Kapitel 10

16:00 Uhr

Selten hatte sich Coco auf einer einstündigen Autofahrt so angeregt und sinnvoll unterhalten. Auer war beileibe kein Schwätzer, aber er hatte sie ausgefragt und wollte alles über ihr Studium der Psychologie und ihre Tätigkeit in der Nervenklinik für pathologische Schwerverbrecher wissen. Er hatte zwar auch Interesse an ihren persönlichen Verhältnissen, war aber weder aufdringlich noch besonders indiskret.

Ein interessanter Mann, dachte sie mehr als einmal. Schade, dass er zu alt für mich ist. Der könnte mich sonst tatsächlich interessieren.

Die Zeit verging wie im Flug, wobei sie sich am Anfang noch gewundert hatte, dass diesmal Auer darauf bestand zu fahren. Inzwischen war ihr klar geworden, dass er von vornherein vorgehabt hatte, ihr viele Fragen zu stellen, und das ganze Erzählen und Erklären hätte sie vermutlich viel zu sehr von der Straße abgelenkt. Auer schien die Strecke im Schlaf zu kennen. Als sie sich dem Institut für Rechtsmedizin an der Uni Mainz näherten, das erstaunlicherweise sehr zentral in Mainz am Rande der Altstadt angesiedelt war, stellte Auer die Fragerei ein und erzählte ihr, dass er schon lange mit dem Leiter des Instituts befreundet sei.

Coco hatte ein feines Gespür für Untertöne und konnte oft erstaunlich gut „zwischen den Zeilen“ hören. Ihr fiel auf, dass Auer den Namen seines Freundes Professor Dr. Wolfgang Mangel irgendwie seltsam betonte. Da war etwas, was er ihr verschwieg, aber sie glaubte keine Sekunde, dass es etwas Schlimmes war ... vielleicht ein Spitzname, den er ihr nicht nennen wollte, oder etwas Ähnliches. Sehr dankbar war sie ihm, als er sie warnte, sich nicht anmerken zu lassen, wenn sie angesichts seiner Größe erschrak.

„Warum das denn? Ist der so riesig?“ Mit ihren für eine Frau schon recht beachtlichen 1,75 konnte Coco sich gar nicht vorstellen, wie groß Professor Mangel sein sollte, dass sie sich erschrecken könnte.

Auer lachte kurz und trocken auf. „Falscher Rückschluss, meine Liebe. Größe ist nicht immer gleichbedeutend mit sehr groß. Ich hätte vielleicht zur Sicherheit sagen sollen: angesichts seiner Kleinheit. Aber lass dich überraschen ... nur lass es dir nicht anmerken.“

Nach dieser geheimnisvollen Andeutung war er nicht mehr bereit, mehr Auskunft zu geben, und steuerte zielsicher den Parkplatz an.

Als sie wenige Minuten später das Büro des Institutsleiters betraten, wusste Coco sofort, warum Auer sie vorgewarnt hatte. Beim Öffnen der Tür fiel ihr Blick auf den riesigen Mahagonischreibtisch direkt gegenüber, hinter dem ein Mann von vermutlich Mitte fünfzig mit einem schütteren, grauen Haarkranz und einer altmodischen Hornbrille von der Arbeit aufsah. Sofort erhellten sich seine Gesichtszüge und er sprang von seinem komfortablen Bürodrehstuhl auf ... nein ... Coco musste sich korrigieren: Er sprang hinunter, dann als er hinter seinem Schreibtisch stand, befand sich sein Kopf etwas tiefer als noch Momente zuvor.

Mein Gott, der kann ja höchstens 1,55 sein.

Als der drahtige kleine Mann um den Schreibtisch herumlief, fiel ihr sofort auf, dass er Stiefeletten mit mindestens zehn Zentimeter hohen Absätzen trug, also in Wirklichkeit höchstens 1,45 groß war. Ihr war in diesem Moment nicht klar, ob diese Körpergröße bei einem Mann schon bedeutete, dass er als kleinwüchsig galt, aber letztendlich war das auch egal. Auf jeden Fall hatte der Mann nicht die etwas anderen proportionalen Abweichungen, wie sie es sonst bisweilen in Filmen oder TV-Serien bei manchen kleinwüchsigen Menschen gesehen hatte. Er wirkte völlig normal proportioniert, nur halt wesentlich kleiner als der Durchschnitt.

