Kapitel 13

14:00 Uhr

„Und? Was haben Sie bisher vorzuweisen? Nichts, wenn ich das richtig sehe, Sie Null.“

Wasgau hatte sich aufgeplustert und stand mit verschränkten Armen vor Ulf Auer. Es war Coco mehr als nur ein bisschen peinlich, gezwungenermaßen Zeugin dieser öffentlichen Demontage zu werden. Sie wusste, dass Auer sich nichts vorzuwerfen hatte, und sie fand, dass dieses pompöse Arschloch Wasgau gerade maßlos übertrieb. Zumal sie es als absolut unpassend empfand, einem Chef einer Einheit vor seinen Leuten eine Standpauke zu halten. Selbst wenn sie gerechtfertigt wäre ... was sie in diesem Fall nicht war.

Cocos Blick wanderte zu den anderen Kollegen, und sie konnte unterschiedliche Reaktionen feststellen. Harry wirkte belustigt, Klaus Saibling machte einen peinlich berührten Eindruck, und Duben war kurz davor, zu explodieren und in das Geschehen einzugreifen.

„Wie kommen Sie auf den Schwachsinn“, fuhr Wasgau empört fort, „dass die zwei Morde etwas miteinander zu tun haben? Haben Sie stichhaltige Beweise oder wenigstens vernünftige Anhaltspunkte, die das belegen?“

Mit ruhiger Stimme schilderte Auer, was die Obduktionen ergeben hatten, welche Meinung der Rechtsmediziner vertrat, wo die Parallelen lagen und was möglicherweise dahinterstecken könnte. Wasgau hörte ihn kopfschüttelnd zu Ende an, ließ sich aber deutlich erkennbar nicht von den Argumenten überzeugen. Coco war erstaunt, welche Ruhe und Sachlichkeit Auer bewahren konnte. Sie glaubte nicht, dass sie selbst angesichts solcher Vorwürfe so ruhig hätte bleiben können.

„Aber wenn Sie mir nicht glauben, Kollege Wasgau, dann bin ich eigentlich ganz froh darüber, denn dann haben wir ja nicht zu befürchten, dass Sie wieder vorschnell die Presse informieren, was im Moment nur schädlich sein könnte. So können wir den Täter in dem Glauben lassen, dass wir noch weit davon entfernt sind, seine möglichen Hintergründe zu erfassen.“

„Bullshit! Das ist alles aus der Luft gegriffen und nicht mehr als Wunschdenken Ihrerseits. Ich werde mit dem Polizeipräsidenten reden, damit er Ihrer Kasperle-Truppe den Fall abnimmt.“

„Das können Sie gerne tun. In der Zwischenzeit werde ich mal mit der Oberstaatsanwältin reden, wie sie die Sache sieht.“

Sowohl Auers selbstbewusstes Grinsen als auch Wasgaus Zusammenzucken entgingen Coco nicht. Der seltsame, misstrauische und dann ärgerliche Blick von Wasgau ließ sie vermuten, dass hinter der Bemerkung mehr steckte, als man auf den ersten Blick vermuten konnte. Irgendetwas ging da vor, von dem sie noch keine Ahnung hatte.

„Sie machen mich wahnsinnig, Auer. Irgendwann werde ich Ihretwegen einen Herzinfarkt haben.“

„Oh“, meinte Auer trocken und mit ernster Miene, „das wäre aber schade. Sie würden eine Lücke hinterlassen, die Sie vollständig ersetzen wird.“

Es dauerte wesentlich länger, als Coco es für möglich gehalten hätte, bis Wasgau langsam dämmerte, was Auer da gerade gesagt hatte. Er setzte zu einer Entgegnung an, schloss den Mund aber wieder und drehte sich wortlos um. Mit bebenden Schultern und geballten Fäusten verließ er den Raum.

Das Einzige, was ihm folgte, war das schallende Gelächter des gesamten Teams der Mordkommission.

***

„Okay, wo stehen wir?“

Sie saßen inzwischen wieder alle an dem kleinen Besprechungstisch, und jeder hatte einen Pott Kaffee vor sich oder in Händen. Coco lauschte aufmerksam den Berichten der Kollegen.

Fisch hatte sich überwiegend um die büromäßige Bearbeitung und Auswertung von Beate Furchs Computer und aller in ihrer Wohnung sichergestellten Unterlagen gekümmert.

Harry hatte es widerstrebend übernommen, die Obdachlosenbefragungen durchzuführen, und dazu die möglichen Aufenthaltsorte, Unterkünfte und Essensstellen aufgesucht.

