Kapitel 16
06:30 Uhr
Coco war sich sicher, dass sie diesen Anblick in ihrem ganzen Leben nicht wieder würde vergessen können. Hatte sie bis heute Morgen gedacht, der Anblick der zersägten Leiche von Beate Furch oder des auf schrecklichste Art und Weise verstümmelten und ausgeweideten Obdachlosen würde das absolute Maximum der vorstellbaren verstörenden Anblicke darstellen, wurde sie nun eines Besseren belehrt.
Um 05:20 Uhr hatte ihr Handy sie mit nervtötendem Klingeln aus ihrem sowieso schon unruhigen Schlaf gerissen. Ein ihr unbekannter Kollege des Kriminaldauerdienstes (KDD) hatte sie auf dem schnellstmöglichen Weg zur Dienststelle beordert. Ein lapidares „Hauptkommissar Auer hat mich gebeten, Sie zu informieren, es gäbe einen neuen Tatort“, hatte sie sofort bereuen lassen, nach dem Grund für die Alarmierung zu fragen. Ihr Magen hatte sich sofort krampfhaft zusammengezogen. Kein Gedanke mehr an Frühstück, nie im Leben.
Auf der Dienststelle angekommen, war sie zu den wartenden Harry und Fisch ins Auto gesprungen, und sie waren sofort losgebraust. Harry informierte sie, dass Auer und Duben als Erste auf der Dienststelle und deshalb vor fünf Minuten bereits vorgefahren seien. Die Entfernung zum Tatort war so gering, dass sie zu dieser frühen Stunde innerhalb von fünf Minuten über die B9 und die Ausfahrt am Volkspark in Neuendorf angekommen waren.
Harry und Fisch hatten bis zu diesem Zeitpunkt allerdings selbst noch nicht mehr gewusst als das, was die zum Fundort gerufene Streife ans Präsidium gemeldet hatte: weibliche Leiche, ganz offensichtlich ein Gewaltverbrechen und eindeutig ein Fall für die MK!
Schon aus mehreren 100 Metern waren die blinkenden Blaulichter der abgestellten Streifenwagen zu sehen gewesen, und einige Uniformierte waren dabei, mit rot-weiß gestreiftem Trassierband die Absperrung einzurichten. Harry fuhr auf eine der Absperrungen zu, und als die Kollegen ihn erkannten, hoben sie zu zweit das Absperrband an, sodass er darunter hindurchfahren und den Wagen innerhalb der Absperrung parken konnte.
„Warum parken wir nicht außerhalb?“, fragte sie verwundert.
Fisch schenkte ihr einen mitleidigen Blick. „Du stammst wohl nicht aus Koblenz, oder?“
„Eigentlich schon, aber ich war in einem Internat in der Schweiz, habe dann in Frankfurt studiert und bin von meinem Praktikum im ,Nette-Gut‘ direkt auf die Polizeischule. Also wirklich gut kenne ich mich in Koblenz nicht aus, und ich weiß auch nicht viel über die lokalen Gegebenheiten.“
„Aber die Lokalpresse verfolgst du doch, oder etwa nicht?“
Sie wurde einer Antwort enthoben, weil Auer der Gruppe entgegenkam, wodurch jedes weitere Gespräch unterbunden wurde. Ansonsten hätte sie zugeben müssen, dass sie noch nie eine Tageszeitung gelesen hatte. Als Kind der 90er-Jahre informierte sie sich über das Weltgeschehen durch Push-Meldungen von SPIEGEL und FOCUS auf ihrem iPad oder sah auch schon mal die Tagesschau und das HEUTE-Journal ... sonst nichts.
Auer wirkte ungewöhnlich blass, als er vor ihnen stehen blieb.
„Harry, Klaus, ihr geht bitte weiter und schaut euch den Tatort an. Coco, du bleibst hier.“
„Warum das denn?“ Sie war sich nicht sicher, was das sollte, und im ersten Moment ehrlich entrüstet.
Auer fasste sie überraschend fest am Oberarm und zog sie ein paar Schritte zur Seite, bis sie sich außer Hörweite der überall herumstehenden Uniformierten befanden.
„Hör zu, Coco“, raunte er ihr zu, „ich will dir nichts Böses und auch keine Vorschriften machen. Ich denke nur, dass du dir diesen Anblick ersparen solltest. Ich habe schon viel gesehen, aber das dort hinten war selbst für mich starker Tobak. Du willst dir das nicht antun, glaube mir!“
Eine ihrer größten Schwächen, derer sie sich auch bewusst war, stellte ihr Stolz dar. Schon immer hatte es sie genervt, wenn sie nicht wie ein männlicher Kollege, sondern wie eine „schwache Frau“ behandelt wurde. Dieser Stolz war es auch, der in diesem Moment ihren Widerspruchsgeist weckte.
„Erstens möchte ich keine Sonderbehandlung, zweitens habe ich ja wohl gezeigt, was ich vertragen kann, und drittens, wie soll ich etwas lernen, wenn ich behandelt werde wie ein rohes Ei?“
Sie hatte die Arme in die Hüften gestützt und Auer zornig angesehen.
