Kapitel 8
Präsidium – 07:00 Uhr
Coco war schon immer Frühaufsteherin gewesen, und es wunderte sie nicht, dass sie um 07:00 Uhr die Erste in den Räumen der Mordkommission war. Einer oder mehrere ihrer neuen Kollegen schien ein absoluter Kaffeefreak zu sein, denn sie musste nicht mühsam einen Kaffee aufsetzen, sondern lediglich den hochmodernen Vollautomaten einschalten, der geräuschvoll seine Tätigkeit aufnahm, aufheizte, die Leitungen durchspülte und anschließend signalisierte, dass er nun betriebsbereit sei.
So ein Teil kostet doch mindestens 500 Euro, dachte sie anerkennend. Viel zu viel für mein kleines Anwärterinnengehalt ... leider. Aus einem Sammelsurium unterschiedlicher Pötte suchte sie sich eine Tasse mit der Aufschrift „Bund Deutscher Kriminalbeamter“ aus und hoffte, dass nicht einer der Kollegen erbost gerade diese Tasse als sein alleiniges Eigentum reklamieren würde. Mit dem Pott und dem dampfenden Kaffee, der mit einer wie im Restaurant aussehenden Crema ausgestattet war, setzte sie sich an den ihr zugewiesenen Schreibtisch und genoss das heiße, schwarze Getränk. Sie hatte gerade die Füße auf den Schreibtisch gelegt, als das Telefon an Auers Schreibtisch zu klingeln begann.
Oh scheiße, was mach ich denn jetzt? Darf ich da überhaupt rangehen, wenn Ulf nicht da ist? Was ist, wenn es wichtig ist?
Die Gedanken rasten ihr durch den Sinn. Aber sie hätte nicht als Drittbeste ihres Jahrgangs die Zwischenprüfung des Kommissarlehrgangs bestanden, wenn sie der zaudernde, unentschlossene Typ gewesen wäre. Sie wog die „Wenns“ und „Abers“ in Sekundenbruchteilen gegeneinander ab, während sie die Beine vom Schreibtisch nahm und den Kaffeepott abstellte. Dann ging sie behände die wenigen Schritte zu Auers Schreibtisch und nahm den Hörer ab.
„Mordkommission, Crott?“
„Kriminaldauerdienst, Gabriel. Ist Ulf noch nicht da?“
„Nein, sonst wäre vermutlich er an sein Telefon gegangen. Was kann ich für Sie tun oder Ulf ausrichten?“
„Tja, also ... ähm ... wer sind Sie eigentlich? Ich wusste gar nicht, dass bei Ulfs Mordkommission jetzt eine Frau Dienst tut. Also, wer sind Sie?“
„Coco Crott, Kriminalkommissaranwärterin, derzeit im Praktikum bei der Mordkommission und durchaus in der Lage, eine Nachricht entgegenzunehmen und an Ulf weiterzugeben.“
Coco hoffte, dass es ihr gelungen war, den sarkastischen Ton aus ihrer Stimme herauszuhalten. Sie wollte den Kollegen nicht verärgern, sah aber auch nicht ein, dass sie ihr Licht unter den Scheffel stellen sollte. Sie war weder blöd noch absolut unerfahren. Die Mordkommission stellte den letzten Teil ihrer Praktikumszeit dar, und sie hatte bereits bei der Sitte und beim Diebstahlsdezernat gearbeitet. Klar, die Mordkommission war die Königsdisziplin und wirklich anspruchsvoll, aber sie war selbstbewusst genug, um sich sicher zu sein, dass sie nicht wirklich alles falsch machen würde.
Der Kollege schien ihr Auftreten richtig zu werten und begann ihr die Nachricht für Ulf Auer mitzuteilen.
„Die Kollegen von der Streife haben vor fünf Minuten gemeldet, dass eine Spaziergängerin mit Hund unter der Moselbrücke, genauer gesagt unter der Balduin-Brücke, auf der rechten Uferseite eine männliche Leiche entdeckt hat. Nach der Beschreibung der Kollegen kann man wohl mit hoher Sicherheit von einem Gewaltverbrechen ausgehen. Können Sie das notieren und Ulf ausrichten? Sonst ruf ich zur Sicherheit auf seinem Handy an, wenn er mich in den nächsten zehn Minuten nicht zurückruft.“
„Ist schon alles notiert. Die Handynummer von Ulf habe ich hier stehen, ich verständige ihn sofort. Bitte weisen Sie die Kollegen an, den Tatort weiträumig abzusperren, wir sind so schnell wie möglich vor Ort. Ich werde Sie sofort verständigen, wenn wir unterwegs sind, Kollege Gabriel.“
Ganz offensichtlich war der Kollege so perplex von ihrer Entschlossenheit, dass er sich nicht mehr als ein mühsames „Ja, okay, geht klar“ zusammenstotterte.
