Kapitel 21 – Samstag, 06.08.

09:30 Uhr

„Sind Sie eigentlich noch ganz dicht?“, brauste der kleine und unfassbar dicke Mann auf. „Sie lassen uns vom Amtsleiter an einem Samstag hier aufs Amt bestellen, nur um uns dann blöde Fragen zu dieser noch blöderen Kuh zu stellen?“

Auer trat noch einen Schritt näher an den Mann heran, und bevor dieser zurückweichen konnte, hatte er ihn an seiner Krawatte dicht unterhalb des kaum vorhandenen Halses gepackt und zog ihn zu sich heran. Der Mann musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um wenigstens ein wenig Druck von seinem Hals zu nehmen. Auer beugte sich vor, bis seine Nasenspitze nur noch Millimeter von der Nase des anderen entfernt war.

„Jetzt passen Sie mal gut auf, Sie arrogantes Würstchen. Sie sind Beamter, ich bin Beamter. Der Unterschied zwischen uns ist, dass ich meine Arbeit mache, weil sie mir Spaß macht und ich sie für absolut notwendig erachte. Sie dagegen machen Ihre Arbeit nur, weil Sie müssen. Sie tun, was Ihnen befohlen wird, und das dann noch nicht mal gut. Dass Ihnen das keinen Spaß macht, kann ich sogar nachvollziehen. Wenn Sie aber noch einmal eine auch nur annähernd so beleidigende Bezeichnung für eine arme und grausam ermordete Frau benutzen, dann werden Sie erfahren, warum der liebe Gott Ihren Beamtenarsch so breit hat werden lassen: damit ich ihn Ihnen leichter aufreißen kann ... IST DAS KLAR?“

Die letzten Worte hatte Auer ihm ins Gesicht gebrüllt, und es waren auch ein paar Tropfen Spucke mitgeflogen. Trotz des akuten Sauerstoffmangels war das anfänglich krebsrote Gesicht des Beamten inzwischen kreidebleich geworden, und er hing wie ein nasser Sack nur noch an der von Auer gehaltenen Krawatte.

Coco befürchtete, dass der Mann sofort in sich zusammenbrechen würde, wenn Auer ihn losließ. Sie bemerkte allerdings auch, wie im Hintergrund des Großraumbüros einige der anwesenden Mitarbeiter des Koblenzer Sozialamtes hämisch grinsten. Insgesamt waren ein Dutzend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ihrem Chef zu dieser frühen samstäglichen Stunde einbestellt worden, um den Beamten der Mordkommission so gut zu helfen, wie sie nur konnten.

Nachdem Auer den Mann losgelassen hatte, war dieser zwar nicht zusammengebrochen, hatte sich aber wie ein Häufchen Elend zusammengekrümmt und war unverständliches Zeug brabbelnd in den Hintergrund getreten.

Auer stand sichtlich streitlustig vor der versammelten Mannschaft, die Hände in die Hüften gestemmt, und fragte gerade: „Na, hat noch jemand Lust, uns Schwierigkeiten zu machen, oder kann ich nun mit Ihrer aller Kooperation rechnen?“

Heftiges Kopfnicken allerseits zeigte, dass sie nun wohl kaum noch mit Widerstand zu rechnen hatten.

Coco fragte sich, ob Auers Aggressivität etwas mit dem gestrigen Abend oder dem heutigen Morgen zu tun hatte. Voller Grauen erinnerte sie sich, wie sie an diesem Morgen mit Kopfschmerzen aufgewacht war, nur um festzustellen, dass Auer neben ihrem Bett auf einem herangezogenen Stuhl gesessen hatte und ihr ein Glas Wasser mit einer sich gerade auflösenden Kopfschmerztablette hinhielt.

„Hast ... hast du ... die ganze Nacht hier gesessen?“

Er hatte väterlich gelächelt.

„Nein, ich habe auch ein paar Stunden auf deiner Couch geschlafen, aber ich bin vor über einer Stunde aufgewacht und habe mich darauf vorbereitet, dich zu versorgen, sobald du wach wirst.“

Wortlos hatte sie ihm das Glas aus der Hand genommen und das bittere Gesöff in einem Zug hinuntergeschluckt.

Sie hatten gemeinsam und schweigend das gefrühstückt, was ihr Kühlschrank hergab ... was nicht viel war. Aber jedes Mal, wenn sie versucht hatte, den vorherigen Abend anzusprechen, hatte er abgewunken.

