Kapitel 17

12:00 Uhr

Jeder ging mit Stresssituationen anders um. Der eine geht in sich, der andere aus sich heraus. Die jeweilige Reaktion hing sowohl von der grundsätzlichen Mentalität des oder der Einzelnen ab als auch von der gerade besonders stressenden Situation und der Grundstimmung.

Auer sah, dass Klaus Saibling still an seinem Arbeitsplatz saß und in seine Kaffeetasse starrte. An den zuckenden Kiefermuskeln konnte man erkennen, dass er krampfhaft die Kiefer aufeinanderpresste und immer wieder entspannte. Die Hände hielt er um die Tasse mit dem der Situation zu unpassenden Aufdruck „Hetz mich nicht!“ geschlossen, und Auer wäre nicht überrascht gewesen, wenn die Tasse unter dem auf sie ausgeübten Druck zerbrochen wäre.

Harry zeigte sich wieder einmal als der extrovertierte Typ, den es nicht am Platz hielt und der seit zehn Minuten ruhelos hin und her tigerte, dabei immer wieder die Fäuste ballte und wieder öffnete. Dabei brummelte er ständig vor sich hin, und Auer verstand nur unzusammenhängende Fetzen, wie „... mach ich das Schwein kalt ...“, „... den Kopf ab ...“, „... in die Finger kriege ...“ und „... ohne Betäubung ...“. Man brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, welche Gedanken ihn gerade beschäftigten.

Duben hatte vor wenigen Minuten mit einer Packung Zigaretten und mit der unpassenden Bemerkung „Ich muss hier raus. Ich brauche frische Luft oder ich ersticke!“ den Raum verlassen. Auer war froh, dass er nicht die Flasche Wodka, die er immer in seiner Schreibtischschublade lagerte, mitgenommen hatte. Er wusste, dass sich Duben als trockener Alkoholiker damit beweisen wollte, dass er stark genug war, jeder Versuchung zu widerstehen, was anscheinend bisher zu stimmen schien. Aber Auer hätte es ihm wahrhaftig nicht verdenken können, wenn er gerade in dieser Situation rückfällig geworden wäre.

Cocos Reaktion beziehungsweise ihr Umgang mit der Situation überraschte ihn am meisten. Aber es war nichts, was er nicht schon bei anderen in ähnlichen Situationen erlebt hätte. Sie war in eine geschäftige Betriebsamkeit verfallen, telefonierte, machte sich Notizen, recherchierte etwas am Computer, telefonierte wieder, fragte nach Akten und verließ den Raum, um kurz danach mit Ordnern wiederzukommen, in denen sie dann las.

Auer hatte eine solche Ersatzhandlung schon erlebt und wusste, was danach kommen würde. Sowie es nichts mehr zu tun gab oder eine Zwangspause eintrat, würde sie zusammenbrechen und eine nicht genau vorhersagbare Reaktion zeigen. Er überlegte, was er tun könnte, um diese Reaktion abzufedern. Wie könnte er es anstellen, in diesem Moment in ihrer Nähe zu sein, ohne dass es missverstanden würde?

Ich muss mir bis zum Feierabend etwas einfallen lassen. Es wäre eine Tragödie, wenn wir so einen hellen Kopf wegen eines schrecklichen Erlebnisses gleich zu Beginn ihrer Karriere verlieren würden. Ich hätte sie mit Gewalt davon abhalten sollen, die Tote so zu sehen.

Andererseits war er in gewisser Weise froh, dass sie am Tatort seine Aufmerksamkeit auf die ermittlungsrelevanten Sachverhalte gelenkt hatte. Er hegte die starke Vermutung, dass er einen schlimmeren Zusammenbruch erlitten hätte und nicht nur den kleinen Weinanfall beim Verlassen des Tatortes. Er hatte nicht verhindern können, dass Coco ihn vermutlich dabei beobachtet hatte, und rechnete es ihr hoch an, dass sie ihn bisher noch nicht darauf angesprochen hatte. Zu gegebener Zeit musste er sich überlegen, wie er damit umgehen sollte. Im Moment gab es Wichtigeres zu tun, als mit den privaten Befindlichkeiten zu hadern. Es war ein Teil seiner Vergangenheit, über den er nicht reden wollte, geschweige denn wusste, ob er überhaupt darüber reden konnte. Allerdings hatte er sich bisher noch niemanden vorstellen können, mit dem er am ehesten hätte überhaupt darüber reden können ... außer eben Coco. Er schob die Gedanken beiseite. Zu gegebener Zeit würde man sehen, ob er darüber mit ihr würde sprechen können ... ob er ihr sein größtes Geheimnis überhaupt würde anvertrauen können. Wenn überhaupt, müsste er sie erst besser kennenlernen und vielleicht sogar abwarten müssen, bis sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte.

