Sein Findling verschwand unter den Flechten und dem Moos, es gab kaum noch eine freie Stelle. Er hatte sich angewöhnt, mit den Fingerspitzen über die pelzigen Schichten zu streichen. Krümelig trocken die Flechten, weich das Moos, vollgesogen mit Feuchtigkeit.
Auf dem Zufahrtsweg zur Fähre war einiges los. Touristen und Anwohner kamen an, fuhren ab. Pausenlos kreuzte das Boot zwischen den Ufern. Im Führerhaus stand Edith.
Thies wusste das, obwohl er nicht hinsah. Der milde Wind trug Gesprächsfetzen zu ihm hinüber. Ediths Stimme war manchmal dabei.
Sein Kopf fühlte sich ausnahmsweise klar an. Aufgeräumt. Sein Verstand hatte das, was sie über Ediths Rolle bei Aarons Tod erfahren hatten, verarbeitet und akzeptiert. Als eine Verkettung unvorhersehbarer, unglücklicher Ereignisse.
Seine Gefühle hingegen waren nicht so leicht zu bändigen. Sie kamen, wann sie wollten, wild und heftig überfielen sie ihn aus dem Nichts. Er stand unter der Dusche und verspürte plötzlich einen solchen Hass auf Edith, dass es ihm die Luft abschnürte. Genauso unvermittelt konnte ihn Mitleid mit ihr ergreifen. Er hätte nicht mit ihr tauschen wollen. Von dieser Sache würde sie sich nie wieder befreien können.
Er hörte Stimmen, doch diesmal aus der anderen Richtung, von dem Fußpfad, der zu seinem Hof führte. Er drehte sich um. Sophie und Jella näherten sich, zu zweit trugen sie einen schweren Korb. Thies erkannte ihn, er wusste, was sich darin befand.
Sie stellten ihre Last in der Nähe der Wasserlinie ab. Er ging auf die beiden zu. »Was habt ihr vor?«
»Das Zimmer ist leer. Wie wir es gewollt haben.«
Thies registrierte die Formulierung. Wir, nicht du.
»Hallo Jella, wie schön, dich zu sehen«, sagte er.
Das Mädchen lächelte.
»Jella meint, die Steine sollen dahin zurück, wo die Kinder sie mitgenommen haben.« Sie vermied es, Aarons Namen zu nennen, ob aus Rücksicht auf Jella oder aus einem anderen Grund, konnte Thies nicht sagen.
»Gute Idee.« Er stieß versehentlich mit dem Fuß an den Korb, die Steine klackten gegeneinander.
Das Geräusch löste einen jähen Schmerz in ihm aus. Er hatte es oft gehört, wenn er sein Ohr an Aarons Tür gelegt, sich gefragt hatte, was sein Sohn dahinter tat. Er las nicht, er spielte nicht mit den Legosteinen, die noch originalverpackt im Regal lagen. Diese Steine waren ihm das Liebste gewesen.
Jella stand reglos da. Sophie nahm einen der Kiesel aus dem Korb. Ihre Schultern sanken herab, sie blieb mit dem Rücken zu ihnen stehen und blickte auf die Elbe.
»Sophie. Lass Jella und mich das machen«, sagte Thies.
»Okay.« Sophie wandte sich ab und ging. Er hatte gesehen, dass sie weinte.
Jella nahm einen Stein. Warf ihn ins Wasser. Nahm den nächsten. Und noch einen.
Thies schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Geräusch, auf den Moment, wenn ein Stein die Wasseroberfläche zerschlug und vom Fluss verschluckt wurde. Jedes Mal ein Platschen und ein dumpfer Widerhall.
Irgendwann hörte es auf. Nur der Motor der Fähre brummte aus der Ferne.
Thies blickte auf. Der Korb war fast leer. Jella hatte sich auf den Boden gehockt und hielt ihre Knie mit den Armen umschlungen. Als er einen Schritt auf sie zu machte, stand sie auf und bückte sich nach dem nächsten Stein.
»Lass nur. Lauf nach Hause.« Thies berührte ihre Schulter. »Den Rest mache ich.«
Er nahm ihr den Stein aus der Hand. Er hatte die gleiche Größe und Farbe wie der, den Aaron ihm einmal geschenkt hatte. Ob es dieser hier war? Oder ob der sich noch in seinem Arbeitszimmer befand? Vielleicht versank er auch längst im Schlamm der Elbe.
Er wartete, bis Jella um die Wegbiegung verschwunden war. Wenige Steine waren übrig. Er zählte sieben, mit dem, den er in der Hand wog. Er holte aus, um ihn zu werfen. Sein Arm sank herab.