Strahlend kam der Professor auf sie zu. Aber viel mehr als sein Defizit an Höhe verblüffte sie die tiefe Bassstimme, die so gar nicht zu dem kleinen Mann passen wollte.

„Hallo Ulf, Mensch, das freut mich aber, dass es so schnell geklappt hat, mich mal wieder zu besuchen. Wen hast du mir denn da Schönes mitgebracht?“

Coco musste sich zusammenreißen, um nicht vor lauter Peinlichkeit knallrot im Gesicht zu werden, als Ulf Auer sie mit einer Art Besitzerstolz vorstellte:

„Darf ich bekanntmachen, das ist unsere neue, sehr talentierte und äußerst intelligente Praktikantin, Kommissaranwärterin Coco Crott. Herr Professor Dr. Wolfgang Mangel.“

Ohne zu zögern streckte sie dem Professor ihre Hand entgegen. „Hallo, Herr Professor, es freut mich, ihre Bekanntschaft zu machen. Ulf hat mir schon eine Menge Gutes über Sie erzählt.“

Mangel hatte ihre Hand ergriffen, hielt sie nun in seinen beiden Händen und warf Auer einen kurzen, schelmischen Blick zu. Dann schaute er ihr tief in die Augen, und Coco konnte nicht umhin, zu bemerken, dass sie von einem so tiefdunklen Blau waren, wie sie es selten gesehen hatte. Er lächelte sie an, und ihr blieb einfach nichts anderes übrig, als ihn als sehr nett und freundlich zu empfinden.

Auer fuhr unterdessen ungehindert mit seiner peinlichen Vorstellung fort: „Sie wäre fast so was wie eine Kollegin von dir geworden. Sie hat mehrere Semester Psychologie studiert und dann noch in der forensischen Psychiatrie gearbeitet.“

„Stopp“, unterbrach Mangel ihn und hielt eine Hand abwehrend in die Luft. „Lasst mich raten.“ Er sah ihr noch tiefer in die Augen, legte den Kopf leicht schief, als müsse er überlegen, und sagte dann: „Nette-Gut, nicht wahr?“

Coco war verblüfft. „Woher wissen Sie das?“

Nun war es an Mangel, laut zu lachen. Er ließ ihre Hand los und machte sich auf den Rückweg zu seinem Schreibtisch.

„Ein uralter Trick, meine Liebe. Sie kommen aus Koblenz, das kann ich hören, und was liegt da näher, als dass Sie in der größten psychiatrischen Anstalt gearbeitet haben, die unser schönes Bundesland zu bieten hat? Also tut man so, als wüsste man es, obwohl es nur die wahrscheinlichste Möglichkeit ist. Wenn es nicht gestimmt hätte, tja, dann wär’s halt Pech gewesen, aber so hat es Sie doch beeindruckt, oder? Wirkt fast übersinnlich, was?“

Er lachte wieder laut, und Coco fand diesen Mann faszinierend und sehr sympathisch.

Warum nur müssen die netten und intelligenten Männer immer so alt sein? Warum gibt es denn so was nicht auch in jung und attraktiv?

Mangel hatte sich inzwischen beruhigt und blickte nun doch recht ernst in ihrer beider Richtung.

„Setzt euch, setzt euch. Ich kann mir vorstellen, was euch zu mir treibt. Ich habe auf deinen Hinweis und Wunsch hin die Obduktion selbst durchgeführt, und obwohl noch nicht alle Ergebnisse der Toxikologie vorliegen, gibt es da schon einige interessante Aspekte.“

Ungeachtet dessen, dass er sie gerade erst aufgefordert hatte, sich zu setzen, schnappte er sich einen weißen Kittel, warf ihn sich über die Schulter und eilte zur Tür.

„Na los, kommt mit. Oder habt ihr gedacht, ihr kommt drum rum, dass ich euch die Ergebnisse am ,Corpus Delicti‘ zeige?“

Er lachte wieder herzhaft.