Coco und Harry hatten sich des ganz in der Nähe des Tatorts an einen Baum angebundenen Hundes angenommen. Sie sollten ihn zu einer tierärztlichen Untersuchung bringen und danach erst mal im Tierheim abgeben, bis geklärt war, ob es jemanden gab, der sich um das Tier kümmern würde.

Nachdem hinter dem Baum mit dem angebundenen Hund die Kleidung des Opfers gefunden worden war und darin eine Brieftasche mit ihren Papieren, hatte Auer sich entschlossen, mit Duben in die Wohnung der alten Dame zu gehen. Seltsamerweise fehlte jeglicher Haustür- oder Wohnungsschlüssel. Er war sich nicht sicher gewesen, was das zu bedeuten hatte. War der Täter vielleicht aus irgendeinem Grund noch in der Wohnung des Opfers gewesen?

Fisch hatte den Auftrag bekommen, mit den nun vorliegenden Daten des Opfers auf der Dienststelle die notwendigen Ermittlungen in den elektronischen Systemen anzustellen. Meldedaten kontrollieren, eventuelle Verwandte ausfindig machen, Finanzstatus abklären, also rundherum alles, was man über sie bei den verschiedenen Ämtern oder aus Akten herausfinden konnte.

Aus den Papieren hatten sie ersehen können, dass das Opfer Gerlinde Bräunig hieß und eine 78-jährige Rentnerin gewesen war.

Auer und Duben hatten keine Vorstellung davon gehabt, was sie am Wohnort der alten Dame erwarten könnte. Ein bettlägeriger Ehemann? Ein Lebensgefährte oder eine Mitbewohnerin zur Reduzierung der Miete? Weitere Haustiere, um die man sich kümmern müsste?

Bei dem Haus, in dem Gerlinde Bräunig gewohnt hatte, handelte es sich um eines der in Richtung Wallersheimer Weg gelegenen hinteren Mietshäuser der Herberichstraße. Das Haus lag nur knapp 100 Meter Luftlinie vom Fundort der Leiche entfernt, und zu Fuß waren es nicht wesentlich mehr.

Als auf das Klingeln bei dem Türschild mit lediglich dem Nachnamen BRÄUNIG keinerlei Reaktion erfolgt war, hatten sie sich auf die Suche nach einem Hausmeister oder Verwalter gemacht, der ihnen Zugang zu der Wohnung ohne einen Schlüsseldienst ermöglichen könnte. Ätzende 20 Minuten und viele vergebliche Nachfragen später hatten sie dann endlich vor der Wohnungstür im dritten Stock gestanden.

„Zeig mir noch mal Polizist-Ausweis!“, hatte sie der südländisch aussehende Hausmeister unbestimmbaren Alters in gebrochenem Deutsch gefragt.

„Is echt?“, hatte er nochmals misstrauisch nachgefragt und war unter Dubens bitterbösem Blick in sich zusammengeschrumpft.

Hastig hatte er mit einem Generalschlüssel aufgeschlossen, die Tür nach innen aufgestoßen und sich dann ohne ein weiteres Wort eilig davongemacht. In einer anderen Situation hätten sie ihn wohl genauer kontrolliert, aber für den Augenblick hatte es ihnen gereicht zu wissen, in welcher Wohnung sie ihn würden finden können, wenn sie noch Fragen hätten.

Aufgrund des fehlenden Wohnungsschlüssels hatten sie vorsichtig und mit gezogenen Waffen die Wohnung betreten. Der muffige Geruch war nicht ungewöhnlich für allein lebende ältere Menschen. Eine grobe Umschau hatte sehr schnell gezeigt, dass sie offensichtlich mit ihrem Hund alleine hier gelebt hatte. Es machte auch nicht den Anschein, als habe jemand die Wohnung durchsucht oder sich illegal Zutritt verschafft. Also war nun die erste Prämisse gewesen, Unterlagen über ihr Leben, ihre lebende Verwandtschaft, ihre Finanzen oder sonstige vielleicht interessante oder erhellende Fakten zu finden.

