Kapitel 12

09:00 Uhr

Vermutlich ist Harry aufgrund seines Alters der Einzige, der sich noch an den Fall von damals erinnert. Soll ich es den anderen erzählen, bevor es ihm vielleicht einfällt? Wie stehe ich da, wenn ich im Nachhinein zugeben muss, dass ich es zurückgehalten habe? Selbst wenn es nur war, um nicht alle zu demotivieren. Sie werden glauben, ich hielte sie für unfähig.

Die Gedanken hatten Ulf Auer auf dem gesamten gestrigen Rückweg von Mainz zum Präsidium gequält, und es war ihm in diesem Moment egal gewesen, wie Coco seine Schweigsamkeit auslegen würde. Umso mehr hatte es ihn überrascht, als sie ihn kurz vor Koblenz ansprach.

„Du überlegst, ob du mir oder vielleicht auch uns allen etwas sagen sollst. Ich weiß nicht, ob es eine peinliche Sache ist oder ob es einen anderen Grund dafür gibt, aber du kämpfst mit dir um eine Entscheidung, stimmt’s?“

Auer wusste einen Moment nicht, wie er reagieren sollte, aber schließlich hatte er sich zu einer Entscheidung durchgerungen.

„Ich muss mir überlegen, ob ich noch weiterhin mit dir zusammen auf Ermittlungen gehe.“

Er hatte gesehen, wie Coco erschrak und fast nicht mehr auf die Autobahn achtete, die sie mit 130 entlang­raste.

„Nein, nein, keine Angst, so hab ich das nicht gemeint. Eigentlich hatte ich vor, dir was beizubringen, meine Erfahrungen als Ermittler an die Jugend weiterzugeben, dich vielleicht für die Arbeit bei der Mordkommission zu begeistern ... und nun ... na ja, du liest in mir wie in einem offenen Buch, und ich muss feststellen, dass du dich besser in die Situation einfühlst, als es die meisten älteren und erfahreneren Kollegen schaffen. Steht mir mein Grübeln so deutlich auf die Stirn geschrieben? Ach was, egal, du hast absolut recht, und am liebsten würde ich dir sofort erzählen, was mich beschäftigt. Das hättest du dir eigentlich verdient. Sei so gut und gedulde dich noch ein wenig, bis ich noch einmal darüber geschlafen habe und ich die anderen in einem Aufwasch gleich morgen früh mit informieren kann. Also bitte nur noch ein wenig Geduld, dann erfährst du alles.“

Er hatte den Eindruck gehabt, als hätte Coco im gleichen Augenblick, als er sie um ein wenig Geduld gebeten hatte, mit dem Fuß das Gaspedal beherzt weiter durchgetreten, und hatte nun amüsiert festgestellt, dass der Wagen nun mit 160 auf einer Strecke fuhr, auf der lediglich 120 erlaubt waren. Die Ungeduld der Jugend, hatte er ein wenig wehmütig gedacht, aber er hatte absolutes Verständnis für gerade diesen Wesenszug. Neugierde war die wichtigste Triebfeder in ihrem Beruf. Wenn man nicht mehr neugierig oder einem alles ziemlich egal war, sollte man sich besser eine andere Tätigkeit suchen.

Sie wird mal eine klasse Ermittlerin, da bin ich mir sicher. Hoffentlich steht sie das durch. All das Elend und Leid, der Kampf gegen Vorgesetzte, die unvermeidlichen Rückschläge und vor allem die ewigen Vorwürfe, warum man dies oder jenes nicht hat verhindern können.

***

„Ich erinnere mich an den Fall! Na klar, das war ... Moment, ich komm gleich drauf ... 1998, oder?“

„1999, genauer gesagt“, korrigierte Auer den aufgeregten Harry, der sich als Einziger an die damaligen Vorfälle erinnerte, auch wenn es nur die Presseberichte und die Flurinformationen im Präsidium gewesen waren, die er mitbekommen hatte. Damals war Auer der Frischling in der Mordkommission gewesen und Harry noch bei der Sitte.