Coco legte auf und wählte direkt Ulfs Handynummer.
***
Auer war bereits auf dem Weg zur Dienststelle gewesen und schon drei Minuten nach Cocos Anruf eingetroffen, und sie hatte ihm schon bei dem Telefonat die wenigen Fakten mitgeteilt, die ihr vorlagen. Es hatte Coco schon ein wenig stolz gemacht, als Auer sie aufgefordert hatte, den Kriminaldauerdienst noch mal anzurufen und zu beauftragen, an die Kollegen vor Ort durchzugeben, eine weiträumige Absperrung einzurichten.
Das mit fester Stimme vorgetragene „Hab ich schon erledigt, Chef, gleich beim ersten Anruf vom KDD“ war ihr ganz besonders locker und mit einer gewissen Befriedigung über die Lippen gegangen. Aber der nächste Dämpfer kam sofort.
„Gut gemacht, Coco, ein dickes Lob. Allerdings darf ich dir einen kleinen Tipp mit auf den Weg geben.“
Sie hatte keine Ahnung, was er meinte.
„Mit den Jahren wirst du feststellen, dass man tatsächlich und sogar am Telefon hören kann, wenn jemand lächelt oder grinst. Deshalb ist es auch die Lektion eins für Callcenter-Mitarbeiterinnen: Machen Sie beim Telefonieren ein freundliches Gesicht. Ansonsten hört Ihr Telefonpartner es entweder oder sein Unterbewusstsein registriert, dass Sie genervt sind. Und genauso habe ich dein feistes Grinsen gehört, als du bei mir punkten konntest. Bis gleich.“
Coco hatte sich eingestehen müssen, dass sie mal wieder etwas dazugelernt hatte. Aber sie pflegte jede neu gelernte Lektion zu verinnerlichen und es als positiv zu betrachten, wenn sie nach einer Belehrung mehr wusste als vorher. Außerdem hatte sich Auers Bemerkung nicht wirklich negativ angehört, sondern wirklich wie ein gut gemeinter Rat.
Der Mann stieg in ihrer Achtung von Stunde zu Stunde.
Eine Minute nach Auer war Duben aufgekreuzt, und Auer hatte ihn auf dem Weg zu ihrem Dienstwagen über die bislang bekannten Fakten informiert. Duben hatte sich ohne zu fragen hinters Steuer geklemmt und war mit Blaulicht und Sirene losgebraust. Er kannte sich aus und wusste genau, welche Strecken man um diese Uhrzeit, also am frühen Morgen im stärksten Berufsverkehr, am besten meiden sollte und wie man auf dem schnellsten Weg zum Tatort kam.
Nun standen sie zu dritt um die Leiche herum, die mit Latexhandschuhen geschützten Hände in den Taschen, und verschafften sich einen ersten Eindruck vom Tatort. Das Erste, was Coco auffiel, war der Geruch.
„Was ist das für ein seltsamer Geruch? Das ist doch keine Verwesung, oder?“
Diesmal war es Duben, der ihr antwortete: „Gut erkannt. Du hast die einschlägige Erfahrung noch nicht gemacht, aber wenn du erst mal mit anderen Obdachlosen zu tun gehabt hast, wirst du feststellen, dass es hier vermutlich bereits vor der Tat so gerochen hat. Das ist der Geruch der Hoffnungslosigkeit und der Einsamkeit.“
Coco bemerkte Auers verblüfften Seitenblick, und seine unvermeidliche Anmerkung ließ nicht lange auf sich warten.
„Wow, das war ja fast philosophisch. Das bin ich ja gar nicht von dir gewohnt. Ich hätte es wohl eher als den Geruch des Mangels an Duschgel, verbunden mit Alhoholausdünstungen und schlechter Ernährung, bezeichnet. Allerdings liegt hier auch noch ein süßlicher Geruch in der Luft. Wer kann mir sagen, was das ist?“
„Blut!“, schoss es aus Coco hervor, bevor sie überlegen konnte, ob es nicht opportun wäre, sich erst mal zurückzuhalten.