Auer hatte noch immer Cocos berechtigten Einwand im Ohr gehabt, dass es sich bei der gesamten Mordserie vielleicht doch um eine Ablenkung von einer Beziehungstat handeln könnte. Für ihn hatte es schon beim ersten Anblick der Toten keinen Zweifel gegeben, dass es sich erneut um das Werk desselben Täters handeln musste, der bereits die ersten beiden Morde begangen hatte. Inzwischen war er sich auch sehr sicher, dass sie es mit einem Mann zu tun hatten. Hätten die Visitenkarten „Drood“, eine männliche Romanfigur, und „Dr. Tod“ noch eine bewusst gelegte falsche Fährte sein können, stand es nun für ihn fest: Keine Frau hätte einer anderen Frau etwas so Schreckliches antun können. Also suchten sie einen Mann ... einen geistig sehr kranken Mann.

Er hatte ein Team der Spurensicherung in die Wohnung beordert, das sie nach allen Regeln der Kunst auseinandernehmen sollte. Es wäre unprofessionell gewesen, die Möglichkeit eines Erbenkels oder Neffen auszuschließen, der vorzeitig an sein Erbe kommen wollte und nicht davor zurückschreckte, zur Ablenkung zwei Unschuldige zu ermorden.

Also mussten Spuren gesichert, Papiere gesichtet und ausgewertet werden und natürlich Nachbarn nach den Lebensgewohnheiten oder eventuellen Besuchern befragt werden.

Nachdem das Team der Spurensicherung angekommen war, hatten sie sich wieder auf den Weg ins Präsidium gemacht, um sich dort mit dem restlichen Team zu beratschlagen und die weitere Vorgehensweise festzulegen.

Als Gerd Duben nach der vermutlich fünften Zigarette wieder in ihr Großraumbüro zurückkam, entschloss Auer sich, die bisher ziellosen Versuche, sich irgendwie zu beschäftigen, in geordnete Bahnen zu lenken.

„So, Leute, lasst uns etwas Produktives tun und anfangen, die bisher von der Spurensicherung gelieferten Unterlagen zu sichten. Vielleicht finden wir ja Anhaltspunkte, die uns weiterhelfen. Unser Hauptaugenmerk sollte darauf liegen, Cocos noch immer nicht ganz abwegige Möglichkeit des Beziehungstäters zu belegen oder auszuschließen.“

„Was soll denn bei einer armen Rentnerin für einen Erben zu holen gewesen sein? Oder warum sollte jemand einen solchen Hass auf sie gehabt haben, dass er nicht nur sie, sondern auch noch zwei andere umbringt, um es zu verdecken?“, warf Harry verächtlich ein.

„Wirf das nicht so weit weg.“ Duben wirkte nachdenklich. „Erstens weiß man nie, was die arm erscheinende Oma im Laufe der Jahrzehnte wirklich auf dem Konto oder im Sparstrumpf gebunkert hat, und zweitens kann das Motiv für eine solch grausame Tat ja in der Vergangenheit liegen. Alles ist möglich.“

Auer nickte zustimmend.

„Gerd hat recht. Erst die genaue Sichtung der Unterlagen wird uns mehr dazu sagen können ... vielleicht“, ergänzte er vorsichtig. Er warf einen Blick auf die etwa zwanzig Aktenordner, die aus der Wohnung von Gerlinde Bräunig in ihr Büro gebracht worden waren. Daneben stand auf dem Boden noch eine große Umzugskiste voller in Klarsichttüten einzeln verpackter Papiere, Briefe, Notizzettel und anderer Kleinteile.

„An die Arbeit. Jeder nimmt sich was und fängt mit der Auswertung an. Wir sollten zügig vorankommen, weil ich um 16:00 Uhr eine Videokonferenz mit der Rechtsmedizin in Mainz vereinbart habe. Diesmal nehmen wir alle teil, das spart uns die Zeit, die ich sonst im Nachgang fürs Weitererzählen bräuchte.“

Er ging mit gutem Beispiel voran, stand auf, schnappte sich einen der Aktenordner und begann darin zu lesen.