„Okay, Leute, ich will versuchen, euch so leidenschaftslos, wie ich es schaffe, die damaligen Vorfälle zu schildern, an die mich unser jetziger Fall erinnert.“

Er machte eine inhaltsschwere, dramatische Pause, seufzte noch einmal und gab sich dann einen Ruck.

„Ich will nicht in die Details gehen, die auch zum Großteil von unserer heutigen Vorgehensweise abweichen. Wir werden die Akten von damals anfordern, und jeder wird die Gelegenheit haben, sich da einzulesen, wobei ich nicht sicher bin, ob uns das weiterhilft. Damals handelte es sich um die Morde an zunächst drei Zu­hältern. Es gab viele Hypothesen wie Bandenkrieg, Rache für eine abspenstig gemachte Prostituierte, aber nichts führte weiter. Dann fing die Presse an, den Täter zu glorifizieren und die Polizei als unfähig zu bezeichnen. ,Der Aufräumer‘, so wurde er in der Boulevardpresse genannt, und es gab Stimmen, die es guthießen, dass endlich mal jemand im organisierten Verbrechen aufräumte. Die Polizei wurde immer mehr verhöhnt. Das schien dem Täter so zu gefallen, dass es in der Folge noch einige Morde mehr gab, allerdings nun nicht mehr nur an Zuhältern. Als Nächstes waren drei Vergewaltiger an der Reihe und danach zwei gewalttätige Ehemänner, die ihre Ehefrauen halbtot geschlagen hatten. Die Pressestimmen, die den ,Aufräumer‘ zu Beginn noch gelobt hatten, wurden leiser, aber der Hohn über die unfähige Polizei immer lauter. Irgendwann kamen die ersten Kommentare, die die Intelligenz des Täters mit der der Ermittler verglichen. Es entstand dieser unsägliche Wettstreit unter dem Tenor: Wer ist intelligenter? Polizei oder Täter? Aufmacher wie 8:0 für den Aufräumer! Ist die Polizei am Ende? waren keine Seltenheit, und das Ganze bekam immer mehr den Anstrich eines Wettstreits. Ich sehe darin eine Ursache, dass der Täter immer wahlloser in der Auswahl seiner Opfer wurde. Nach zwei Jahren und insgesamt 14 Opfern, darunter auch Kleinkriminelle, denen grundsätzlich niemand den Tod gewünscht hätte, war es lediglich ein Zufall, dass diese unselige Mordserie beendet wurde. Leider war es nicht die Polizei, sondern ein brutaler Kinderschänder, der dem Mörder das Genick gebrochen hat, als dessen Waffe eine Ladehemmung hatte. Und wenn ich sage, ,das Genick gebrochen‘, dann meine ich es nicht metaphorisch, sondern im reinsten Sinne des Wortes. Erst hinterher, bei der Durchsuchung seiner Wohnung, haben wir festgestellt, dass es sich um den ,Aufräumer‘ gehandelt hatte, als wir seine Aufzeichnungen, die ausgeschnittenen Presseberichte und sein unsägliches Tagebuch fanden. Ich will nicht den ganzen Unsinn wiedergeben, der darin aufgeschrieben war, nur so viel: Zum Schluss hatte der Typ Allmachtsfantasien, in denen es nur noch darum ging, dass er der Polizei so haushoch überlegen sei, dass er eigentlich alles tun könne und trotzdem auch auf Dauer ungestraft davonkäme.“

Auer machte eine Pause und trank einen großen Schluck seines inzwischen fast kalten Kaffees. Dann blickte er in die Runde und stellte fest, dass noch immer alle Anwesenden ihn erwartungsvoll anblickten und darauf warteten, dass er fortfuhr. Aber was sollte er noch großartig sagen? Ihm fiel nichts Zweckdienliches mehr ein.