„Immer noch ein wenig scheu im Umgang mit den Toten, was? Oder liegt es vielleicht an einer kleinen Schwäche unserer hochgelobten neuen Kollegin? Haben Sie ein Problem mit dem Tod, junges Fräulein?“

Er sah sie fragend an und wartete auf eine Antwort.

Coco war sich nicht sicher, ob es vernünftig war, aber sie tat das, was ihr Gefühl ihr diktierte: Sie sagte, was ihr gerade in den Sinn kam.

„Ich habe kein Problem mit dem Tod, vor allem wenn es sich um den Tod einer mir unbekannten Person handelt. Aber ich habe keine wirkliche Freude am Umgang mit den Toten, vor allem wenn die Begleitumstände ihres Todes ziemlich gewaltsam waren. Allerdings bin ich fähig, diese Abneigung in den Hintergrund meines Bewusstseins zu verschieben, sodass ich – wenn auch nicht mit großer Begeisterung – in der Lage bin, mir selbst unappetitliche Tote anzusehen. War es das, was Sie wissen wollten?“

Sowohl Mangel als auch Auer waren stehen geblieben und starrten sie jetzt mit offenem Mund an.

Oh Gott, hoffentlich bin ich jetzt nicht zu weit gegangen. Ich sollte lernen, mein loses Mundwerk zu halten. Warum muss ich immer sagen, was ich denke?

Es war Mangel, der zuerst seine Fassung wiederfand. Erst schüttelte er ungläubig den Kopf, dann sah er Auer an.

„Wo hast du die denn her? Das hab ich ja noch nie erlebt.“

Auer zuckte wie um Entschuldigung bittend mit den Schultern und sah dann zu Coco, die es plötzlich mit der Angst zu tun bekam.

„Entschuldigung, Herr Professor, ich wollte nicht ... das muss sehr anmaßend geklungen haben ... ich meine, es steht mir sicherlich nicht zu, so vorlaut ... also ...“

„Schätzchen, Schätzchen, nein, nein, nein. Das war Klasse. Ich meine, die wenigsten hätten die Courage, meiner doch ziemlich angriffslustigen Bemerkung so couragiert entgegenzutreten. Hut ab, meine Liebe, Test mit Auszeichnung bestanden.“

Er drehte sich um und ließ Coco einfach stehen. Sie beeilte sich, ihm und Auer hinterherzukommen.

Zehn Minuten später lehnte sie über der inzwischen gesäuberten Leiche von Arne Beisicht. Es geschah sicherlich nicht oft, dass man eine Leiche als wesentlich ansehn­licher bezeichnen konnte, als die Person vor ihrem Tod ausgesehen hatte. Mangel hatte sie gebeten, sich den oberen Bereich der Leiche genauer anzusehen. Ihr ging noch einmal die Unterhaltung von vor wenigen Minuten durch den Kopf, als der Professor ihnen die Ergebnisse seiner bisherigen Untersuchung präsentiert hatte. Er hatte sie und Auer zuerst gefragt, was ihnen am Tatort Besonderes aufgefallen war. Auer hatte ihn auf den bereits im Team erwähnten Umstand hingewiesen, dass das Opfer ausgeblutet war, wie man an dem zwar größtenteils im Boden versickerten, aber dennoch noch ausreichend zu erkennenden Blut hatte sehen können.

„Sehr gut“, hatte Mangel angemerkt, „genau darauf will ich hinaus. Ich habe inzwischen bereits den Mageninhalt unseres Opfers analysieren lassen und dort eine nicht unerhebliche Menge von bestem schottischen Scotch und ein Barbiturat namens Thiopental entdeckt. Da wir auch Spuren davon im restlichen Blut im Körper gefunden haben, gehe ich mal davon aus, dass das Opfer Scotch getrunken hat und mit diesem Narkosemittel schlafen gelegt worden ist. Habt ihr am Tatort eine Flasche gefunden?“

Auer, der sich eifrig Notizen gemacht hatte, war einen Moment lang verwirrt gewesen, hatte dann aber schnell wieder zu sich gefunden. „Nein, meines Wissens nicht. Kannst du die Marke des Scotchs feststellen? Woher weißt du denn überhaupt, dass es Scotch war, es könnte doch auch Bourbon oder irgendein anderer Whisky gewesen sein?“