Duben hatte sich mit den Ermittlungen beschäftigt, die sich aus den Auswertungen von Fisch ergeben hatten. So waren alle beschäftigt gewesen, während sie mit Auer in Mainz gewesen war. Allerdings waren die Ergebnisse noch immer mehr als dürftig.

Die Befragung verschiedener Obdachloser hatte ergeben, dass der ermordete Arne Beisicht, den die meisten seiner Leidensgenossen nur unter dem Namen „Brücken-Arne“ gekannt hatten, in letzter Zeit mehrfach mit einem unbekannten Mann gesehen worden war. Die Beschreibungen differierten so stark hinsichtlich Alter, Größe, Aussehen oder Bekleidung, dass sie zu keiner weiteren Maßnahme taugten. Lediglich in einem Punkt herrschte Übereinstimmung: Mehrere seiner Kollegen hatten beobachtet, dass der Unbekannte dem „Brücken-Arne“ Fusel zugesteckt hatte. In wenigen Ausnahmefällen hatte der auch mal andere an seinem Glück teilhaben lassen ... allerdings nie etwas über seinen neuen Freund erzählt, um seine anscheinend unerschöpfliche Quelle für neuen Sprit nicht preiszugeben.

Der andere Ermittlungsansatz war die Nachverfolgung der privaten und beruflichen Wege der Beate Furch. Coco war erstaunt, was Fisch alles aus den Unterlagen aus ihrer Wohnung hatte herauslesen können. Eine schier unglaublich aussagekräftige Quelle war die Mülltonne mit dem Müll von wenigen Tagen gewesen. Einkaufszettel, Kaufquittungen, Notizen, Werbe- und Informationsschreiben verschiedener Firmen, Verpackungen und vieles mehr. So hatte er in Erfahrung bringen können, dass Beate Furch in einem Fitnessstudio im Schängel-Center in der Innenstadt von Koblenz Mitglied war, regelmäßig die Stadtbibliothek im Forum Confluentes besucht hatte und auch, wo sie üblicherweise ihr Einkäufe erledigte. Nun galt es, irgendeine Gemeinsamkeit zu finden, wie der Täter auf ausgerechnet die erfolgreiche junge Frau und den alten Obdachlosen gestoßen sein konnte. Hatten sich deren Lebenswege irgendwo gekreuzt? Hatten sie etwas gemeinsam? Oder war alles nur ein riesiger Zufall?

Die Ermittlungen im Fitnessstudio und in der Stadtbibliothek standen noch aus, bei den ersten Befragungen in den beiden Supermärkten, die Beate Furch des Öfteren besucht hatte, war allerdings ein interessanter Aspekt aufgetaucht: Zumindest der eine der beiden Märkte war auch ein beliebter Anlaufpunkt für Obdachlose, die sich dort von geschnorrtem Geld billigen Alkohol kauften.

War der Täter dort auf die beiden Opfer gestoßen? Das war eine der Fragen, die sich derzeit noch nicht beantworten ließen.

Coco kämpfte mit sich, ob sie ihre Bedenken äußern oder doch lieber den Mund halten sollte.

Steht es mir an, als absoluter Neuling eine andere Meinung zu vertreten? Blödsinn, was für eine bescheuerte Frage. Natürlich darf ich eine andere Meinung haben, aber ist es klug, sie auch hier vor allen zu äußern? Andererseits ... sie hatte nichts zu verlieren, könnte sich höchstens unbeliebt machen oder als Besserwisserin dastehen. Irgendwie hatte sie aber den Eindruck, dass Auer von ihr erwartete, dass sie ehrlich ihre Meinung sagte. Also nahm sie sich ein Herz und zeigte auf.

Die Quittung kam prompt.

„Wir sind hier nicht in der Hauptschule, Coco“, meinte Auer mit zusammengekniffenen Augenbrauen. „Wenn du was zu sagen hast, sprich einfach, solange du keinem ins Wort fällst.“

Coco räusperte sich. „Äh ... ja, danke ... also ... ich weiß nicht, wie ich das sagen soll ...“

„Komm zur Sache, Mädchen, wir haben nicht ewig Zeit. So schlimm kann’s ja nicht sein, oder? Willst du frei haben oder hast du einen eiligen Termin?“

Harry hörte sich an, als sei ihm ihre Wortmeldung lästig, und Coco merkte, wie sich ihr Widerspruchsgeist regte. Das hatte allerdings auch den Effekt, dass es ihr leichter fiel, ihre kontroverse Meinung kundzutun.

