedeeisernen Tor in der weiß gekalkten Mauer.
»Komm mit.«
Jella stieg nur widerstrebend aus, doch Inga war sicher, das Richtige zu tun. Sie legte den Arm um Jellas Schultern und führte sie durch die Pforte, über den menschenleeren Friedhof. Unzählige Vögel zwitscherten in den Baumkronen. Sie erreichten die schlichte Granitplatte mit der roten Maserung. Darauf der Name, hell eingraviert: Aaron Buchholz. Auf dem Grab wuchsen keine Blumen. Inga wusste nicht, ob Thies oder Sophie hierherkamen. Aber jemand hatte das kleine Rechteck mit Thymian und Efeu bepflanzt.
»Da ist Aaron«, sagte Inga. »Da unter der Erde.«
Jella starrte den Grabstein an. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell. »Ich hab mich nicht umgedreht. Ich wusste, jeden Moment greift er nach mir.« Sie sah Inga mit einem erstaunten Ausdruck an. »Aber er war nicht mehr da. Vorher hat er im Wasser gestanden, und dann«, sie stockte, »war er … hinter den Büschen. Ich hab gedacht, gleich kommt er raus. Ich bin gerannt. Bis zum Schuppen.«
»Jella.«
»Ich hab ihn nicht gesehen. Er war nicht im Fluss.«
Inga berührte Jellas Schulter. »Du bist nicht schuld daran, was mit Aaron passiert ist. Verstehst du? Du kannst nichts dafür.«
»Vielleicht, wenn ich um Hilfe gerufen hätte. Vielleicht wäre er nicht ertrunken.«
Inga schüttelte den Kopf. »Wer hätte dich denn hören sollen?«
Jella wandte sich langsam zu ihr um, und Inga sah die Qual in ihren Augen. »Auf der Fähre war jemand. Da war ein Licht.«