Sophie und er begannen ein neues Leben ohne Aaron. Sie brauchten den leeren Raum, Luft zum Atmen. Aber diese paar Steine sollten sichtbar bleiben.
Thies lief am Ufer entlang und ließ die Steine nach und nach in den Sand fallen. Schon nach wenigen Augenblicken konnte er sie nicht mehr von ihren Artgenossen unterscheiden.
*
Der Motor der Fähre war irgendwann verstummt, ohne dass Thies es bemerkt hatte. Edith verließ gerade das Boot, sie ging gebeugt. Sie gab kaum eine bessere Figur ab als der alte Hund hinter ihr. Sie sah nicht zu Thies hinüber.
Er kehrte zurück zu seinem Findling und setzte sich. Der Fluss murmelte. Macht dir die Stille Angst?
Nein, dachte Thies und ließ den Blick mit der Strömung wandern. Ich weiß genug über die Stille.
Edith gab Joschi einen sanften Schubs, und die Hündin trottete auf die Wiese, noch langsamer als sonst.
Wenn Thies die beiden so sah, empfand er keinen Hass. Edith hatte einen fatalen Fehler begangen, aber wäre er denn jederzeit dagegen gefeit, eine Situation falsch einzuschätzen? Er war für den Bruchteil einer Sekunde am Steuer seines Autos eingeschlafen, ein paar Wochen nach Aarons Tod, als er Nacht für Nacht wach gelegen hatte. Hatte einfach unterschätzt, wie müde er gewesen war. Als ein Adrenalinstoß ihn aufschrecken ließ, hatte er sich bereits halb auf der Gegenfahrbahn der Landstraße befunden. Was, wenn er damals einen tödlichen Zusammenprall verursacht hätte?
Ediths Abneigung gegen Aaron hatte das Geschehen beeinflusst. Wäre Lasse der Junge im Fluss gewesen, wäre sie ihm in Panik zu Hilfe geeilt.
Thies glaubte Inga und Bodo, dass Edith unter Schuldgefühlen litt. Sie fühlte sich verantwortlich. Sie war zur Polizei gegangen und hatte eine Aussage gemacht. Nun lief ein Gerichtsverfahren gegen sie. Am Ende würde genau das herauskommen, was Thies’ Verstand längst akzeptiert hatte. Edith war nicht schuld an Aarons Tod.
Eine Möwe schwebte über die Wiese und ließ sich von einer warmen Brise zum Fluss tragen. Die Hündin war stehen geblieben. Ihre Hinterläufe knickten ein, und sie legte sich auf die Seite.
Thies beobachtete, wie Edith zu ihr ging. Sie blieb vor dem Tier stehen. »Auf, Joschi!«
Die Hündin hob den Kopf ein paar Zentimeter an und ließ ihn wieder ins Gras sinken.
»Steh auf!«
Joschi gehorchte nicht.
»Joschi! Hoch mit dir! Sofort!« Edith schrie jetzt fast, ihre Stimme bebte. »Steh auf! Joschi!«
Thies erhob sich. Langsam ging er auf Edith zu, die immer noch Befehle brüllte. Sie bemerkte ihn erst, als er neben ihr stand, und er sah ihr von Schmerz und ohnmächtiger Wut verzerrtes Gesicht.
»Sie will nicht hören«, brachte sie hervor.
Er beugte die Knie und streichelte über Joschis Flanken. Die Haut unter dem dünnen Fell fühlte sich heiß an. Die Hündin hielt die Augen weit offen, ihr Blick irrte umher, fokussierte sich kurz auf ihn, als er sie berührte, flackerte dann weg, in die Ferne.
Langsam richtete er sich auf. »Du musst sie einschlafen lassen.«
Er sah Edith nicht an, aber er spürte, wie sie erstarrte. Sie schien nicht mehr zu atmen. Thies blieb neben ihr stehen, bis die Augen der Hündin blind wurden.
*
Als Inga eintraf, trug Thies die tote Hündin zu ihrem Wagen.
Er entschied sich, noch draußen zu bleiben, lief einen Bogen um den Ort, nahm die Straße zum Wald. Dort verließ er den Wanderweg, lief über das weiche Moos. Es war still, bis auf das leise Knacken von Zweigen, die unter seinen Füßen zerbrachen.
Er hörte auf seinen inneren Kompass und war dankbar, dass er ihn nach so langer Zeit wieder spürte. Er lenkte ihn zu Maras Laube.
Seit der letzten Begegnung mit ihr war er nicht dort gewesen. Nun lag die Hütte vor ihm. Nichts schien sich verändert zu haben. Die Farbe blätterte von den Wänden, der schmale Fußpfad bis zur Tür wucherte zu. Der Ort wirkte verlassener als je zuvor.