„Die zweite Frage zuerst: Natürlich erkenne ich bereits am Geruch, ob es sich um einen guten Scotch oder Bourbon handelt.“ Er hatte kurz in sich hineingelacht, bevor er eröffnet hatte: „Am Geschmack hätte ich dir wahrscheinlich sogar sagen können, welcher Scotch es war, aber aus nachvollziehbaren Gründen würde ich gerne auf eine Geschmacksprobe des nun leider mit allem Möglichen vermischten Whiskys verzichten. Zum ersten Teil der Frage kann ich sagen, dass wir aufgrund der chemischen Zusammensetzung im Labor sehr wohl bestimmen können, welcher Whisky es war. Kann ein bisschen dauern, vielleicht müssen wir sogar noch Vergleichsproben kaufen, wenn es keine der großen bekannten Marken war, aber das kriegen wir schon hin.“

„Wie sieht es mit dem Thiopental aus?“, hatte Coco nachgefragt. „Ist das so einfach erhältlich oder können wir aus der Verwendung gerade dieses Barbiturates irgendwelche Schlüsse auf die Identität des Täters ableiten?“

„Sehr gute Frage, denn das ist es nämlich eben nicht. Das Mittel ist ein schnell wirkendes Schlaf- beziehungsweise Betäubungsmittel und wird überwiegend in der klinischen Behandlung eingesetzt. Abhängig von der Dosierung kann es sogar – wie leider seit 2009 in den USA – als Tötungsspritze für Hinrichtungen genutzt werden.“

„Also müssen wir davon ausgehen, dass der Täter im Umfeld einer Klinik, eines Krankenhauses oder einer Arztpraxis zu suchen ist?“

„Nein, so kann man das leider nicht sagen. Das Mittel ist auch auf Rezept erhältlich. Ich werde noch die entsprechenden Analysen in Auftrag geben, welches Produkt genau hier verwendet wurde, dann kann ich euch eventuell einen Ansatz für weitere Nachforschungen geben.“

Coco war überrascht gewesen, dass Auer sich so völlig aus der Konversation rausgehalten hatte, aber vielleicht sollte das ja ein weiterer Test sein. Egal, Hauptsache, sie konnte weiterfragen.

„Können wir denn davon ausgehen, dass dieses Barbiturat mit dem Whisky vermischt war und so dem Opfer zugeführt wurde?“

„Ja, davon gehe ich eigentlich aus. Rein theoretisch wäre es natürlich auch möglich, dass der Täter das Opfer erst betrunken gemacht hat und ihm dann das Mittel gespritzt hat. Aus nachvollziehbaren Gründen würde ich eine Einstichstelle nur sehr schwer finden können.“ Mangel wies mit der Hand auf die Leiche, bei der trotz der Reinigung und der inzwischen wieder zugenähten Schnittwunden zu sehen war, dass die Bauchdecke durch die vielen waagerechten und den langen senkrechten Schnitt völlig verunstaltet war.

Dann hatte Mangel sie gebeten, sich doch bitte die Halsgegend des Opfers genauer anzusehen und ihm zu berichten, was sie dort sähe.

Genau das tat Coco nun gerade. Es fiel ihr schwer, den Blick auf etwas anderes zu konzentrieren als die abgeschnittene Nase und Ohren. An der linken Halsseite fiel ihr ein hauchdünner langer Schnitt auf, der quer über die Halsseite lief. Die Tiefe des Schnittes war nicht zu bewerten, dazu hätte sie die Wunde auseinanderziehen müssen, und so weit wollte sie nun wirklich nicht gehen.