„Nein, keine große Sache. Wir reden darüber, wenn dieser Fall abgeschlossen ist.“

Danach waren sie gemeinsam erneut mit einem Taxi zur Dienststelle gefahren, wo sie auf die anderen gewartet hatten.

Auf dem Sozialamt waren inzwischen vier Räume festgelegt worden, in denen die vom Leiter des Amtes einbestellten Mitarbeiter befragt werden sollten. Auer hatte entschieden, dass sie die Vernehmungen einzeln führen sollten, was bedeutete, dass jeder drei Zeugen zu befragen hätte. Coco war angenehm überrascht gewesen, dass sie wie ein vollwertiges Mitglied der MK alleine potenzielle Zeugen befragen durfte.

Auer hatte sich den aufmüpfigen Fettsack geschnappt und war bereits mit ihm in einem der provisorischen Vernehmungsräume verschwunden. Coco war sich nicht sicher, nach welchen Kriterien sie ihren ersten Zeugen oder Zeugin aussuchen sollte. In Ermangelung einer besseren Strategie hatte sie gefragt: „Wer meint, er könnte uns in dem Mordfall Bräunig weiterhelfen oder uns wichtige Informationen geben?“

Ein junger Mann in etwa ihrem Alter hatte sofort die Hand gehoben. Ihr waren die verächtlichen Blicke der restlichen Personen aufgefallen.

Aha, er scheint nicht wirklich beliebt zu sein. Umso besser, dann weiß er ja vielleicht etwas über die anderen und gibt es nicht so widerstrebend preis, als wenn sie eine große, friedliche Familie wären.

„Prima, dann kommen Sie mal mit mir, Herr ...?“

„Franzen ... Frederic, mit C, nicht mit K. Aber Sie können mich Freddy nennen, das machen alle meine Freunde.“

Er strahlte sie an und streckte ihr die Hand entgegen.

Nicht unattraktiv, dachte Coco, während sie ihn von oben bis unten musterte. Etwa 1,80 groß, schlank, durchtrainiert und leicht gebräunt, wirkte er mit den strohblonden Haaren und den blauen Augen wie ein Abziehbild eines Modells aus einem Katalog für Surfer-Zubehör.

Sie ignorierte die Hand. „Ich bin nicht Ihr Freund, Herr Franzen, sondern ich möchte Informationen von Ihnen, die Sie mir hoffentlich geben können. Sollten Sie andere Intentionen gehabt haben, sich zu melden, dann darf ich Ihnen sagen: Das ist weder der richtige Zeitpunkt, ein Date mit mir auszumachen, noch bin ich grundsätzlich interessiert. Also: Haben Sie mir etwas zu erzählen?“

Er hatte zwar die Hand zurückgezogen, aber nicht aufgehört, sie anzustrahlen. „Aber natürlich, Frau Kommissarin, bitte entschuldigen Sie, wenn ich irgendwie falsch rübergekommen bin und Sie beleidigt habe. Das war nicht meine Absicht.“

Coco war sich nicht sicher, ob sie ihn etwa zu unrecht so barsch angemacht hatte. Egal, es würde sich sicherlich sehr schnell herausstellen, ob er wirklich etwas zu erzählen hatte.

„Na, dann mal rein in die gute Stube.“

Sie schritt voran in den Raum, in dem sie ihre Zeugen befragen sollte. Es handelte sich um ein normales Büro, und sie nahm ohne Zögern auf dem Drehstuhl hinter dem Schreibtisch Platz. „Setzen Sie sich, Herr Franzen, setzen Sie sich.“

Sie wartete, bis er sich einen Stuhl herangezogen hatte und vor dem Schreibtisch Platz genommen hatte.

„Sind Sie damit einverstanden, dass ich unser Gespräch aufzeichne?“, stellte sie die bei Zeugenbefragungen vorgeschriebene Frage.

„Aber natürlich, gerne.“ Er strahlte sie noch immer an und beäugte sie die ganze Zeit sehr aufmerksam.

Coco stellte das moderne Diktiergerät von der Größe einer Zigarettenschachtel und mit elektronischer Speicherung vor sich auf den Schreibtisch.

„Befragung des Zeugen Frederic Franzen am Samstag, den 06.08., in den Räumen des Sozialamtes Koblenz durch Kriminalkommissaranwärterin Corinna Crott. Beginn der Befragung ...“, sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, „... um 09:20 Uhr. So, Herr Franzen, was können Sie Sachdienliches dazu beitragen, den Fall des Mordes an Gerlinde Bräunig aufzuklären?“

„Soso, Kriminalkommissaranwärterin, erstaunlich, ich hätte gedacht, Sie wären bestimmt schon Oberkommissarin, so selbstbewusst, wie Sie auftreten.“ Sein Blick hatte für keine Sekunde ihr Gesicht verlassen, als suche er nach Unsicherheit oder Zweifel.