Er drückte die Türklinke herunter und trat ein. Es war dunkel und kühl im Inneren. Er durchquerte den Wohnraum und betrat Maras Schlafzimmer, das ohne sie nur eine schäbige Rumpelkammer war. Wie oft war sie weggegangen und hatte solche Räume zurückgelassen, trostlos und entzaubert?
Thies setzte sich auf den Stuhl, vor die fleckig-graue Matratze. Er hörte Maras Stimme, sie wehte von draußen herein, aus dem verwilderten Garten, in dem sie im Regen getanzt hatte. Nichts wie weg hier, ich suche mir ein anderes Zimmer.
Er hatte ihre Worte an ihrem ersten Abend auf dem Hof nicht vergessen, vor dem Essen mit Sophie, als er Mara durch das Haus geführt hatte.
Du veränderst etwas. Und damit verändert sich deine Sicht auf die Dinge.
Sie war nur für ein paar Wochen hier gewesen, aber sie hatte Farben in sein Leben gebracht wie der blühende Flieder. Er hatte sich lebendig gefühlt.
Veränderung. Er sehnte sich danach. Aarons Zimmer war nun leer. Er hatte Sophie mit seinem Wunsch überrumpelt, gespürt, dass sie noch nicht so weit war. Und trotzdem war sie es gewesen, die gehandelt hatte. Sie hatte auch den ersten Stein aufgehoben. In diesem Moment hatte er die alte Verbundenheit zu ihr wieder gespürt. Doch dann war sie weggegangen, und das Gefühl war verschwunden.
Er stellte sich das Zimmer vor. Was sollte damit geschehen? Womit füllten sie es? Es konnte zu einer Gefahr für sie beide werden. Wünsche und Erwartungen würden Einzug halten, Hoffnungen, die vielleicht nicht in dieselbe Richtung gingen. Und gleichzeitig lauerten die Verletzungen, die unausgesprochenen Vorwürfe in jedem Winkel des Hauses. Er hatte nicht die Kraft, sie abzuwehren. Er sah sich auf dem Findling am Ufer sitzen, während die Elbe an ihm vorbeifloss, ein niemals endender grauer Strom. Etwas regte sich in seinem Inneren, es fühlte sich an wie Wut. So würde er nicht weiterleben.
Was würde Mara an seiner Stelle tun?
Er war noch nie weggegangen, ohne zu wissen, wohin. Vielleicht ergab sich das Ziel von selbst, wenn man sich einfach auf den Weg machte. Er sehnte sich danach, mit Mara zu sprechen. Wenn es jemand wusste, dann sie.
Die Vorstellung, Sophie alleinzulassen, tat weh. Aber sie konnten sich nicht gegenseitig retten. Jeder musste für sich einen Weg finden, weiterzumachen.
Thies trat aus der Hütte und schloss die Tür. Kein Lufthauch bewegte die Hitze, und alles Leben im Wald schien in schattigen Höhlen zu verharren, bis die Dämmerung kam.
*
Als er den Hof erreichte, hörte er laute Stimmen. Bodo und Lasse spielten Fußball auf der Wiese, sie hatten das schiefe, verrostete Tor aus dem Schuppen geholt und notdürftig geflickt.
Bodos Gesicht war gerötet, er rang keuchend um Atem. »Thies! Komm her, lös mich ab, ich breche sonst zusammen!«
Thies winkte ihm nur zu und ging ins Haus. Sophie war noch nicht von der Arbeit zurück. Aarons Tür war wieder geschlossen. Es fühlte sich an wie eine Bestätigung.
Er holte eine Reisetasche vom Speicher und legte Hosen, T-Shirts und Unterwäsche hinein. Es war merkwürdig, zu packen, ohne den Zeitraum der Reise zu kennen. Immerhin, ein Ziel kristallisierte sich heraus.
Als er sich umwandte, sah er Sophie. Sie stand in der Tür, wie lange schon, konnte er nicht sagen. Durch das offene Fenster strömte Wärme herein, brachte den Duft von Blüten und Bodos und Lasses Stimmen mit. Er bemerkte auch das erst jetzt.
Er zog den Reißverschluss der Tasche zu, ließ sie auf dem Bett liegen. Als er sich Sophie näherte, wich sie zurück, es war nur eine winzige, fast unmerkliche Bewegung, doch sie war ihm nicht entgangen.
»Ich muss es versuchen«, sagte er.
Sie fragte nicht, was er damit meinte, und er war ihr dankbar dafür. Er hätte keine Antwort gewusst.
»Ich melde mich.«
Er zögerte, dann nahm er sie in die Arme, rechnete damit, dass sie ihn abwehrte. Doch sie ließ es zu.
»Ich melde mich, wenn ich angekommen bin.«