„Hier ist eine auffällige, recht lange Schnittwunde. Ich kann aber nicht sagen, wie tief sie ist und was sie für eine Auswirkung hatte.“

Mangel klatschte in die Hände und sah sie ein wenig bewundernd an. „Sehr gut, junges Fräulein, sehr gut. Es ist genau diese Wunde, die uns ein paar Dinge über unseren Täter oder die Täterin sagen kann. Erstens: Da ich davon ausgehe, dass das Opfer auf dem Boden und auf dem Rücken gelegen hat und der Täter über ihm stand, kann ich aus der Lage des Schnittes schließen, dass er oder sie rechtshändig veranlagt ist. Der Schnitt wurde mit einem chirurgischen Instrument, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit einem Skalpell, gemacht, allerdings ist der Täter oder die Täterin mit recht hoher Wahrscheinlichkeit kein Arzt.“

Bevor sie oder Auer eine Zwischenfrage stellen konnten, fuhr er eilig fort: „Das meine ich deshalb, weil der Schnitt unnötig tief und lang ist, und er hat sowohl die ,Vena jugularis externa‘, die sogenannte äußere Drosselvene, als auch die ,Arteria carotis externa‘, also die äußere Halsschlagader, durchtrennt. Völlig unnötig und völlig überzogen. Wer da auch immer geschnitten hat, wusste zwar ungefähr, wo die entsprechenden Adern liegen, aber kein medizinisch gebildeter Mensch hätte so dilettantisch herumgesäbelt. Der Zweck des Schnittes wurde allerdings auf jeden Fall erreicht, das Opfer ist relativ schnell ausgeblutet. Es ist fast wie ein einseitiges Schächten, dürfte aber keinen religiösen Hintergrund haben, denn beim Schächten ist ein vorheriges Betäuben untersagt.“

„Ist bei dem Ausbluten des Opfers von vorgestern die gleiche Methode verwendet worden?“

Mangel blickte sie wieder bewundernd an.

„Die gleiche Frage habe ich mir auch gestellt und habe mir die Stelle, an der der Kopf der Frau vom Rumpf getrennt wurde, noch mal genauer angesehen. Durch die Abtrennung wurden zwar die meisten Spuren beseitigt, aber bei einer genaueren Begutachtung habe ich an dem Halsteil des Kopfes noch einen ganz kurzen Teil des Schnittes gefunden, und ja, ich behaupte, die Methode des Ausblutens ist dort genauso angewendet worden. Ob es wirklich derselbe Täter war, kann ich deshalb aber noch nicht sagen. Was sagt Ihnen das über die Psyche des Täters?“

Erwartungsvoll blickte er in ihre Richtung und wartete geduldig, bis sie sich die erforderlichen Gedanken gemacht hatte.

„Ich möchte nicht vorschnell urteilen, es gibt sicherlich eine ganze Reihe von möglichen Erklärungen für diese Vorgehensweise. Als Arbeitshypothese würde ich mal die mir am wahrscheinlichsten erscheinende Theorie nennen.“

„Und die wäre?“, schaltete sich erst mal wieder Auer in die Unterhaltung ein. Er wirkte sehr interessiert, und Coco wusste nicht, ob sie ihre Theorie zum Besten geben sollte. Aber sie rang sich durch und stellte ihre Meinung dar:

„Beide Opfer waren betäubt und sind zuerst ausgeblutet worden, bevor sie auf unterschiedliche Weise verstümmelt wurden. Ich gehe als erste Prämisse mal davon aus, dass der Täter sich nicht an den Schmerzen oder Qualen seiner Opfer weidet. Es dürfte sich also um keinen Sadisten oder eine Sadistin handeln. Den Sinn des Ausblutens als tatsächliche Todesursache kann ich nur darin sehen, dass er die Schweinerei beim Verstümmeln so gering wie möglich halten will. Der große Schwachpunkt meiner Theorie ist, dass mir nichts einfallen will, warum er sie dann überhaupt tötet und verstümmelt. Liegt es an einer Eigenschaft, die die Opfer gemeinsam haben? Ich habe keine Ahnung.“

„Ich schon“, meldete Auer sich zu Wort, und er klang sehr bedrückt.

Mangel blickte mehrmals zwischen Coco und Auer hin und her. „Da bin ich nun aber auch mal gespannt.“

Auer hatte die Spitzen der gespreizten Finger beider Hände aufeinandergelegt, die beiden Zeigefinger an der Lippe, die Daumen auf den offenen Hemdkragen zeigend, und überlegte. Coco hatte den Eindruck, dass dies eine Geste war, die er immer dann zeigte, wenn er angestrengt nachdachte. Bevor sie fragen konnte, worüber er nachdachte, setzte er bedächtig zum Reden an.