Zwei überraschte Blicke trafen sie.
„Oha“, bemerkte Duben und nickte anerkennend. „Hätt ich nicht gedacht. Aber ja, genau, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Hier muss ziemlich viel Blut geflossen sein. Lass uns die Leiche mal genauer ansehen.“
Sie näherten sich gemeinsam dem mit einer weißen Plane abgedeckten Körper.
„Ich habe keine Ahnung, was uns erwartet, Leute, aber ich habe gesehen, dass sich schon zwei Uniformierte da hinten übergeben haben. Also wappnet euch und erwartet das Schlimmste.“
Auer trat an eine Ecke und erfasste die Plane und zog sie ohne langes Zögern von dem Körper herunter.
Sprachlos blickten die drei auf das, was sich ihnen in aller Schonungslosigkeit darbot.
Coco konnte nicht verhindern, dass ihr trotz vor den Mund gehaltener Hand ein lautes Stöhnen entfleuchte. „Oh Gott, was ist das?“ Sie starrte fassungslos auf den kaum noch als Mensch zu identifizierenden Körper. Sie hatte schon viele Fotos von den furchtbarsten Verbrechen gesehen, aber es war ein Unterschied, nun „in natura“ vor einem solchen Desaster zu stehen.
Was einmal ein Mensch gewesen war, lag ausgeweidet wie ein Stück Wild vor ihnen auf dem Boden. Der Körper war nackt und so weiß wie gekalkt, zumindest die Körperteile, deren Hautoberfläche man sehen konnte. Das waren allerdings lediglich die Beine und die Arme. Die Vorderseite des Körpers war vom Kinn bis zum Schambein aufgeschnitten und die Haut nach außen geklappt, wozu an mehreren Stellen auch horizontale Schnitte erforderlich waren, sodass die Haut in jeweils vier Streifen nach rechts und links weggeklappt werden konnte. Die inneren Organe waren teilweise herausgeschnitten und lagen entweder neben der Leiche oder hingen, wie zum Beispiel das Gedärm, einfach aus dem Körper heraus. Doch als wäre das noch nicht genug Grauen, stellte der Kopf den fast schlimmsten Anblick dar. Der Mann war skalpiert worden, die Kopfhaut mit dem Haupthaar war abgenommen worden und auf seinem Geschlechtsteil drapiert, als gälte es, es zu verdecken. Außerdem hatte der Täter dem Opfer noch die Nase und beide Ohren abgeschnitten, die jedoch nirgends zu sehen waren.
Coco bemerkte, wie Duben sich umdrehte, ein paar Schritte wegging und mehrmals tief Luft holte. Sie vermutete, dass er damit den Brechreiz überwinden wollte. Als erfahrener Mordermittler wollte er sich ganz sicher nicht die Blöße geben, vor den in größerem Abstand herumstehenden und beobachtenden Uniformierten sein Frühstück auf dem Boden zu verteilen.
Coco wunderte sich über sich selbst, dass ihr angesichts dieses Horrors nicht ebenfalls schlecht wurde. Vielleicht war das Ganze zu surreal, zu unnatürlich, als dass sie es in seiner vollen Grausamkeit hätte erkennen können. Es sah viel mehr wie das verrückte Kunstwerk eines total abgedrehten Künstlers aus, der irgendetwas damit zum Ausdruck bringen wollte – was aber in Wirklichkeit niemand verstehen konnte.
Sie kniff überrascht die Augen zusammen, als sie etwas in dem überwiegend leergeräumten Brustkorb entdeckte. Es sah aus wie die Ecke eines Blattes Papier, aber es glänzte und hatte ihre Aufmerksamkeit durch eine Lichtreflexion erregt.
„Was ist das?“ Sie beugte sich ein wenig nach vorne und deutete auf die Stelle.
Auer beugte sich ebenfalls nach vorne und griff mit der behandschuhten Hand in den Brustkorb. Er ergriff vorsichtig die hinter dem Magen hervorschauende Ecke und zog leicht daran. Mit einem schmatzenden Geräusch löste sich ein etwa 10 mal 15 Zentimeter großes Plastikkärtchen aus dem Gewirr der toten Organe des Opfers. Er richtete sich wieder auf und hielt das Fundstück mit ausgestrecktem Arm in Augenhöhe vor sich. Trotz des Umstandes, dass die Plastikoberfläche mit schmierigen Flüssigkeiten verschmutzt war, konnte man erkennen, dass es sich um eine Art bräunliches Pergamentpapier mit angesengten und teilweise verkohlten Rändern handelte. Geschützt wurde das Papier durch eine Plastikoberfläche, wie sie beim Einschweißen von Ausweispapieren verwendet wurde. Das Ganze ähnelte einer nachgemachten Schatzkarte in einem Seeräuberspiel für Kinder.