15:30 Uhr

Nach über drei Stunden, unterbrochen nur von kleinen Pausen, die vor allem dazu dienten, die schmerzenden Rücken und steifen Glieder zu strecken, war schon einiges mehr über die alte Dame bekannt. Sie war nicht reich gewesen, eher im Gegenteil. Also kein Grund für einen Erbschaftsmord. Ganz abgesehen davon war nichts zu finden gewesen, das darauf hingewiesen hätte, dass Gerlinde Bräunig jemals verheiratet gewesen wäre oder Kinder gehabt hätte. Also konnte es auch keine Enkel geben. Es gab zwar einen Bruder, aber nirgends fanden sich Hinweise auf Neffen oder Nichten. Aus unterschiedlichen Akten hatten sie weiterhin zusätzlich feststellen können, dass ihre Vergangenheit keine offensichtlichen Punkte aufwies, die eine späte Rache zu rechtfertigen schienen. Sie war Krankenschwester gewesen, hatte ihren Beruf vor mehr als 15 Jahren aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen und war in den Rentenstand getreten. Mit ihrer nicht gerade üppigen Rente hatte sie sich notdürftig über Wasser gehalten.

Auer überlegte, ob es sich lohnen würde, in ihrem ehemaligen beruflichen Umfeld nach einem möglichen Grund für die grausame Tötung zu suchen. Er entschied sich dagegen. Es war einfach zu lange her, viele Zeitzeugen wären vermutlich schon tot oder könnten sich nur lückenhaft erinnern. Also eher eine Sackgasse.

Viel eher teilte er Cocos Ansicht, die einen Ordner in die Finger bekommen hatte und der Meinung war, hier würden sich Ermittlungen lohnen. Gerlinde Bräunig war das gewesen, was man wohl am ehesten als Nervensäge und Höchststrafe für die Beschäftigten verschiedenster Ämter in Koblenz hätte bezeichnen können. Ein reger Schriftverkehr mit den Behörden zeigte zweierlei: Sie war eine sehr streitbare Frau gewesen und hatte auch nicht vor üblen Beschimpfungen und Beleidigungen zurückgeschreckt, die sie mit erstaunlicher Eloquenz verschriftlicht hatte. Dabei hatte es keine Rolle gespielt, ob es sich um einen Zuschuss in Höhe von fünf Euro für die Hundesteuer oder um Rentenfragen von schon eher existenzieller Bedeutung ging.

In mehreren Schreiben hatte sie behauptet, dass Mitarbeiter verschiedener Dienststellen ihr Schreckliches angedroht hätten, wenn sie nicht endlich Ruhe geben würde.

„Ich glaube nicht grundsätzlich, dass sie wirklich wegen ihrer Nerverei getötet wurde, aber vielleicht ist unser Täter ja jemand, der das Angenehme mit dem Nützlichen verbindet“, hatte Coco festgestellt und sofort gemerkt, was sie da gerade gesagt hatte. „Sorry, das war eine blöde Formulierung. Ich hab das anders gemeint.“

„Kein Thema, ich weiß, was du gemeint hast.“

Auer überlegte, ob das ein Ansatz war, den man verfolgen sollte. Warum eigentlich nicht? Sie hatten derzeit nichts Besseres.

Harry meldete sich zu Wort: „Ich brauch jetzt mal was Stärkeres als Kaffee. Wer will auch ein Bier?“ Er war bereits aufgestanden und zu dem alten Kühlschrank in einer Ecke ihres Büros gegangen. Auer und Fisch nickten, Duben winkte genervt ab, und Coco sagte: „Nein danke, wenn ich schon Alkohol wollte, müsste es was richtig Starkes sein.“

Harry grinste. „Ich hab hier auch noch eine Flasche Wodka, mindestens halb voll. Na, wie sieht’s aus?“

Coco schüttelte lächelnd den Kopf.

Harry, Fisch und Auer hatten gerade die Flaschen geöffnet und angesetzt, als die Tür aufging und ein wutschnaubender Wasgau hereinstürmte.

„Das darf ja wohl nicht wahr sein! Was meint ihr eigentlich, was ihr hier treibt? Ist das so eine Art Kaffeekränzchen? Erst reißt ihr euch eine Vergewaltigung mit Todesfolge unter den Nagel, obwohl ihr genug andere Sachen zu tun habt, und dann sitzt ihr hier gemütlich bei einem Bier? Geht’s noch?“

Er versuchte, seine nicht gerade stattliche Größe von 1,70 dadurch aufzuplustern, dass er die Hände in die Hüften stemmte, die Brust nach vorne schob und den Kopf nach oben streckte. Dabei sah er streitlustig von einem zum anderen.

„Muss ich euch auf die Dienstvorschriften bezüglich des Alkoholgenusses im Dienst aufmerksam machen oder darf ich gleich das Disziplinarverfahren einleiten?“

Er blickte immer noch hin und her und konnte sich anscheinend nicht entscheiden, wen er sich als Opfer aus der Gruppe herauspicken sollte.