„Ich denke weniger darüber nach, ob meine Theorie stimmt, als darüber, ob ich sie schon verlauten lassen soll. Ich bin mir fast sicher, dass sie zutrifft, aber ich möchte niemanden in seinem Denken beeinflussen. Gebt mir noch einen Moment Zeit.“

Coco und Mangel warteten geduldig, bis Auer nach 60 Sekunden wieder zu sprechen begann: „Die Opfer sind dem Täter egal, er weidet sich auch nicht an ihrem Tod oder gar ihrem Leiden. Im Gegenteil, er mag die Opfer anscheinend nicht leiden sehen. Genauso wenig mag er viel Blut, wenn er seine grausam erscheinenden Verstümmelungen vornimmt.“

Coco wollte aufbegehren, aber er hob abwehrend die Hand und fuhr fort.

„Ich sage ganz bewusst ,grausam erscheinenden‘, denn natürlich sind die Verstümmelungen für uns grausam, aber der Täter ist nicht grausam. Die Verstümmelungen sind ausschließlich dazu gedacht, uns aufzuwühlen, aufzuregen, zu verunsichern, aber auch anzuspornen oder anzutreiben. Vielleicht auch, uns in Rage zu bringen, damit uns die notwendige Coolness und Distanz fehlen, die man zur Klärung eines solchen Falles braucht.“

Coco hielt es nicht mehr aus.

„Aber warum macht er es denn dann überhaupt?“, stieß sie fast verzweifelt hervor. Ihr war gerade gar nichts mehr klar.

„Oh, ich dachte, das hätten Sie inzwischen verstanden, junges Fräulein“, mischte Mangel sich wieder ein. „Es handelt sich bei ihm um einen überheblichen Egomanen, der sich selbst für den Nabel der Welt und vor allem den klügsten Menschen auf Erden hält. Er will mit Ihnen spielen, Ihnen vor Augen führen, dass Sie ihm nicht gewachsen sind und er tun kann, was immer er will, ohne jemals die Konsequenzen dafür tragen zu müssen. Meiner Einschätzung nach, wenn ich Ulfs Ausführungen folge, das Paradebeispiel eines Soziopathen, habe ich recht, Ulf?“

Der nickte nur wortlos und blieb wieder ganz in seine Gedanken versunken.

Coco war sprachlos. Sie kramte in ihren Gedanken nach dem Wissen, das sie noch aus dem Psychologiestudium über Psychopathen und Soziopathen finden konnte ... und auf einmal fielen alle Puzzlesteine an die richtige Stelle.

„Natürlich, ihr habt beide recht. Wieso bin ich da nicht von selbst drauf gekommen? Das muss es einfach sein. Anders machen die ganzen Spuren keinerlei Sinn. Das Ganze ist ein großes Spiel für diesen kranken Spinner. Und wir sollen wie Idioten dastehen. Entweder dadurch, dass wir die Zusammenhänge erst gar nicht begreifen, oder wenigstens dadurch, dass wir ihn nicht finden und aufhalten können.“

Sie sah bewundernd zu Ulf.

„Kann es sein, dass du ein paar Semester Psychologie mehr studiert hast als ich?“

Ulf Auer wand sich unter Cocos Blick, als sei ihm das versteckte Lob peinlich, und erneut hatte Coco das Gefühl, als könne er ihr zu diesem Thema wesentlich mehr erzählen, als er es nun bereit war zu tun.

„Ach was, das ist nur die jahrelange Berufserfahrung eines alten Mordermittlers, sonst nichts.“

Er wischte alle weiteren Anmerkungen zu diesem Thema mit einer Handbewegung vom Tisch. Er sprach nun Professor Mangel an.

„Wolfgang, du weißt jetzt, worum es geht, und ich wäre dir dankbar, wenn du auch die vorgestrige Leiche noch mal unter diesem Aspekt untersuchst, was wir vielleicht aus den Opfern noch über unseren Täter erfahren können. Wir werden jetzt so schnell wie möglich nach Koblenz zurückfahren und versuchen, eine neue Strategie zu finden.“