„Was zum Teufel ...“, raunte Auer fassungslos. Dann hielt er den Fund so vor Cocos Augen, dass die beschriftete Seite ihr zugewandt war.
„Was liest du hier? Ich möchte nur eine zweite Meinung.“
Coco begutachtete das Kärtchen und neigte den Kopf leicht zur Seite.
„Für mich sieht das aus wie ein einziges Wort in einer alten, verschnörkelten Schrift. Wenn ich es richtig lese, heißt es wohl: D R O O D, was immer das auch bedeuten mag.“
„So habe ich es auch gelesen. Danke.“
Auer drehte sich zu den Männern von der Spurensicherung um und schrie: „Beweismitteltüte, bitte!“
Als die Karte eingetütet und sicher verstaut war, zog Auer die Handschuhe aus und warf sie in einen extra für diesen Zweck am Rand des Tatortes aufgestellten Müllsack. Dann fischte er sein Handy aus der Jackentasche und wählte eine Nummer.
„Ich bin’s. Fisch, pass auf. Wir haben bei der Leiche einen Zettel mit einem Wort darauf gefunden. Näheres später. Schau bitte mal, was du im Internet zu folgendem Wort finden kannst, ich buchstabiere: Dora – Richard – Otto – Otto – Dora. Der erste Buchstabe ist großgeschrieben. Vielleicht kannst du uns ja schon etwas sagen, wenn wir nachher wieder im PP sind.“
Er legte auf und wandte sich wieder Coco und der Leiche zu, die gerade von einem der Spurensicherer aus allen möglichen Blickwinkeln und Entfernungen fotografiert wurde.
„Coco, lass uns noch einmal großräumig um den Tatort herum gehen und sehen, ob uns noch etwas auffällt. Ansonsten sehe ich keinen Grund, noch viel länger hierzubleiben.“
Er wandte sich Duben zu, der noch immer sehr blass war und wesentlich öfter als normal schlucken musste.
„Gerd, sei bitte so gut und bleibe hier in der Nähe des Tatortes. Überwache die Sicherungsmaßnahmen und informiere mich, wenn sich irgendwas Außergewöhnliches ergibt. Danke. Du kannst ja dann mit einer der Streifen zurück ins PP kommen.“
Zusammen mit Coco umkreiste er den Tatort langsam spiralförmig mit stetig wachsender Ausdehnung bis in eine Entfernung von 100 Metern. Als sie nichts entdecken konnten, machten sie sich 20 Minuten später auf den Rückweg zum Präsidium.
Coco war froh, diesem grauenvollen Ort zu entkommen, und sie befürchtete, dass das, was sie eben gesehen hatte, sie noch in den kommenden Wochen in ihren Albträumen verfolgen würde.
***
Wieder zurück im Besprechungsraum, bemerkte Auer sofort an Fischs leidendem Blick, dass dieser nicht so erfolgreich bei seiner Suche gewesen war, wie er es sich vermutlich im Vorfeld vorgestellt hatte. Fisch mochte es nicht, wenn er keine Erfolgsmeldungen für sich verbuchen konnte. Einen Misserfolg einzugestehen, selbst wenn ihn keine Schuld daran traf, fiel ihm mehr als schwer.