Was für ein arroganter Schnösel!

Sie versuchte, ihrer Stimme einen eisigen Klang zu geben. „Könnten Sie bitte zur Sache kommen! Ich bin nicht an Komplimenten interessiert, und ich kann Sie auch gerne an einen der männlichen Kollegen weiterreichen, wenn Sie sich dann besser konzentrieren können.“

„Um Gottes willen, nein. Bitte entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.“ Er hatte abwehrend die Hände erhoben und strahlte sie weiterhin an. „Ich war nur so beeindruckt von Ihrer Ausstrahlung. Also, bitte, nichts für ungut, Frau ...?“

„Crott. Und nun bitte zur Sache. Was können Sie uns über Frau Bräunig und ihr Verhältnis zu den Mitarbeitern dieses Amtes sagen?“

Er legte die Handflächen aufeinander, dann verschränkte er die Finger ineinander und legte die so gefalteten Hände vor sich auf den Tisch.

Sehr gepflegte Hände, so wie der junge Mann überhaupt einen sehr gepflegten und adretten Eindruck machte.

Habe ich vielleicht vorschnell geurteilt und er hat mich nur auf dem falschen Fuß erwischt? Er ist ja grundsätzlich sehr höflich.

„Frau Bräunig war eine eigentlich ganz nette alte Dame“, begann er bedächtig, „aber sie war nicht wirklich beliebt hier. Ich selbst hatte nicht so viel mit ihr zu tun, aber der Kollege Brams hat sehr unter ihr gelitten.“

„Wie darf ich das verstehen ... gelitten?“

„Nun ja, Sie haben ihn ja eben erlebt. Es ist der Kollege, der sich gerade einen schweren Rüffel von dem anderen Kommissar eingefangen hat. Er ist manchmal ein wenig ... nun ... aufbrausend und unbeherrscht. Ich möchte ja nichts Schlechtes über Kollegen sagen ...“

Aber du tust es gerade, dachte Coco.

„... aber er hatte es sich anscheinend zur Lebensaufgabe gemacht, ihr das Leben so schwer wie möglich zu machen. Er hat sie uns gegenüber auch immer wieder als ,Sozialschmarotzerin‘ bezeichnet, was ich nie besonders nett fand. Diese armen alten Leute mit den niedrigen Renten haben es nicht leicht im Leben, und während ich eigentlich immer versuche, ihnen im Rahmen unserer Möglichkeiten zu helfen, ist Brams da eher der harte und unbarmherzige Typ.“

„Einen Moment bitte, ich müsste gerade mal etwas weitergeben.“

Coco hatte ihr Smartphone aus der Tasche gezogen und begann mit geübten Fingern eine SMS an Ulf Auer zu schreiben.

MEIN ZEUGE SAGT, BRAMS SEI INTIMFEIND VOM OPFER GEWESEN UND HATTE SIE AUF DEM KIEKER!

„Entschuldigen Sie bitte die Unterbrechung, ich musste nur eine kurze Nachricht absenden.“

Er lächelte wissend. „Sie haben Ihren Kollegen darüber informiert, was ich über Brams gesagt habe, nicht wahr?“

„Sie sind aber gut informiert. Kennen Sie sich in Polizeiarbeit aus?“

„Nun ja, ich hatte selbst mal Interesse daran, zur Polizei zu gehen, aber man hat mein Potenzial offenbar nicht erkannt.“

Sein Blick hatte sich kurz verdunkelt, aber sofort wieder aufgehellt, als er fortfuhr: „Aber der Job hier ist auch recht gut, wenn man sich als Ziel gesetzt hat, den Menschen zu helfen.“

„Was können Sie mir denn noch über die anderen Kontaktpersonen zu Frau Bräunig sagen? Gab es da noch andere, die ebenfalls mit ihr im Streit lagen?“

Er holte tief Luft und sah sie mit einem mitleidigen Lächeln an.