„Nein, ich will nicht frei! Ich habe eine Idee, genauer gesagt, eine Sichtweise auf den Fall, die ich bisher noch von niemandem gehört habe, aber die man vielleicht nicht unbedacht lassen sollte.“

Ihre Stimme war immer fester geworden, und sie sah, dass zumindest Auer und Duben sie erwartungsvoll und interessiert ansahen.

„Also ... kann es denn nicht auch sein, obwohl ich die bisherige These, dass der Täter die Polizei verarschen und bloßstellen will und genau deshalb so unterschiedliche Opfer auswählt, als eine Möglichkeit voll unterstütze, dass es noch eine alternative Motivation geben könnte?“

„Und welche?“, fragte Duben sofort, wobei er nicht erbost, sondern echt interessiert wirkte. „Heraus damit, wir hören gerne eine zweite oder dritte Meinung. Kann nie schaden.“

„Nun ... kann es nicht sein, dass alle Morde ... und ich gehe davon aus, dass noch weitere folgen sollen ... dazu dienen sollen, die eine Beziehungstat zu verschleiern, die wir dann nicht als solche sehen? Ich meine ...“

„Moment, Moment“, fiel Auer ihr ins Wort, „lass mich nachdenken, ob ich richtig verstehe, was du da andeutest.“

Er schien angestrengt zu überlegen und kaute dabei gedankenverloren auf seiner Unterlippe. Schließlich weiteten sich seine Augen, und er sah Coco überrascht an.

„Du hast absolut recht, wieso ist keiner von uns bisher auf diese Idee gekommen?“

Er schaute in die Runde und sah nacheinander alle anderen an. „Schaut nicht so blöd, ist doch wahr, oder? Was ist, wenn jemand eine Beziehungstat begehen wollte, bei der er sofort zum Kreis der Verdächtigen zählt, weil er der Erbenkel oder sonst irgendein Begünstigter ist? Um von seiner Person abzulenken, muss die Tat nur wie der x-te Mord eines irren Serienkillers aussehen, und niemand verdächtigt ihn. Ist das so abwegig?“

Duben, Harry und Fisch stöhnten hörbar auf, als ihnen klar wurde, was das bedeutete. Es war Gerd Duben, der es schließlich als Erster in Worte fasste: „Du hast leider recht, oder besser gesagt, Coco hat recht. Aber das bedeutet, dass wir zur Sicherheit in jedem Fall mehrgleisig ermitteln müssen und bei allen Opfern den Blickwinkel zur Beziehungstat nicht vernachlässigen dürfen.“ Er schüttelte den Kopf. „Was für ein perfides Schwein wäre das denn, das nur um den Mord an der Erbtante zu verdecken, noch wahllos Leute umbringt? Ich fass es nicht!“

Die lautstarke Unmutsäußerung wurde von dem heftigen Abstellen seiner Kaffeetasse begleitet ... mit dem Erfolg, dass sich hellbraune Milchkaffeeflecken auf allen Papieren auf dem Tisch ausbreiteten.

„Scheiße, verdammt!“

„Beruhig dich, Gerd, das kriegen wir schon hin.“ Auer verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. „Und eines ist sicher, egal was der Grund für die Taten ist, Verdeckung oder Verarsche, krank ist der Typ auf jeden Fall ... und das nicht zu knapp.“

Er wandte sich Coco zu, und einen Moment lang wurde ihr mulmig, als sie seinen ernsten Gesichtsausdruck sah.

War sie zu weit gegangen? Hätte sie ihren Verdacht beziehungsweise ihre Theorie vielleicht besser unter vier Augen mit ihm besprochen?

„Danke, Coco.“ Sie war überrascht, und ihre Verwunderung nahm noch zu, als er ergänzte: „Ich finde es gut, dass du sagst, was du denkst. Behalte das bitte bei, scheißegal, ob dir jemand sagt, dass du bestimmte Sachen für dich behalten oder dich nicht in Gespräche Erwachsener einmischen sollst. Denn das kann ich dir versprechen ... früher oder später wirst du mit solchen Sprüchen konfrontiert werden. Lass dich nicht verunsichern. Ich betrachte deine Theorie als einen wertvollen und bedenkenswerten Hinweis.“

Coco war baff, aber ihr blieb nicht viel Zeit zum Überlegen, denn Auer fuhr fort und riss alle mit einem Satz aus ihren Überlegungen.

„Okay, Leute, lasst uns die Aufteilung der anstehenden Aufgaben angehen.“