Etwas zu aufmüpfig und störrisch vielleicht, ging ihr durch den Kopf. Hoffentlich übertreibe ich es nicht gerade.
Aber Auer hatte nur traurig den Kopf geschüttelt. Anscheinend hatte er eingesehen, dass sie seine väterliche Fürsorge nicht brauchte oder zumindest nicht wollte.
„Na gut, wie du meinst, kommt mit, hier lang.“
Nun stand sie vor der Leiche und bereute bereits nach wenigen Augenblicken, nicht auf Auer gehört zu haben. Was sich ihr darbot, war das Schrecklichste, was sie je gesehen hatte. Es überstieg in seiner Grausamkeit und seiner unzweifelhaften Realität jeden Horrorfilm.
Sie musste daran denken, was einer der Ausbilder auf der Polizeischule in einem denkwürdigen Seminar der Klasse mitgeteilt hatte:
„Kolleginnen und Kollegen, all denen, die glauben, durch den fragwürdigen Genuss von Horrorfilmen oder dieser unsäglichen Splatter-Orgien seien sie abgehärtet und kämen mit einer grausamen Realität besser zurecht als andere Menschen ... diesen Zahn muss ich euch leider ziehen. Nichts ... ich betone ... absolut nichts kann euch auf diesen Moment vorbereiten, in dem ihr das erste Mal mit eurem ganz persönlichen Grauen konfrontiert werdet. Keine Filme, keine Fotos von echten Tatorten, nichts!“
Er hatte eine längere Pause gemacht, und Coco war vermutlich nicht die Einzige gewesen, die den Eindruck gewonnen hatte, dass er auf einmal sehr traurig geworden war. Dann hatte er wieder angesetzt:
„Es gibt verschiedene Arten, mit seinem ganz persönlichen Albtraum umzugehen, wenn man ihm denn dann begegnet. Manche stumpfen ab, andere fangen an zu saufen, und wieder andere verzweifeln und schmeißen hin. Es gibt welche, die ihr Glück in der Einheit zur Bekämpfung von Fahrraddiebstählen versuchen, oder sie bauen einen Hass gegen alle Täter auf, der irgendwann in nicht mehr beherrschbare Aggressivität umschlägt. Und dann gnade Gott jedem Straftäter, der ihnen in die Hände fällt.“
Sein Blick hatte sich nach unten gesenkt, und er hatte seine Hände angestarrt.
„Manche kommen eine Zeit lang damit klar, und dann brechen sie zusammen und enden entweder in der psychotherapeutischen Behandlung ... oder“, er hatte aufgesehen und sie mit festem Blick angeschaut, „... oder sie werden Fachlehrer und versuchen, euch Grünschnäbel so gut wie möglich auf die Realität vorzubereiten.“
Coco hatte Mitleid mit diesem in ihren Augen armen Lehrer gehabt. Was mochte er wohl alles erlebt haben? Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass seine Ausführungen irgendwann einmal auf sie selbst zutreffen könnten. Aber er war noch nicht fertig gewesen.
„Ich kann Sie leider nicht wirklich darauf vorbereiten, weil jeder seinen ganz persönlichen maximalen Horror hat. Bei dem jungen Vater ist es unter Umständen das getötete oder bei einem Unfall grausam verstümmelte Kleinkind, bei dem Kollegen, der Wasser grundsätzlich nicht mag, die verweste Wasserleiche und bei mancher Kollegin die missbrauchte und getötete Frau. Sobald Sie das erst mal anfangen zu denken, wie würde ich mich fühlen, wenn ich genau so daliege oder hänge?, haben Sie den Punkt erreicht.“
Schräg hinter Coco hatte ein Kollege kurz aufgelacht und halblaut angemerkt: „Vermutlich tot würde ich mich fühlen.“
Ihr Ausbilder hatte offensichtlich trotz seines fortgeschrittenen Alters ein sehr gutes Gehör.
„Müller, raus hier, und zwar sofort! Wenn Sie an diesem Thema etwas lustig finden, dann sind Sie hier absolut fehl am Platz.“
„Aber ... ich wollte doch nur ...“
„RAUS! SOFORT!“
Coco war diese Episode ihrer Ausbildung noch nach langer Zeit in lebhafter Erinnerung. Als sie nun vor der Leiche der alten Frau stand, war sie ungefragt nach oben gespült worden. In genau diesem Moment war ihr klar geworden, was ihr ganz persönlicher Albtraum war.
Sie fühlte, wie ihr ganzer Körper in ein unkontrollierbares Zittern verfiel, als sie sich vorzustellen begann, dass ihr jemals etwas Vergleichbares passieren könnte.