„Oh ja, da gibt es noch ein paar andere. Die haben sie zwar nicht so gehasst wie Brams, aber sie hatten auch Probleme mit ihr. Da fällt mir auf Anhieb ...“

***

„Herr Brams, ich weiß, dass Sie nicht wie eben ausgesagt ein gutes Verhältnis zu Frau Bräunig hatten. Ich bitte Sie ein letztes Mal, hier die Wahrheit zu sagen und mir Ihr Verhältnis zu dem Mordopfer so zu schildern, wie es wirklich war.“

Auer hatte sein Handy wieder in der Gürteltasche verstaut und blickte den kleinen, dicken Mann mit zusammengezogenen Brauen an. „Also? Wie war das nun wirklich?“

„Wer hat behauptet, ich hätte kein gutes Verhältnis zu ihr gehabt?“ Er hatte sich halb aus seinem Stuhl erhoben, und seine Gesichtsfarbe wandelte sich wieder von einem blassen Grau in ein leuchtendes Rot. „Ich will wissen, wer mir da was anhängen will!“, schrie er nun wieder unbeherrscht.

„Setzen Sie sich wieder hin! Sofort!“ Auer war nun auch wieder etwas lauter geworden. „Es geht Sie nichts an, woher wir unsere Informationen beziehen, aber ich denke mal, Sie regen sich nur deshalb so auf, weil diese Informationen der Wahrheit wesentlich näher kommen als Ihre bisherige Darstellungsweise. Also nun zum letzten Mal: Wie war Ihr Verhältnis zu Frau Bräunig wirklich? Warum haben Sie ihr gedroht, ihr etwas anzutun, wenn sie nicht aufhört, das Sozialamt zu belästigen?“

Brams hatte sich in seinen Stuhl fallen lassen und saß dort nun wie ein Häufchen Elend.

Auer sah sich darin bestätigt, dass es immer von Vorteil war, eine Vermutung in Form einer Behauptung zu äußern. Man erweckte den Eindruck, mehr zu wissen, als man wirklich wusste, ohne zu lügen. Das deutsche Strafprozessrecht verbot es, Zeugen oder Beschuldigte zu belügen oder zu täuschen, um von ihnen aufgrund dieser Täuschung Informationen zu bekommen, die sie sonst vielleicht nicht preisgegeben hätten. Aber seine in einer Frage formulierte Behauptung erfüllte diesen Tatbestand nicht.

Brams sah ihn entgeistert an.

„Das wissen Sie? Oh Gott, das hab ich doch nicht wirklich gemeint. Die blöde Kuh ist mir nur so auf die Nerven gegangen. Da hab ich halt gehofft, ich könnte sie abschrecken, dass sie uns endlich mal in Ruhe lässt mit ihren ständigen Anträgen.“ Seine Stimme hatte nun einen weinerlichen Ton angenommen. „Ich hätte ihr doch nie was getan, wirklich nicht. Das war doch nur eine leere Drohung, um ihr halt Angst zu machen. Wenn ich gewusst hätte, dass ...“ Brams ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.

Entweder ist er ein begnadeter Schauspieler, was ich mir bei diesem Würstchen nicht vorstellen kann, oder er hat wirklich nichts mit den Morden zu tun.

Der plötzliche Zusammenbruch und das Eingeständnis, dass er dem Opfer gedroht hatte, passten so gar nicht zu dem Bild, das Auer sich von dem Täter gemacht hatte. Er mochte sich täuschen, aber er war sich ziemlich sicher, dass er mit seinem Gefühl, gerade eben nicht dem Täter gegenüberzusitzen, richtiglag.

„Also, da wir ja nun näher an der Wahrheit sind, schildern Sie bitte mal in allen Einzelheiten, was Ihnen die arme Frau Bräunig getan hat, was Sie im Gegenzug getan haben, aber vor allem, ob sie noch mit anderen Ihrer Kollegen im Streit lag.“

Auer machte sich auf eine längere Ausführung zu diesem Thema gefasst.

14:00 Uhr

Es war eine anstrengende Session gewesen, und Coco hatte nicht zum ersten Mal feststellen müssen, dass die Darstellung von Zeugenbefragungen im Fernsehen so weit von der Realität abwichen, dass man entweder lachen musste oder einem die Tränen kamen. Andererseits hätte jeder „Tatort“ oder jede „SOKO Soundso“ mehrere Stunden gedauert, wenn er denn realistisch dargestellt worden wäre. Im Fernsehen machten sich die Kommissare nie Notizen, auf Tonträger gespeicherte Vernehmungsprotokolle wurden niemals abgetippt und die Ergebnisse mehrerer Ermittler nur selten miteinander verglichen.

Nach Abschluss der Befragungen hatten sie sich in einem der Büros noch einmal zusammengesetzt, kurz die Ergebnisse verglichen und erst anschließend die zum Warten verdonnerten Zeugen entlassen. Es war nicht wirklich ergiebig gewesen, was sie an diesem Morgen hatten in Erfahrung bringen können. Selbst der Hinweis auf Brams, den aufbrausenden und streitbaren Beamten, der dem Opfer gedroht hatte, war als sehr unwahrscheinlich vorläufig zu den Akten gelegt worden.