„Also, kann mir mal einer sagen, was hier genau vorgeht?“

Gerd Duben hatte sich langsam aus seinem Stuhl erhoben, und Auer hoffte, dass er nichts Unüberlegtes tun würde. Seine ganze Mimik drückte Wut und großen aufgestauten Frust aus. Wasgau könnte das Pech haben und als Ventil dienen.

Duben baute sich vor Wasgau auf und sah ihn mit blitzenden Augen von oben herab an. Es schien, als sei er wesentlich größer als die eigentlich nur fünf Zentimeter, aber vielleicht war Wasgau auch in diesem Augenblick schon wieder ein wenig in sich zusammengeschrumpft.

„Du mieser, kleiner, arroganter Sesselfurzer“, zischte Duben mit unterdrückter Wut, aber laut genug, dass alle Anwesenden es hören konnten, „was bildest du dir ein? Nur weil du die Tochter vom PP angebumst und sie dann geheiratet hast, meinst du, hier den großen Macker rauskehren zu können. Hast du überhaupt auch nur eine entfernte Ahnung, was wir hier machen?“

Wasgau wollte nicht völlig klein beigeben, obwohl er bereits zwei Schritte zurückgewichen war.

„Genau das wollte ich ja von euch wissen. Was soll das, dass ihr diese Vergewaltigung an der Oma an euch gerissen habt? Habt ihr noch nicht genug zu tun?“

Bei dem Wort „Oma“ schien Duben noch einmal ein paar Zentimeter gewachsen zu sein, und Auer hatte nun tatsächlich Angst um Wasgaus Gesundheit. Obwohl – oder vielleicht gerade weil? – Duben inzwischen trockener Alkoholiker war, hatte er bisweilen eine recht kurze Zündschnur. Wenn er richtig austickte, konnte sich sein armes Gegenüber warm anziehen.

„Du widerlicher Kompetenzsimulant, pass auf, was du redest. Ich hätte große Lust, dir eins in die Fresse zu geben, und ich hätte drei Zeugen, die einen Eid ableisten, dass du gegen eine Tür gelaufen bist.“

„Vier!“, erscholl Cocos Stimme aus dem Hintergrund.

„Klatsch – Klatsch – Klatsch“ ... erscholl ein langsames Händeklatschen von der Tür her. Unbemerkt von allen war Oberstaatsanwältin Sandra Hartung in den Raum getreten.

„Beeindruckend. Wirklich, ich bin echt baff. Welch kraftvoller Auswurf von überschüssigem Testosteron. Welch heroischer Zusammenhalt.“

Sie war an Auer herangetreten und sah ihm direkt ins Gesicht. „Ich liebe es, wenn so viel Loyalität, Zuneigung und Verantwortungsbewusstsein zusammentreffen.“

Als Wasgau gerade ansetzte, sie mit erhobenem Zeigefinger anzusprechen, sprach sie schnell weiter.

„Leider habe ich nun gar nicht mitbekommen, was hier eigentlich vorgefallen ist, deshalb wäre es nett, wenn mich einer der Herren ins Bild setzt. Wie ist die Lage, was haben wir, wovon können wir ausgehen?“

Dabei blickte sie in die Runde, wobei ihr Blick ungewöhnlich lange auf Coco zu ruhen schien.

Auer seufzte und schloss kurz die Augen. Es würde ihm wohl nichts anderes übrig bleiben, als alle Karten auf den Tisch zu legen.

„Nehmen Sie Platz, Frau Oberstaatsanwältin. Wir schildern Ihnen schnell mal unsere gesammelten Erkenntnisse.“

Die nächsten zehn Minuten waren angefüllt von Erläuterungen, Verweisen auf die Wandtafel mit den Namenskärtchen der Opfer und Bildern vom Tatort, den Ergebnissen der beiden Autopsien, dem Hinweis auf die Akten aus der Wohnung und Auers Feststellung, dass man nun mangels anderer Ansätze bei den städtischen Ämtern ermitteln wolle.

„Ihr habt sie ja wohl nicht mehr alle“, warf Wasgau ein, der sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten und mehr oder weniger aufmerksam zugehört hatte, „bloß wegen eines vagen und in meinen Augen blödsinnigen Verdachtes, dass die drei Verbrechen vielleicht etwas miteinander zu tun haben könnten, wollt ihr ...“

Sandra Hartungs erhobene Hand ließ ihn mitten im Satz verstummen.

