Kapitel 18
16:00 Uhr
Sie hatten sich in dem speziell dafür vorgesehenen Raum des Präsidiums versammelt, der für die immer noch relativ selten stattfindenden Videokonferenzen genutzt wurde – oder besser gesagt, für die eigentlich immer seltener stattfindenden Besprechungen mit dieser Technik. In Zeiten leerer Länderkassen war man der Meinung gewesen, dass teure Dienstreisen eingespart werden könnten, wenn man sich bei Besprechungen auf elektronische Art „in die Augen“ schauen könnte. Die Erfahrung hatte allerdings gezeigt, dass es immer noch zu viele technikfeindliche Kollegen gab, die mit der Anlage nicht klarkamen oder sich so seltsam verhielten, als wären sie bei einem Vorsprechen von Laienschauspielern für einen drittklassigen Film. Nach anfänglich starker Frequentierung hatte die Lust auf Besprechungen, die in Lachstürmen oder kindischem Kichern hinter vorgehaltener Hand endeten, sehr stark abgenommen. Selbst der Umstand, dass es sich oft um sehr ernste Themen drehte, hatte nichts an dieser Entwicklung geändert.
Coco hatte noch nie an einer solchen Unterredung teilgenommen und war gespannt, ob es so verlief, wie man es bisweilen in amerikanischen TV-Serien sah. Dort wurde ständig über riesige Videowände rund um den Globus miteinander kommuniziert. Gleich bei Betreten des Videokonferenz-Raumes war sie enttäuscht gewesen, denn es handelte sich um ein normales Büro, an dessen einer Wand eine Leinwand aufgebaut war, wie man sie schon vor zwanzig Jahren zum Betrachten von Urlaubsdias benutzt hatte. Davor standen auf einem kleinen Tisch ein Beamer und seitlich versetzt eine Videokamera auf einem Stativ. Das ganze Arrangement inklusive des Computers, der die Videokonferenz steuern sollte, war aufwendig verkabelt, und als sie alle auf den im Halbkreis arrangierten Stühlen ihre Plätze einnahmen, mussten sie aufpassen, nicht über die Kabel zu stolpern.
Nachdem Auer den Computer eingeschaltet und der Beamer seine Tätigkeit aufgenommen hatte, war das Erste, was ihr auffiel, ein kleines Rechteck in der unteren rechten Ecke der Projektion, auf dem ein verkleinertes Bild ihrer Sitzgruppe angezeigt wurde. Das große Gesamtbild war grau hinterlegt, und in der Mitte stand: „Waiting for signal“.
Auer startete ein Programm auf dem Rechner, es erschien ein Tastenfeld, und er gab eine Nummer ein, die er von dem kleinen Zettel in seiner Hand ablas.
Auf der zitternden Leinwand erschien ein Telefonsymbol, welches den ausgehenden Anruf darstellte. Ohne Vorwarnung erschien als Nächstes eine riesige Nase. Erst als Professor Mangel sich in seinem Stuhl zurücksetzte, war trotz der miserablen Bildqualität zu erkennen, wer dort das Gespräch angenommen hatte.
„Na, wenn das mal nicht die komplette Mordkommission meines Freundes Ulf ist“, bemerkte er mit einem unverschämten Grinsen. „Ich begrüße die Herren ... und natürlich die Dame ... auf das Herzlichste. Womit kann ich dienen?“
Coco war entsetzt. Die quäkende Stimme aus dem billigen kleinen Lautsprecher, der an den Computer angeschlossen war, die ständige Klötzchenbildung auf der Projektion und die zum Ton leicht asynchron laufenden und immer wieder hakelnden Bilder wirkten so unprofessionell, dass sie am liebsten laut aufgelacht hätte. Aber sie hielt sich zurück und lauschte stattdessen dem, was da kommen würde.
„Hallo Wolfgang. Sieh es mir bitte nach, dass wir nicht schon wieder nach Mainz gekommen sind, aber bei uns ist gerade ziemlich viel los“, begann Auer die Konferenz.
Mangel winkte lässig ab. „Kein Thema.“
„Sei bitte so gut und schildere uns so detailliert wie nötig mit so wenig medizinischen Fachbegriffen wie möglich, was du bisher herausgefunden hast.“
Mangel ließ sich nicht lange bitten und kam sofort zur Sache. „Okay, das sind erst mal die wichtigsten Infos, Genaueres könnt ihr im Obduktionsbericht nachlesen, der müsste eigentlich eben per Mail an euch rausgegangen sein. Todesursache war wie bei den anderen Opfern das langsame Ausbluten. Das war überhaupt nur möglich, weil der Schlag auf den Kopf zwar schwerste Verletzungen herbeigeführt hat, aber nicht sofort zum Tode führte. Insofern hat das arme Opfer Glück gehabt, dass es rein gar nichts gespürt haben dürfte. Die Kopfverletzung hat die sofortige Bewusstlosigkeit verursacht und das Verbluten dann letztendlich den Tod. Was für euch aber sicher wesentlich interessanter sein dürfte, ist, was ich zu der Vergewaltigung herausgefunden habe: Der Täter hat ein Kondom benutzt, was ich an entsprechenden Rückständen eindeutig nachweisen konnte, allerdings ...“, er machte eine dramatische Pause, „... war kein Glied im Spiel!“
Der Rechtsmediziner schien sich an den verblüfften und teilweise ratlosen Blicken zu ergötzen, bevor er fortfuhr.
