Sie hatte sich im Wohnzimmer verschanzt, konnte an nichts anderes denken als an Thies’ Vertrauensbruch. Denn so fühlte es sich für sie an, dass er ihr Maras Armbänder verschwiegen hatte. Irgendwann hörte sie, wie die Haustür zufiel. Thies ging irgendwohin. Sollte er doch, es war ihr gleichgültig.
Sophie trat zur Kommode und tastete nach dem Umschlag. Einen Moment lang schloss sie die Augen, beruhigte ihren Atem, dann nahm sie das Armband heraus. Die ersten Sekunden starrte sie es nur an, ohne es wirklich zu sehen. Bis das Leuchten des Schmucksteins sie berührte. Wie schön der Lapislazuli war. So ein intensives Blau. Und wie viele verschiedene Farben sich in der Tiefe des Steins verbargen. Goldene Tupfen wie von Sonnenlicht. Bräunliche Sprenkel, als sei Erde in ihm eingeschlossen. Transparente Flecken, hellgrau wie das Wasser der Elbe. Weiße Linien, die sich kreuzten wie Kondensstreifen im Himmel.
Aarons Tod aufzuklären, das war das gemeinsame Ziel von Thies und ihr gewesen. Jetzt hatten sie durch Jella eine Vorstellung von seinen letzten Minuten bekommen. Wie hatte es mit ihm so weit kommen können? Was hatte ihn angetrieben, Jella wehtun zu wollen? Was hatte ihn überhaupt angetrieben?
Durch Jella waren nur noch mehr Rätsel dazugekommen. Warum war Aaron an dem Abend so verändert gewesen? Warum hatte er geweint? Sophie hatte ihn nie verzweifelt gesehen.
Eine plötzliche Sehnsucht nach ihrem Sohn ergriff sie, als könne sie ihn jetzt noch in den Arm nehmen und trösten. Gleichzeitig wusste sie, dass er das nicht zugelassen hätte. Er hatte ihr seine Gefühle nie gezeigt. Was auch immer ihn so traurig gemacht hatte, er wollte es mit sich allein ausmachen. Jella war die Einzige, die einen Blick auf seine Verletzlichkeit erhascht hatte.
Es fühlte sich an, als sei das einzige noch existierende Band zwischen Thies und ihr gekappt worden. Beerdigt mit der Hoffnung, dass sie Aarons Tod begreifen und damit abschließen konnten.
Sophie legte das Armband auf den Tisch, holte ihre Jacke und verließ das Haus. Sie suchte die Stelle am Ufer, die Jella beschrieben hatte. Stellte sich in den Schutz der Büsche und sah aufs Wasser, das vom Wind aufgeraut wurde. Die Strömung nahm ihre Gedanken mit sich fort.
Sophie konzentrierte sich auf die Farben der Wellen, grau und blau, mit einem warmen Goldschimmer, da, wo noch Sonne durch die Wolken drang. Sie wollte an nichts denken, nur schauen. Langsam wurde ihr Kopf klarer. Vielleicht ging es Thies auch so, wenn er auf seinem Stein saß.
Thies hatte sich an Mara festgehalten. Sie so sehr gebraucht, dass er die Entdeckung der Armbänder verschweigen musste.
Sophies Wut löste sich auf in den Wasserstrudeln vor ihr.
Mara hatte ihre Gründe gehabt, in Harlingerwedel aufzutauchen, und ihre Motive hatten nichts mit Sophie oder Thies zu tun gehabt. Doch durch Mara hatten sie beide gespürt, was in ihrem Leben fehlte. Mara würde die Leere nicht füllen. Das mussten sie selbst tun.
Jemand näherte sich, oben auf dem Deich. Es war Thies. Er lief gebeugt gegen den Wind, blickte geradeaus, nicht zum Fluss, entdeckte sie nicht hinter den Büschen.
Wie schnell er war. Sophie verließ ihren Posten, erklomm den Deichweg und folgte ihm. Sie passte ihr Tempo an, hielt den Abstand. Nicht, um ihn zu verfolgen. Es interessierte sie nicht, wohin er wollte. Sie spürte nur, dass sie ihn jetzt nicht gehen lassen durfte. Weil sie ihn vielleicht nie wieder einholen würde.
Sie fror. Der Wind kam ihr nun kälter vor und der Deich unendlich.
Sie erschrak, als Thies plötzlich stehen blieb. Er wandte sich um und sah ihr entgegen, bis sie ihn erreicht hatte.
»Kannst du mir verzeihen?«, fragte er.
Eine Böe wehte Haarsträhnen in ihre Augen, sie strich sie weg. »Ja, das kann ich«, sagte sie.
»Ich möchte etwas machen. Mit dem Zimmer.«
»Und was?«
Er wich ihrem Blick aus. »Ich weiß nicht. Aber irgendwas müssen wir tun.«
Sie nickte, auch wenn seine Worte Angst in ihr auslösten.