Kapitel 7 – Mittwoch, 03.08.

00:30 Uhr

Es ist kurz nach Mitternacht, und in der Altstadt von Koblenz ist noch so viel los, dass ich nicht auffalle. Junge Leute in etwa meinem Alter laufen ziellos durcheinander, einzeln, paarweise, in alle Richtungen, von überall herkommend, teilweise ziellos, langsam oder schnell. Angesichts der Uhrzeit sind die wenigsten von ihnen auf dem Heimweg. Das Nachtleben hat gerade erst richtig angefangen, die Bars und Discos haben begonnen sich zu füllen, und keiner verschwendet auch nur einen Blick an mich, der ich langsam durch die Fußgängerzone in Richtung Mosel schlendere. Je näher ich meinem Ziel komme, desto weniger werden die Menschen, bis ich schließlich ganz alleine durch eine kleine Seitenstraße gehe.

Mein Ziel ist die Balduin-Brücke. Selbstverständlich will ich nicht auf die Brücke und die Mosel überqueren. Nein, ich habe eine spezielle Stelle im Auge ... unter der Brücke. Nachdem ich über Wochen verteilt an einigen Abenden in Verkleidung das Lager unter der Brücke aufgesucht hatte, kenne ich inzwischen meine Pappenheimer. Die Stelle, zu der ich gehe, liegt abseits der Uferstraße, die unter der Brücke die Mosel entlangführt, und ist nicht wirklich stark frequentiert. Meistens ist Arne der einzige Penner, der hier sein Nachtlager aufgeschlagen hat. Der Platz ist fernab der Straße, weit hinten, wo die Böschung sich langsam dem Brückenunterboden nähert, und sehr dunkel.

Arne liebt die Dunkelheit. Er ist ein Einzelgänger, und es war schwer gewesen, überhaupt Kontakt mit ihm aufzunehmen. In der Verkleidung hatte man mir mein jugendliches Alter nicht ganz so deutlich angesehen, aber trotz Schminke und Theaterbart sehe ich noch immer etwas zu jung aus für einen Obdachlosen. Letztendlich war es die Flasche Schnaps gewesen, die das Eis gebrochen hatte, und seit dieser Zeit habe ich ihn in unregelmäßigen Abständen immer mal wieder besucht. Selbstverständlich hatte ich immer was zu trinken dabei.

Heute natürlich auch. Diesmal habe ich allerdings eine ganz spezielle Flasche dabei. Ich möchte nicht, dass Arne leidet. Das hat der alte Mann, den ich auf mindestens 60 schätze, wirklich nicht verdient. Er täte mir vermutlich leid, wenn ich zu einem solchen Gefühl fähig wäre. Aber leiden muss er nun wirklich nicht, warum auch?

Entgegen des in Fernsehserien und in den Biografien bekannter Serienkiller immer wieder dargestellten Werdegangs habe ich zu keiner Zeit meiner Jugend Tiere gequält. Ich habe keinen Spaß am Leid anderer Wesen, egal ob Mensch oder Tier. Sie sind mir einfach ... egal. Ja, ich habe ein paar Katzen und Hunde getötet, aber nur aus einem einzigen Grund: Ich wollte sehen, ob ich davonkomme ... wovon ich allerdings immer überzeugt war. Ich war mir stets im Vorfeld sicher, dass niemand mich mit dem Tod der Tiere in Verbindung bringen würde. Auch die schrecklichen Verstümmelungen der Tiere hatten nur einen Zweck: Sie sollten die Menschen aufregen und anstacheln, mit aller Macht und Energie nach dem Täter zu suchen. Selbstverständlich hatte ich die Tiere vor der Verstümmelung immer schon auf humane und schmerzfreie Weise getötet. Ich habe keine Freude am Leid. Genauso wenig, wie ich selbst gut Schmerzen ertragen kann, sehe ich auch bei anderen Wesen nicht gerne, wenn sie Schmerzen erleiden.