„Ich habe an den Scheideninnenwänden und tiefer im Körper erhebliche Verletzungen feststellen müssen ... und zwar in einer eher ungewöhnlichen Tiefe, was bedeutet, dass ...“
„... der Täter“, fiel Coco ihm ins Wort, „das Kondom über einen harten, langen Gegenstand gezogen hat und das Opfer damit malträtiert hat!“
„Ts, ts, ts!“ Professor Mangel schüttelte den Kopf, aber sein Lächeln nahm den folgenden Worten jegliche Schärfe. „Ganz schön vorlaut, unsere junge Dame, das muss ich schon sagen. Allerdings hat sie absolut recht. Der Täter hat einen sehr harten, langen Gegenstand benutzt, über dessen Material ich aufgrund des übergezogenen Kondoms keine Aussage werde treffen können, aber er hat sich auf jeden Fall nicht persönlich an ihr vergangen, wenn ihr versteht, was ich meine.“
Coco überlegte bereits, was das über den Täter aussagen mochte. War er impotent und hatte deshalb zu dieser Ersatzhandlung gegriffen? Oder täuschte er wieder nur vor und beabsichtigte lediglich, sie alle in die Irre zu führen?
Der Fall wurde immer verworrener und undurchsichtiger.
Sie merkte, dass sie einen Moment lang nicht richtig aufgepasst hatte, denn Professor Mangel hielt gerade ein Bild in die Kamera, das allerdings durch eine mangelhafte Scharfstellung der Videooptik kaum erkennbar war.
„Ich habe euch dieses Foto auch per Mail zukommen lassen, da es in meinen Augen beweist, dass wir es mit dem nun dritten Mord ein und desselben Täters zu tun haben. Er hat die Nachricht mit einem schwarzen Textmarker auf den Rücken des Opfers geschrieben, und ich denke, ihr habt es am Tatort nicht sehen können, richtig?“
Auer hatte die Augen zusammengekniffen und versuchte, den verschwommenen Text zu lesen, was ihm offenbar kläglich misslang.
„Wir können das hier nicht lesen, Wolfgang. Die Übertragung ist wieder mal total beschissen. Was steht da?“
Mangel hatte die Fotografie weggenommen, sodass man wieder sein Gesicht sehen konnte. Nun war allerdings das Grinsen daraus verschwunden.
„Da steht: Der Nuttenjäger – ihr werdet wieder von mir hören!“
Er ließ diese Information bei allen Zuhörern ankommen, bevor er weitersprach.
„Kennt jemand von euch die amerikanische TV-Serie ,The Mentalist‘? Da spielt ein Serienmörder namens ,Red John‘ eine tragende Rolle, der an den Tatorten oder auf den Opfern einen mit Blut gemalten Smiley hinterlässt. Genau so einen hat euer Täter auch unter seinen Text gemalt. Ihr habt es hier offensichtlich mit jemandem zu tun, der ziemlich viel über Serienmörder gelesen und gesehen hat – sowohl reale Täter als auch fiktive aus irgendwelchen Serien. Es würde mich nicht wundern, wenn er irgendwann anfängt, Hannibal Lecter zu kopieren, den genialen Irren aus dem Film ,Das Schweigen der Lämmer‘.“
Er machte eine Pause und blickte ein wenig betreten vor sich auf den Tisch.
„Entschuldigt bitte, ich hoffe natürlich, dass ihr den Mann fasst, bevor es so weit kommt.“
„Geschenkt, kein Problem.“ Auer sah zu Coco, und sie spürte, wie sich sein Blick verdüsterte.
„Coco, kannst du uns aus psychologischer Sicht sagen, wie wir das alles deuten könnten? Ich gebe zu, dass ich ein wenig überfordert bin.“
Coco fühlte sich angesichts dieser Aufmerksamkeit etwas unwohl, andererseits erfragte er ja lediglich die Gedanken, die sie sich sowieso die ganze Zeit machte. Sie überlegte noch einen Moment, ehe sie anfing zu erzählen, was sie sich bisher zu genau diesem Thema überlegt hatte.