Coco machte sich nach wie vor Gedanken über Frederic Franzen. Wie sollte sie den jungen Mann bewerten? Er war attraktiv, ohne Zweifel. Er hatte Manieren und war eloquent. Wenn sie ihn gelassen hätte, wäre sie sicherlich Empfängerin zahlreicher Komplimente geworden. Aber er hatte auch etwas Eigenartiges an sich. Die Art, wie er sie ständig fixiert hatte, war beängstigend gewesen.

Ihr fiel auf einmal wieder ein, was sie am gestrigen Tag während der Videokonferenz zum Thema „Soziopath“ und zur Beschreibung eines solchen gesagt hatte: großes Ego, manipulativ, charmant, ständiger Blickkontakt. Traf das nicht alles auch auf Frederic Franzen zu? Irgendwie wollte sie nicht glauben, dass dieser gut aussehende junge Mann ein irrer Serienmörder sein könnte.

Aber ist es nicht genau das, warum ein Soziopath eben nicht so leicht auffällt?

Sie nahm sich ein Herz und brachte das Thema zur Sprache.

„Leute, ich muss was sagen ... und bitte, lacht mich nicht aus, aber ich hab da so ein blödes Gefühl.“

Sie schilderte nicht nur den Inhalt des Gespräches mit Franzen, sondern auch sein Verhalten und ihren Eindruck. Sie erinnerte nochmals an ihre Äußerungen zu den Wesensmerkmalen eines Soziopathen. Nach Ende ihrer Ausführungen blickte sie abwartend die anderen an. Harrys Blick war nicht anders als „äußerst skeptisch“ zu bezeichnen. Duben wiegte den Kopf überlegend hin und her, äußerte sich aber nicht.

Auer ergriff das Wort: „Nach deiner Beschreibung des Gesprächsverlaufs komme ich zu der gleichen oder zumindest einer ähnlichen Einschätzung. Letztendlich bleibt uns nichts anderes, als das Bürschchen genau zu überprüfen. Da wir momentan nicht auf Fischs Kompetenz im Recherchieren im Internet zurückgreifen können, bleibt nur die altbewährte Methode. Wir müssen unsere Quellen bei den Ämtern und Behörden anzapfen.“ Er überlegte noch einen kurzen Moment, bevor ihm eine neue Idee kam. „Harry, du hast doch die längsten Connections hier im PP, oder? Könntest du denn mal versuchen, herauszufinden, ob sich dieser Franzen tatsächlich mal bei der Polizei beworben hat? Und wenn ja, warum wurde er abgelehnt? Da muss es doch Unterlagen drüber geben. Angesichts seines Alters können die Unterlagen auch noch nicht sehr alt sein.“

„Hallo? Ulf, heute ist Samstag! Wen soll ich denn da erreichen?“

„Ich müsste mich schon schwer täuschen, wenn du nicht die Privatnummer der einen oder anderen Kollegin aus der Aktenhaltung hast, oder sehe ich das falsch?“

Harry wand sich ein wenig, knickte dann aber ein.

„Okay, hast ja recht. Ich seh mal, was ich machen kann.“

Er schnappte sich sein auf dem Tisch liegendes Handy und verließ den Raum.

„Und was machen wir jetzt noch?“, fragte Duben.

„Wir checken noch mal unsere Mails, ob es irgendwelche neuen Erkenntnisse aus der KTU oder der Gerichtsmedizin gibt, tragen sie nötigenfalls auf unserer Pinnwand ein, und dann machen wir Feierabend.“ Auer zuckte mit den Achseln. „Mehr fällt mir im Moment auch nicht ein. Ach so, ja, ich muss ja noch unserer Frau Oberstaatsanwältin Bericht erstatten. Darum kümmere ich mich, wenn wir die Infos auf den Rechnern gecheckt haben.“

Coco war sein säuerlicher Blick nicht entgangen, als er die Oberstaatsanwältin erwähnt hatte. Ob er sich heute Abend mit ihr treffen würde? Und wenn ja, würden sie im Bett landen? Was hatte die gestrige Episode, als er sie wie ein väterlicher Freund sicher nach Hause gebracht hatte, zu bedeuten?

Fragen über Fragen, auf die sie mit hoher Wahrscheinlichkeit heute keine Antwort mehr bekommen würde.