An Jellas Geburtstag hatte der Sommer endgültig Einzug gehalten. Das Fest war Ingas Idee gewesen. Sie hatte sie alle überreden müssen, war aber hartnäckig geblieben.
Jellas Freundinnen waren gekommen. Sie kühlten sich unter dem Strahl des Rasensprengers ab, den Bodo auf der Wiese aufgestellt hatte. Sophie beobachtete die Mädchen, drei sprangen kreischend durch das kalte Wasser wie Kinder, während sich Jella und ihre Freundin Isabell damenhaft neben dem Gerät platziert hatten und abwechselnd ihre nackten Arme und Beine beregnen ließen.
»Die Tafel reicht so nicht für alle«, rief Inga aus dem Küchenfenster. »Ich glaube, im Schuppen ist noch ein Biertisch. Lasse soll mal nachsehen!«
Sophie sah sich nach Lasse um, er hockte mit einem Freund auf der Bank bei der Eiche. Sie steckten die Köpfe zusammen und schauten auf ein Handydisplay, sichtlich bemüht, die Mädchen zu ignorieren und gleichzeitig möglichst cool auszusehen.
Sophie musste lächeln, ging dann selbst in den Schuppen und holte den Tisch. Ihr Blick fiel auf Thies’ Gartengeräte, seinen Spaten an der Wand, an dem noch Erdklumpen hingen.
Seit er abgereist war, hatte er sich nicht mehr gemeldet, und sie versuchte es nicht auf seinem Handy. Sie wusste, es würde abgeschaltet sein.
Inga und Bodo sorgten dafür, dass sie kaum Zeit allein verbrachte. Mit Inga trank sie ihren Morgenkaffee unter der Eiche, dort saßen sie auch nach Feierabend, und Inga bestand fast jeden Abend darauf, dass Sophie mit ihnen aß. War sie nicht gerade im Labor, fand das Leben draußen statt. Über Thies sprachen sie nicht. Sie war den Freunden dankbar dafür und gab sich Mühe, sich ihre Traurigkeit nicht anmerken zu lassen.
Bodo fuhr auf den Hof, auf dem Beifahrersitz saß Edith. Es war zu spät, sich ins Haus zurückzuziehen. Sie musste sich darauf einstellen, Edith zu begegnen.
Vor einigen Tagen war Edith abends zu ihr gekommen und hatte sie um Verzeihung gebeten. Thies war schon abgereist gewesen. Das Gespräch hatte nicht lange gedauert, weil sie beide mit den Tränen kämpften, aber Sophie hatte ihre Entschuldigung angenommen.
Natürlich hatte Inga sie zu dem Fest eingeladen, es war der Geburtstag ihrer Enkelin, und das Leben musste ja weitergehen. Edith war Ingas Mutter. Sie mussten miteinander klarkommen.
Aber Inga hätte sie vorwarnen können, dass Bodo mit Edith im Anmarsch war. Was machte Inga überhaupt so lange im Haus? Auch Bodo war verschwunden.
Edith kam auf Sophie zu. Es war ein ungewohnter, irgendwie unvollständiger Anblick: Die Fährfrau ohne die alte Hündin. Sie begrüßten sich auf eine knappe und ernste Weise, dann ging Edith zu den Mädchen weiter, umarmte ihre Enkelin.
Inga kam eilig aus dem Haus. »Es hat doch geklappt! Ich habe eine Nachricht von der Psychologin, Jella kann schon ab nächster Woche zur Therapie kommen!«
»Wie toll, das freut mich.«
Inga ließ sich neben sie auf einen Stuhl fallen. »Ich bin so erleichtert. Ich glaube, Jella ist auf dem Weg der Besserung. Ich wünsche mir so sehr, dass unser Leben wieder normal wird.« Sie wandte den Kopf, Edith näherte sich. »So normal wie möglich jedenfalls«, fügte sie leiser hinzu.
Bodo kam mit Sekt und Gläsern. »Auf die Nachricht müssen wir anstoßen. Und überhaupt, auf den herrlichen Sommertag.«
»Für mich nichts«, sagte Edith.
»Dürfen wir ein bisschen zum Fluss?«, rief Isabell vom Rand der Wiese herüber.
Sophie sah den skeptischen Blick, den Inga und Bodo wechselten. Auch Jella schien nicht begeistert von dieser Idee, sie wirkte angespannt, hielt etwas Abstand zu den Mädchen.
»Oh bitte! Wir gehen nicht baden, versprochen. Nur ein bisschen mit den Füßen rein, zum Abkühlen«, sprang Emma ihrer Freundin bei.
Bodo richtete sich auf. »Na gut. Aber in einer halben Stunde seid ihr wieder da. Und ihr nehmt die Jungs mit.«
Ein lautes kollektives Stöhnen war die Antwort, doch sie zogen von dannen, Lasse und seinen Freund im Schlepptau. Es wurde viel gekichert. Jella drehte sich noch mal zu ihren Eltern um.