Also wird Arne nichts von dem mitbekommen, was ich mit ihm vorhabe. Er ist nur Mittel zum Zweck.

„Hallo, Arne“, spreche ich die in der hintersten Ecke in fast völliger Dunkelheit eingemummt liegende Person an. Ich brauche mich nicht zu verstellen. Arne wird niemandem mehr etwas über mich berichten können. Die Gestalt rührt sich nicht.

„Hey, Arne, wach auf, ich hab dir was mitgebracht!“, rufe ich jetzt etwas lauter und stoße das Bündel leicht mit dem Fuß an.

„Hey, Mann, lass mich in Ruhe. Ich schlafe.“

Arne hat keine Uhr, und ich denke, ihm fehlt auch jegliches Zeitgefühl, also kann er nicht beurteilen, ob es nach Mitternacht oder erst früher Abend ist.

„Du wirst gleich noch viel besser schlafen, wenn du was von meinem Schlummertrunk genommen hast.“

Ich muss mich zurückhalten, um nicht zu kichern, denn eines ist sicher: So tief wie nach diesem Schlummertrunk wird Arne noch nie geschlafen haben. Es wird der ewige Schlaf sein, aus dem er nie wieder aufwacht.

Das Wort „Schlummertrunk“ ist offenbar durch seine benebelten Sinne bis in den hintersten Winkel seines Gehirns durchgedrungen, und wie bei einem pawlowschen Reflex verbindet er mit Schlummertrunk automatisch Alkohol und reagiert entsprechend.

Er richtet sich mühsam in eine sitzende Position auf. „Ey Mann, Klasse, gib her. Was hast du? Isses was Gutes?“

„Bester Whisky, Kumpel, hab ich grad im Supermarkt geklaut.“ Das stimmt natürlich nicht. Ich habe die Flasche gekauft, denn das Risiko, durch den Diebstahl einer blöden Flasche Whisky aufzufallen, ist viel zu groß und einfach nicht nötig.

Gierig greift Arne nach der Flasche, deren Schraubverschluss ich bereits entfernt habe, und nimmt einen riesigen Schluck. Über meine Fingerabdrücke auf der Flasche muss ich mir keine Gedanken machen, denn ich werde sie wieder mitnehmen. Inzwischen hat Arne bereits den zweiten großen Schluck genommen. Die Wirkung sollte in wenigen Sekunden einsetzen. Das Thiopental wird ihn einschlafen lassen und hat die Wirksamkeit einer guten Narkose. Als verantwortungsbewusster Killer habe ich mir selbstverständlich vorher im Internet die erforderlichen Kenntnisse über die Dosierung angeeignet, denn der Gerichtsmediziner soll hinterher eine andere Todesursache als „Vergiftung durch eine Überdosis“ feststellen.

„Echt lecker“, sind die letzten zwei Worte, die Arne in seinem bis heute nutzlosen Leben sagt. Ich werde seinem Leben und seinem Sterben endlich einen Sinn geben. Darauf bin ich schon ein wenig stolz.

Beinahe hätte ich verpasst, wie die Flasche seinen kraftlosen Fingern entgleitet und droht, den leichten Abhang in Richtung Uferstraße hinabzurollen. Aber zum Glück kann ich noch rechtzeitig meinen Fuß so platzieren, dass er die rollende Flasche stoppt. Den restlichen Inhalt schütte ich einfach in eine Ecke, wo er im Boden versickern kann. Die Flasche landet in meiner Manteltasche, damit ich sie auf dem Heimweg in einem Glascontainer entsorgen kann.

Ansonsten habe ich diesmal nur wenig mitbringen müssen ... eigentlich nur ein Skalpell und eine Plastiktüte, in der ich ein paar kleinere Teile von diesem Ort mitnehmen werde. Jetzt steht mir nur noch die unangenehme und sicherlich nicht ganz einfache Aufgabe bevor, den alten Arne aus seinen dreckigen und wirklich extrem stinkenden Klamotten zu schälen, damit ich endlich mit meiner eigentlichen Arbeit beginnen kann.