Kapitel 14

21:00 Uhr

Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, konnte er nicht behaupten, dass er sich in seiner Wohnung besonders wohlfühlte.

Vielleicht ist das ja auch der Grund, warum ich so viele Überstunden mache, dachte er traurig. Er hatte sich immer als guten Chef, einfühlsamen Menschen und offen für die Probleme der ihm anvertrauten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gesehen. Er wusste, dass er bei den meisten Kollegen beliebt war und ihn nur diejenigen, die seine Ehrlichkeit und bisweilen bissigen Kommentare nicht verkraften konnten, nicht mochten.

Warum war es ihm trotzdem nicht möglich, eine Partnerin zu finden, die es länger als wenige Monate mit ihm aushielt? Waren es sein Beruf und die vielen Abwesenheiten aufgrund unvorhersehbarer Einsätze? Mörder und Totschläger hielten sich nicht an übliche Arbeitszeiten und schon gar nicht an den kirchlichen Schutz des Sonntags – eher im Gegenteil. Immer dann, wenn Menschen zu viel Zeit zur Verfügung hatten, ergab sich eben leider auch die oft tragisch endende Gelegenheit, zwischenmenschliche Probleme abzuarbeiten. Noch immer waren die meisten Tötungsdelikte Beziehungstaten, was bedeutete, dass Opfer und Täter sich kannten. Und meistens eskalierten Streitigkeiten zwischen nahen Angehörigen in deren Freizeit, was dann dazu führte, dass oft kurz darauf Auers Freizeit endete.

Das war auch der Grund, warum er sich in der kleinen Wohnung in Koblenz-Neuendorf nie wirklich zu Hause gefühlt hatte. Es war ein Schlafplatz, ein Ort, an dem man sich etwas kochen konnte, vielleicht noch ein Ort, an dem man nach einem anstrengenden Arbeitstag ein wenig bei einem guten Film und einer Flasche Wein entspannen ... oder es zumindest versuchen konnte.

Nachdem seine Ehe mit Monika vor zwölf Jahren nach lediglich 18 Monaten gescheitert war, hatte er sich in dieser kleinen Bude eingemietet, und er hatte seit dieser Zeit keinen Grund dafür finden können, sich etwas Besseres, Größeres oder Komfortableres zu suchen. Bisher hatte noch kein einziger Kollege seine Bude betreten. Wenn sie ihn abholten, ging er auf ein Klingeln von ihnen nach unten und stieg in den jeweiligen Dienstwagen ein.

Natürlich waren ihm die Blicke aufgefallen, mit denen jeder das stark renovierungsbedürftige Haus im Brenderweg beäugt hatte, aber niemand hatte gewagt, ihn auf seine Wohnsituation anzusprechen. Sein Beruf war sein Leben. Dort war er anerkannt als einer der erfolgreichsten Ermittler, als Chef, der sich um seine Mitarbeiter kümmerte, und als jemand, der sich so manchem idiotischen Vorgesetzten erfolgreich widersetzt hatte. Sein Privat­leben war nie ein Thema.

Mit einem lauten „Plopp“ flog der Kronkorken von der Bierflasche, und genau in dem Augenblick, als Ulf Auer die Flasche an den Mund setzte, klingelte das Telefon.

„Auer?“

„Was fällt dir ein, mich einfach so zu versetzen? Verdammt, wir hatten einen Termin um 20:30 Uhr, und jetzt sitze ich alleine hier in diesem Hotelzimmer. Was ist los mit dir?“

Oh Scheiße. Sandra! Die hab ich ja total vergessen. Jetzt werde ich mir ein längeres Donnerwetter anhören müssen.

„Entschuldige, das tut mir leid. Ich war so geschafft von dem Tag, dass ich nicht mehr an dich gedacht habe.“

„Wie bitte? Du hast nicht mehr an mich gedacht? Was fällt dir ein!“, schrie sie ihn durch das Telefon an. „Ich könnte ja noch akzeptieren, dass du zu müde bist oder zu eingespannt oder genervt oder ... ach egal. Aber nicht mehr an mich denken ... das ist ja wohl das Letzte. Du verdammter Hurensohn! Ich scheine ja gerade mal gut genug fürs Bett zu sein, und ich falle dir vermutlich nur dann wieder ein, wenn du scharf genug bist, was?“

Auer richtete sich auf eine sicherlich mehrere Minuten andauernde Beschimpfung ein.

„Ja, du hast ja recht“, räumte er, so reumütig, wie es ihm möglich war, ein.

Überrascht stellte er fest, dass die Oberstaatsanwältin das Reden eingestellt hatte und er gedämpfte Geräusche vernahm, die er nur als unterdrücktes Schluchzen deuten konnte.

„Sandra? Sandra, was ist los? So schlimm ist es doch auch nicht. Es tut mir leid, wirklich. Ich hatte durch den neuen Fall ziemlich viel Stress, sorry. Das ist aber doch kein Grund zu weinen. Sandra, rede mit mir.“

Einen Moment lang war kein Ton zu hören, und Auer befürchtete, sie habe wortlos aufgelegt.

„Ich habe ...“, erklang es auf einmal leise und weinerlich, „ich habe ... halt einfach gedacht ... das mit uns, das könnte ... vielleicht ... doch etwas mehr werden als nur ... als nur eine Affäre.“

Oh Gott. Auer war sprachlos. Zahllose Gedanken schossen durch seinen Kopf. Eine feste Beziehung, Zusammenziehen, der Wunsch nach Heirat und vielleicht sogar nach Kindern, ein Eigenheim in den Außenbezirken von Koblenz, im Grünen, mit Garten.

Zusätzlich zu diesen wie Blitzlichter in seinem Hirn auftauchenden Bildern tauchten Worte wie „Verantwortung“, „Verpflichtung“, „Lebensversicherung“ und „Hausratversicherung“ auf, die seine Verwirrung zusätzlich steigerten. Begriffe, mit denen er sich in den vergangenen zwölf Jahren nicht beschäftigt hatte ... sich nicht zu beschäftigen brauchte.

Noch bevor er seine Sprache zurückfand, sprach Sandra erneut, diesmal allerdings wieder mit der festen Stimme der toughen Juristin, die sich im Beruf nichts gefallen ließ.

„Dein Schweigen spricht Bände. Du siehst das offenbar anders, und das wiederum sagt mir, was ich für dich bin.“

Er überlegte noch, wie er ihr widersprechen oder was er erwidern konnte, als er das Verschwinden jeglicher Nebengeräusche bemerkte, was ihm ohne jeden Zweifel signalisierte, dass sie aufgelegt hatte.