Die erste Tasse Kaffee auf ihrem morgendlichen Beobachtungsposten am Küchenfenster: Bodo kam aus dem Haus und setzte sich ins Auto. Er schien in Gedanken versunken, blickte nicht in Sophies Richtung. Die Kinder folgten, Lasse beim Gehen auf dem Handy herumtippend, Jella gebeugt, ohne jede Körperspannung.
Als sie Inga sah, erschrak Sophie. Selbst auf die Entfernung konnte sie die geschwollenen Augen der Freundin sehen. Die blassen, aufgesprungenen Lippen. Ihre frische Sonnenbräune war verschwunden, als habe sich eine Schicht aus grauem Staub darübergelegt. Sie reichte Jella die Papiertüte mit dem Proviant, die Autotür fiel zu, und Bodo startete den Wagen.
Sophie lief zur Haustür. Inga war schon auf dem Weg ins Haus. »Inga! Warte!«
Inga drehte sich nicht um.
Sophie war sicher, dass sie sie gehört hatte. Sie wartete am Küchentisch, ob Inga zur Arbeit losfuhr, doch sie kam nicht mehr heraus.
Nach einigen Minuten ging Sophie hinüber und klopfte. Von drinnen war kein Geräusch zu hören. Sie klopfte lauter. Keine Reaktion.
Sophie holte ihre Tasche, es wurde höchste Zeit, wenn sie ihren Zug erreichen wollte. Thies musste später nach Inga schauen. Jetzt schlief er noch.
Während sie ihr Rad aufschloss, blickte sie immer wieder zu Ingas Küchenfenster. Der Vorhang war zugezogen und bewegte sich nicht.
Auf dem Waldweg zum Bahnhof kam Sophie an Maras Hütte vorbei, die nun leer stand und weiter verfiel. Wenn Mara noch da wäre … Ihr hätte Inga sicher anvertraut, warum es ihr so schlecht ging. Aufs Sophies Hilfe legte sie offenbar keinen Wert.
Den ganzen Weg versuchte Sophie, an die Arbeit zu denken. Heute Mittag bekam sie eine neue Wasserprobe von der Messstelle in Schnackenburg. Der Fahrer befand sich schon auf seiner Tour. Bis dahin musste sie ihre Diagramme auf Vordermann bringen. Im Büro fuhr sie den Computer hoch und vertiefte sich in die Balken und Zahlen.
In der Mittagspause rief sie Thies an und bat ihn, nach Inga zu sehen. Doch Inga war nicht da. Niemand öffnete Thies die Tür.
Die Unruhe ließ Sophie nicht mehr los, sie nahm den frühen Zug nach Hause. Thies war in der Küche, er hatte einen aufwendigen Salat für sie zubereitet, mit grünem Spargel, den sie so liebte. Ein Friedensangebot? Sie aßen schweigend.
»Hör auf, ständig über den Hof zu starren«, sagte er irgendwann.
»Du hättest Inga heute Morgen sehen sollen. Irgendwas ist passiert.«
»Hast du noch mal versucht, sie anzurufen?«
»Immer nur die Mailbox. Sind die Kinder schon da?«
»Ja, die sind vorhin gekommen.«
»Und Bodo?«
Thies brauchte ihr die Antwort nicht zu geben, denn in diesem Moment fuhr Bodos Auto auf den Hof.
»Was da auch los ist, sie ist ja nicht allein«, meinte Thies.
Sie hatten gerade den Tisch abgeräumt, und er ließ Spülwasser ins Becken laufen, als jemand über den Hof gelaufen kam. Bodo. Sie gingen ihm entgegen.
»Ich glaube, Inga hatte einen Nervenzusammenbruch. Aber sie will nicht, dass ich sie zum Arzt bringe. Und jetzt will sie mit uns reden. Mit uns allen zusammen.«
Inga sah nicht auf, als sie hereinkamen. Ihre Finger krampften sich um ein Kissen in ihrem Schoß.
»Inga.« Sophie ging vor dem Sessel in die Hocke. Etwas hielt sie davon ab, die Freundin zu berühren, sie schien unter Hochspannung zu stehen.
»Meine Mutter …«, begann Inga, ohne jemanden anzusehen. »Ich weiß nicht, wie ich es euch sagen soll.«
Sophie nahm ihre Hand. »Sag es einfach.«
»Sie war auf der Fähre, als es passiert ist. Als Aaron ertrunken ist. Sie sagt, sie hat die Situation falsch eingeschätzt. Sie hat gedacht, er spielt Theater.«
Sophie brachte kein Wort heraus. Sie suchte Thies’ Blick, doch er sah zu Boden.
»Glaubst du deiner Mutter?«, fragte sie.
Inga nickte.
Edith war verantwortlich. Edith war schuld.
Sophie spürte keine Wut. Auch keine Erleichterung darüber, endlich alles zu wissen. Nur den immer gleichen Schmerz.