„Sie haben jetzt mal Sendepause, Wasgau. Ich möchte mir gerne von Herrn Auer erklären lassen, was ihn so sicher sein lässt, dass wir es hier mit einem Serientäter zu tun haben. Bitteschön, Herr Hauptkommissar.“

Auer musste nicht lange nachdenken. Zu oft war er in den vergangenen Tagen und Stunden die möglichen Übereinstimmungen in Gedanken durchgegangen.

„Obwohl wir hier drei völlig unterschiedliche Tatbegehungen und drei völlig unterschiedliche Opfer haben, sprechen einige Übereinstimmungen für einen Serientäter: Alle Opfer sind vor den eigentlichen Verstümmelungen ausgeblutet worden. Bei allen Opfern wurde eine Nachricht hinterlassen, zweimal eine Art Visitenkarte, einmal eine Blutnachricht auf der Leiche. Dazu kommt noch, dass die Taten in einem Abstand von jeweils zwei Tagen erfolgten. Dabei kann es sich bei bisher drei Opfern noch um einen Zufall handeln, aber wenn ich recht habe, wird er am Sonntag, also übermorgen, das nächste Mal zuschlagen.“

Auer sah nicht nur die hochgezogenen Augenbrauen bei Sandra Hartung, sondern bemerkte auch die überraschten Blicke seiner Kollegen. Anscheinend war dieser Umstand noch keinem von ihnen aufgefallen.

„Und gerade die Unterschiedlichkeit der Opfer bezüglich Alter, sozialem Status und Geschlecht lassen mich vermuten, dass sie absichtlich so unterschiedlich hingerichtet wurden und dass extra auch ganz verschiedene Arten von Nachrichten hinterlassen wurden. Der Täter spielt mit uns. Er will uns zeigen, wie machtlos wir sind, dass wir nicht vorhersagen können, was er als Nächstes tun wird und dass wir bei ihm mit Opferprofilen nicht weiterkommen werden.“

Auer sah, dass Coco neben ihn getreten war, und bevor er es verhindern konnte, ergriff sie das Wort: „Ich kann die Aussagen von Hauptkommissar Auer aus psychologischer Sicht nur unterstützen, und ich bin sogar der Meinung, dass der Täter insofern einen Fehler begeht, wenn er meint, aus der Unterschiedlichkeit könnten wir keine Rückschlüsse ziehen. Ich bin der Meinung, dass unser nächstes Opfer ein jüngerer Mann sein wird, beruflich vermutlich ein Beamter, Soldat oder Angestellter im öffentlichen Dienst. Die Serie ist eigentlich leicht zu durchschauen: junge Frau – alter Mann – alte Frau – na, und was folgt dann? Genauso beim sozialen Status: erfolgreich im Berufsleben – obdachlos – Rentnerin – und als Nächstes?“

Auer starrte sie überrascht an.

Genial! Erneut musste er neidlos anerkennen, mit welcher eiskalten Logik Coco dieses grausige Spiel analysierte und Schlüsse zog, die er lediglich vielleicht irgendwann auch gezogen hätte.

„Und Sie sind ...?“, fragte Sandra Hartung kalt.

„Ach“, mischte Wasgau sich erstmals wieder ein, „das ist nur eine Praktikantin, die meint, weil sie mal ein paar Semester Psychologie studiert hat, sie wäre eine Profilerin, pah.“

Diesmal war es Wasgau, der den eiskalten Blick der Oberstaatsanwältin erntete, unter dem er wieder sichtlich in sich zusammenfiel.

„Na, dann hoffen Sie mal, Herr Kriminaloberrat, dass die Praktikantin nicht doch recht behält, denn dann könnte ich Ihrem Chef ja mal vorschlagen, dass Sie beide die Jobs tauschen.“

Sie wandte sich wieder Auer zu.

„Ich erwarte jeweils morgens, mittags und abends einen persönlichen Bericht von Ihnen mit den neuesten Erkenntnissen und Ihren weiteren Planungen. Haben wir uns verstanden?“

Auer konnte der Versuchung nicht widerstehen. Er schlug die Hacken mit einem deutlich vernehmbaren Knall zusammen, nahm eine straffe Körperhaltung an und führte die ausgestreckte rechte Hand zu einem militärischen Gruß an die imaginäre Mütze: „Oui, mon général!“ (Jawohl, mein General)

Er meinte, den leichten Anflug eines Lächelns in ihrem linken Mundwinkel zu sehen, bevor sie sich wortlos umdrehte und den Raum verließ.