„Insgesamt kein Ruhmesblatt in der Geschichte der Koblenzer Polizei, aber so ist es halt manchmal. Inzwischen denkt glücklicherweise kaum noch jemand an dieses Fiasko. Ich hoffe, die Presse greift den alten Fall nicht noch mal auf. Aber jetzt sollten wir uns auf das Hier und Heute konzentrieren und mal überlegen, was wir tun können oder tun müssen. Hat jemand Vorschläge für die weitere Vorgehensweise?“

Er lehnte sich zurück und versuchte, die Anspannung von sich abzuschütteln. Jetzt sollten die anderen sich mal Gedanken machen und ein paar Vorschläge zum Besten geben, die sie vielleicht weiterbrachten.

Er hatte den Eindruck, dass Coco zwar etwas sagen wollte, sich aber offensichtlich schweren Herzens zurückhielt, um den älteren und erfahreneren Kollegen den Vortritt zu lassen.

Obwohl Harry den alten Fall zumindest vom Hörensagen kannte, war er offensichtlich zu geplättet, um sich konstruktive Ideen machen zu können. Es war wieder einmal Duben, der als Erster das Wort ergriff und einen konstruktiven Beitrag leistete.

„Wenn es stimmt, was du vermutest, dann müssen wir nicht weiter nach einem Muster suchen, nach dem der Täter seine Opfer aussucht – eher im Gegenteil.“

„Wie meinst du das?“

„Wenn er uns zeigen will, wie intelligent er ist, und uns verarschen möchte, dann weisen die Opfer ganz bewusst keine Ähnlichkeiten auf, siehe die bisherige Auswahl: junge, erfolgreiche Frau, alter heruntergekommener Mann. Es stellt sich die Frage, was kommt als Nächstes? Alte Frau? Junger Mann? Welche soziale Schicht? Ich habe keine Ahnung. Die einzige Chance, etwas über den Täter herauszufinden, ist, wenn wir herausfinden, wie er die Opfer ausgewählt hat ... und genau da sehe ich das große Problem. Wie sollen wir da bei so unterschiedlichen Opfern weiterkommen? Ehrlich gesagt, ich bin ziemlich ratlos.“

Harry und Fisch machten keine Anstalten, etwas zu dem Thema zu äußern, sondern blickten nur ratlos in Auers Richtung. Erst als der in Cocos Richtung sah, erkannte er, dass sie darauf brannte, ihre Meinung zu sagen. Er nickte ihr aufmunternd zu, und es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis sie lossprudelte.

„Ich sehe das ganz anders. Genau darin liegt unsere Chance. Es dürfte nicht viele Punkte geben, wo sich die Lebenslinien unserer beiden Opfer gekreuzt haben. Und selbst wenn es gar keine Punkte gibt – wenn wir ihre Aktivitäten und Orte, an denen sie waren, aufzeichnen und kartografieren, dann werden wir irgendwann an einen Punkt kommen, an dem wir einen Verdächtigen haben, der übereinstimmende Kreuzungen mit beiden Lebenswegen zeigt. Das kann uns sicherlich weiterhelfen.“

Auer war der gleichen Meinung. Es ärgerte ihn, dass sowohl Harry als auch Fisch diese Ansicht offensichtlich nicht teilten, denn ihre skeptischen Mienen zeigten, was sie von dieser Idee hielten. Lediglich Duben überlegte kurz und nickte dann zustimmend.

„Das ist ein sehr interessanter Ansatz. Wenn ich es recht sehe, dann kann ich mich dem nur anschließen. Was heißt das nun? Ich denke, wir müssen versuchen, noch mehr über Beate Furchs Leben herauszufinden und wo sie sich überall bewegt hat, und gleichzeitig die Bewegungen des Obdachlosen nachvollziehen. Wer hat ihn wann und wo gesehen? Mit wem hat er gesprochen? Ist jemandem eine Person aufgefallen, die Kontakt zu ihm aufgenommen hat? Wenn wir diese beiden Ansätze verfolgen, haben wir für die nächsten Tage bestimmt genug zu tun. Wie siehst du das, Ulf?“

Auer hatte dem nichts hinzuzufügen.