»Los komm, Jella!«, rief Isabell. Jella wurde in die Mitte genommen und untergehakt. Alle verschwanden gemeinsam um die Wegbiegung, ihre Stimmen wurden leiser und verklangen.
Edith stand auf. »Ich geh hinterher.«
»Danke, Mama«, sagte Inga.
Sie und Bodo sprachen über Jellas Therapie, über Organisatorisches, die Fahrten nach Lüneburg. Sophie hörte nicht wirklich zu. Sie spürte die Wirkung des Alkohols und entspannte sich. Vielleicht würde es ihr gelingen, sich ablenken zu lassen, dank ihrer Freunde, dank Jellas Feier. Sie nahm die Flasche und schenkte allen nach.
Inga sagte gerade irgendetwas, das Bodo zum Lachen brachte. Sophie tat so, als habe sie den Scherz mitbekommen, und versuchte ebenfalls ein Lächeln.
»Sophie.« Inga hatte es bemerkt. »Kann ich irgendwas für dich tun?«
»Hat er sich gemeldet?«, fragte Bodo unvermittelt.
»Nein.«
»Ich finde, das reicht langsam. Er geht zu weit.«
»Was denkst du, wo er hingefahren ist?«, fragte Inga. »Nach Christiania?«
Sophie hob nur die Schultern. »Vermutlich.«
»Meinst du, er bleibt da? Für länger?«
Sophie seufzte lautlos. Das Thema Thies war die ganze Zeit ausgeklammert worden, doch nun, wo Bodo ihn plötzlich erwähnt hatte, brachen die Dämme. Sie verstand es ja. Auch die beiden machten sich ständig Gedanken. Sorgen um Sophie. Und genauso um Thies.
»Immer noch besser, als wenn er hier wäre und wieder in diese Verzweiflung abgleitet.«
Bodo stand abrupt auf und ging ins Haus. Sie sahen ihm beide hinterher.
»Er kommt nicht damit klar«, sagte Inga. »Thies bedeutet ihm viel. Er fühlt sich so ohnmächtig.«
Sie tranken schweigend.
Sophie ließ den Blick über den Gemüsegarten schweifen. Der Eichblattsalat reckte die ersten runden Köpfchen ins Licht. Thies hatte auch ein Erdbeerbeet angelegt, und sie meinte, schon winzige Früchte zu erkennen.
»Ich verstehe Thies auch nicht.« Inga drehte ihr Glas in den Händen. »Du hast gemacht, was er wollte: die Sachen weggegeben. Du hast das für euch beide getan. Warum ist er trotzdem gefahren?« Sie zögerte. »Sophie. Was machst du, wenn er nicht zurückkommt?«
Sophie dachte an das Haus, in dem es so still war. An das leere Zimmer. Irgendwann würde eine neue Familie einziehen. Kinder würden dort aufwachsen. Vielleicht schon bald. Von ihr und Thies würde nichts bleiben.
»Verzeih mir, das hätte ich nicht fragen sollen.«
»Schon gut.« Sophie stand auf, etwas zu schnell, wie sie an dem leichten Schwindel im Kopf merkte. »Der Sekt macht so müde. Ich glaube, ich brauche ein halbes Stündchen für mich.«
»Leg dich ein bisschen hin«, meinte Inga liebevoll.
Sophie ging ins Haus, die Luft zwischen den alten Steinmauern fühlte sich kühl an. Sie nahm eine Wolldecke und legte sich im Wohnzimmer aufs Sofa, den Blick auf das Armband auf dem Tisch, auf den Lapislazuli-Stein gerichtet. Sein Blau schien die beherrschende Farbe im Raum zu sein.
Als sie aufwachte, hatte sich das Licht verändert. Die Sonne war untergegangen. Sie kam sich vor wie betäubt. Wie lange hatte sie geschlafen?
Vom Hof drangen Stimmen bis zu ihr. Die Kinder waren vom Fluss zurück. Lasse rief etwas. Inga lachte laut auf. Sophie ging in die Küche. Was sie aus dem Fenster sah, wirkte wie ein Standbild aus einem Film. Die Dämmerung hatte eingesetzt, und Kerzen brannten auf der jetzt festlich eingedeckten Tafel. Weiße Tischtücher, Sommersträuße aus Pfingstrosen, Ranunkeln und Rittersporn, Luftballons in knallbunten Farben an den Lehnen der Stühle. Alle aßen. Jella mit ihren Freundinnen und den Jungs an einem Ende des Tisches, die Erwachsenen am anderen. Inga strahlend in der Mitte. Sophie hatte ihre Freundin lange nicht mehr so glücklich gesehen.
Sie sah sich selbst mit an der Tafel sitzen, in das Lachen einstimmen. Eine Welle von Ingas Glück erfasste auch sie. Sie gehörte dazu. Sie wollte nirgendwo anders leben als hier.
Sophies Träumerei riss ab, als die Gespräche draußen verstummten. Zuerst war es nur Bodo, der in Richtung der Einfahrt blickte, nun wandten sich Inga und Edith dorthin um, und schließlich auch Jella. Scheinwerfer blendeten auf. Ein Taxi fuhr auf den Hof.