„Komm, spuck’s aus“, sprach Auer ihn sofort an, „was hast du alles nicht herausfinden können?“
Klaus Saibling verzog das Gesicht zu einer säuerlichen Grimasse. „Jaja, dreh das Messer nur in der Wunde rum. Am besten streust du auch noch Salz rein, sonst könnte es vielleicht nicht schmerzhaft genug sein. Okay, ich hab noch nicht viel rausgefunden, aber immerhin schon mal etwas. Allerdings steht mir vermutlich eine sehr lange Nacht bevor.“
Auer seufzte schwer. „Na gut, berichte bitte und spann uns nicht zu lange auf die Folter.“
„Also“, tat Saibling sehr wichtig und blickte die Anwesenden einen nach dem anderen an, bevor er zu erzählen begann: „Es handelt sich bei DROOD tatsächlich um einen Namen. Dabei geht es um eine Romanfigur von Charles Dickens, ihr wisst schon, der Dickens von Oliver Twist, genauer gesagt ist es die Hauptfigur aus seinem letzten und nicht mehr vollendeten Roman. Dickens ist mitten während der Arbeit an diesem Buch 1870 gestorben. Allerdings gibt es da auch noch ein Buch mit dem Titel DROOD von einem Autor namens Dan Simmons, ein historischer Thriller aus dem Jahr 2009. Ich werde mir wohl beide Geschichten durchlesen müssen, um euch sagen zu können, was es mit dem Namen nun wirklich auf sich hat.“
„Das ist doch schon eine ganze Menge. Danke, Fisch, gute Arbeit. Es wäre wirklich toll, wenn du dir die Mühe machst und die beiden Bücher liest.“
„Das wird nicht nötig sein“, erscholl Cocos Stimme aus dem Hintergrund. Auer und Fisch wandten sich überrascht ihr zu und blickten sie fragend an. Harry Kruse blätterte weiterhin gelangweilt wirkend in irgendwelchen Papieren, und Auer fragte sich, ob ihn die Entwicklungen wirklich nicht interessierten oder er es sich nur nicht anmerken lassen wollte.
Die plötzliche Aufmerksamkeit war Coco sichtlich peinlich, und sie beeilte sich, ihren Zwischenruf zu begründen.
„Ich habe das Buch von Dan Simmons vor Jahren gelesen. Trotzdem erinnere ich mich jetzt wieder ganz gut daran. Letztendlich geht es darum, dass der mit Dickens befreundete Autor Wilkie Collins in der Ich-Form von den letzten fünf Jahren des Lebens von Dickens berichtet. Tatsächlich ist der Roman fast biografisch und autobiografisch, das habe ich mal recherchiert, weil es mich interessiert hat. Das Thriller-Moment ist aber, dass der Roman eine Geschichte um Dickens‘ letztes Werk spinnt, in der es um die Person eines gewissen Drood geht. In dem Thriller wird dieser Drood als ein rücksichtsloser Serienkiller beschrieben, der die Londoner Unterwelt terrorisiert, zahlreiche unfreiwillige Helfer durch Hypnose in seinen Bann zieht und insgesamt mehr als 200 Opfer auf dem Gewissen gehabt haben soll.“
Auer runzelte die Stirn, und seine Augenbrauen zogen sich nachdenklich zusammen.
„Warum hast du das am Tatort noch nicht erwähnt, und worin besteht denn nun die Verbindung zu unserem Mörder?“
Es war Coco sichtlich peinlich, dass Auer den Finger genau in die Wunde gelegt hatte. Sie blickte ihn zerknirscht an.
„Ich weiß, eigentlich hätte ich sofort darauf kommen müssen, aber ich war wohl von der Leiche und ihrem Zustand so abgelenkt, dass mir das alles erst wieder eingefallen ist, als Klaus die Verbindung zu Charles Dickens angesprochen hat. Tut mir echt leid.“
„Ach was“, schaltete Fisch sich ein, „ich bin ja heilfroh, dass mir nun erspart bleibt, das Buch heute Nacht lesen zu müssen. Aber in einem hat Ulf natürlich recht: Was ist der Bezug zu unserem Killer oder was sagt es uns über die Person?“
Auer hatte zwischen den beiden hin und her gesehen und wartete nun gespannt auf Cocos Antwort, die nicht lange auf sich warten ließ.
„Den Bezug sehe ich in zwei Punkten: In dem Thriller gab es einige Opfer, bei denen erwähnt wurde, dass sie aufgeschlitzt worden seien und ihre Därme nach außen hingen. Die zweite Parallele ist, dass Drood als jemand beschrieben wird, dem bei einem Kampf sowohl die Nase als auch die Ohren abgeschnitten worden seien. Aber was das über den Täter sagen soll, ist mir absolut unklar ... außer vielleicht, dass er wohl gerne Thriller über Serienkiller liest.“
Sie zuckte ratlos mit den Schultern und sah Auer erwartungsvoll an, als müsse jede Sekunde von ihm die Erleuchtung kommen. Aber Auer war total in sich gekehrt und nahm zunächst nicht einmal wahr, dass alle Augen wie gebannt auf ihn gerichtet waren. Ihn beschäftigte ein ganz anderes Problem, das er gerade in seinem Hirn hin und her wälzte; er überlegte und versuchte, eine möglichst plausible Antwort darauf zu finden.