Es war nicht der Umstand, dass die alte Frau ausgeblutet, tot und nackt vor ihr auf dem Rasen lag. Auch nicht die große Menge Blut, die rund um die Leiche nur zu einem kleinen Teil im Gras versickert war. Selbst der Umstand, dass sie augenscheinlich auf brutalste Weise vergewaltigt worden war, was die Verletzungen und das Blut im Genitalbereich deutlich zeigten, war nicht das Schlimmste. Auch das hätte sie noch verkraften können.
Es war die Obszönität der Pose, in die der Täter das Opfer nach der Tat gebracht hatte. Wie die Gaffer bei einem spektakulären Unfall konnte Coco den Blick einfach nicht abwenden.
Die alte Frau lag auf dem Rücken, die Beine waren gespreizt, in den Knien angewinkelt und aufgestellt, sodass sie den Genitalbereich wie bei einer Einladung darbot. Die Hände lagen unter den schlaffen Brüsten und hielten sie jeweils so umschlossen, dass sie ein wenig aufgestellt waren. Alles an dieser Pose schrie: Prostituierte, die einen Freier ermuntern wollte, endlich zur Sache zu kommen. Es hätte des vermutlich mit ihrem eigenen Blut auf den faltigen Bauch geschriebenen Wortes „HURE!“ nicht bedurft, um die Intention des Täters klarzustellen. Die absolute Krönung der Obszönität war allerdings der rosafarbene Vibrator, der in ihrem Mund steckte.
Coco schätzte die Frau auf jenseits der 70, obwohl eine Altersschätzung bei einer Toten grundsätzlich schwierig war. Sie spürte, wie ihr Magen zu rebellieren begann. Aber sie stand weiterhin am ganzen Körper zitternd und mit gebanntem Blick auf das Opfer starrend an ihrem Platz.
Du musst dich ablenken. Nachdenken, nachdenken, verdammt. Was fällt dir an der Leiche auf? Was ist, abgesehen von der kranken Präsentation, auffällig, sonderbar, seltsam oder ungewöhnlich? Konzentrier dich auf mögliche Fragen, die durch die Autopsie geklärt werden müssen oder die vielleicht einen Hinweis auf den Täter geben könnten.
Ihr Magen schien sich zu beruhigen, und sie war froh, keine Zeit für ein Frühstück gehabt zu haben.
Ein Gedanke begann, aus ihrem Unterbewusstsein langsam an die Oberfläche zu steigen, und sie sah trotz aller Abscheu noch einmal genauer hin.
„Das ist seltsam“, murmelte sie vor sich hin, „wie hat er das gemacht?“
„Wie bitte?“ Auer starrte sie verständnislos an. „Was meinst du?“
Coco bewegte sich erstmals, seit sie die tote Frau zu Gesicht bekommen hatte.
„Die Hände. Die Brüste. Wie hat er das gemacht? Sie stützt die Brüste mit den Händen, aber warum bleiben sie an dieser Position? Er wird ja wohl kaum gewartet haben, bis die Leichenstarre eingesetzt hat, oder?“
Auer starrte sie entgeistert an. Als sie sich in Bewegung setzte und näher an die Leiche herantrat, schien er sie zurückhalten zu wollen, aber Coco ließ sich nicht beirren und schüttelte die leicht auf ihre Schulter gelegte Hand trotzig ab. Sie ging in die Knie und beäugte den Bereich, der die Frage aufgeworfen hatte, aus nächster Nähe. Sie spürte, wie die Konzentration auf ein Problem, eine ungelöste Frage, sie wenigstens etwas von der unvorstellbaren Grausamkeit der Gesamtsituation distanzierte und dass sie das Opfer fast wie von außerhalb ihres eigenen Körpers betrachtete ... wie in einem Film.
Die alten, faltigen Hände waren blutverschmiert, wie große Teile des restlichen Körpers auch. Aber halt ... was sind das für dunkle Punkte?
Als sie noch näher heranging und schließlich erkannte, was sie da sah, konnte sie ein lautes Stöhnen nicht unterdrücken.
„Oh Gott, was für ein krankes Schwein.“
„Was ist? Was hast du entdeckt?“ Auer hockte nun direkt neben ihr und versuchte zu erkennen, was sie gesehen hatte.
Coco zeigte auf eine Stelle im Handrücken der rechten Hand.
„Hier, siehst du das? Dieses Tier hat ihr Nägel in die Hand geschlagen und so die Hand an dieser Stelle fixiert.“
Auer wich erschrocken zurück und wäre beinahe gestürzt, als er sich auf wackligen Beinen erhob.
Hat er so was schon einmal gesehen? Oder verbindet er eine andere, schreckliche Erinnerung damit?
Coco wusste es nicht und war sich auch nicht sicher, ob sie ihn fragen sollte. Sie musste sich gewaltsam von dem schrecklichen Anblick losreißen, stand auf und drehte sich um.
In wenigen Metern Entfernung sah sie Auer, der einen Arm in Kopfhöhe quer an einen Baum gelegt hatte und sich mit dem Gesicht dagegenlehnte. Seine Schultern zuckten, und es sah aus, als würde er weinen.
An was erinnert er sich?