„Hallo, Erde an Ulf“, rief Fisch und wedelte mit der Hand in der Luft vor Auers Augen. „Bist du noch bei uns oder haben wir dich verloren? Lass uns teilhaben!“
Auer wollte seine Überlegungen allerdings noch nicht teilen. Nicht in einem so frühen Stadium, in dem er sich selbst noch nicht sicher war, womit sie es hier zu tun hatten.
„Lasst mich noch ein bisschen überlegen. Ich werde euch rechtzeitig sagen, was mir gerade so alles durch den Kopf geht. Mich würde allerdings interessieren, welche neuen Erkenntnisse HARRY beizusteuern hat.“ Er hatte den Namen des Kollegen etwas lauter ausgesprochen, als wolle er testen, ob der überhaupt zuhörte.
„Wenn du glaubst“, antwortete der Aufgerufene, ohne von seinen Unterlagen aufzusehen, „dass ich nicht zuhöre, nur weil ich dir nicht wie gebannt an den Lippen hänge, hast du dich geschnitten, mein Lieber.“
„Gut, dann berichte doch bitte mal.“
„Also, ich habe inzwischen alle Mitarbeiterinnen der Werbefirma durch ...“
Auer ignorierte das feiste Grinsen von Fisch und hörte Harry weiter zu.
„... aber da war wirklich nichts zu holen. Keine hatte eine engere Beziehung zu unserem Opfer oder sogar eine richtige Beziehung, und davon, dass sie lesbisch gewesen sein sollte, will niemand etwas gewusst haben. Aber es ist schon interessant, dass in dieser Firma kein einziger Mann arbeitet ... und ich trotzdem relativ sicher bin, dass es sich nicht um eine Ansammlung von Lesben handelt.“
Ein süffisantes Lächeln umspielte nun seine Lippen, und Auer horchte auf.
„Harry, ich muss dich doch wohl nicht dran erinnern, was das letzte Mal passiert ist, als du mit einer Zeugin ein Verhältnis angefangen hast, oder?“
Was soll ich nur machen, wenn er wieder in alte Verhaltensmuster verfällt? Ich kann doch nicht noch ein gegen ihn eingeleitetes Disziplinarverfahren ausbügeln?
Ihm entging nicht, dass Harrys Lächeln nun etwas Verschlagenes angenommen hatte.
„Also, Schlaumeier, erstens mal würde ich nie wieder was mit einer Zeugin anfangen, und zweitens ist sie nicht verheiratet.“
„Wer?“
„Die kleine Praktikantin, die erst vor zwei Tagen bei der Werbeagentur angefangen hat und unser Opfer noch nicht mal kennengelernt hatte. Ergo ... kein Problem, da keine Zeugin. Ansonsten ist das dann ja meine Privatsache, mit wem ich mich in der Freizeit treffe. Punkt.“
Das Thema war offensichtlich für ihn erledigt, denn er widmete sich wieder dem Studium seiner Unterlagen. Fisch und Coco hatten der Unterhaltung mit offenem Mund gelauscht und waren sichtlich überrascht von der Wendung.
Auer musste sich zusammennehmen, um nicht loszuplatzen, aber er verbiss sich jeden weiteren Kommentar an dieser Stelle.
Dich werde ich mir ein andermal vornehmen, Bürschchen. Wenn du glaubst, du könntest mir mit deinen Spitzfindigkeiten davonkommen, hast du dich getäuscht.
Er fand es in hohem Maße unprofessionell, wenn ein Kollege im Laufe von Ermittlungen Gefühle für eine Person entwickelte oder ein Verhältnis mit ihr anfing, die auch nur im Entferntesten mit dem Fall zu tun hatte ... und sei es nur, dass sie in einer Firma arbeitete, in der auch ein Opfer gearbeitet hatte.
„Gut. Lassen wir es für den Moment dabei. Ich schlage vor, dass jeder sich mit den noch ausstehenden Ermittlungen beschäftigt und wir uns spätestens um 14:00 Uhr hier wiedertreffen. Vielleicht haben wir bis dahin ja irgendwelche Erkenntnisse zur Identität des Opfers oder Hinweise aus der Kriminaltechnik oder der Spurensicherung.“