Kapitel 27
Büro der MK – 13:30 Uhr
„Ich habe eben mit ihr gesprochen. Sie war mal kurz auf der Dienststelle und hat in ihrem Computer nachgesehen. Ihr könnt von Glück reden, dass ich bei ihr so einen Stein im Brett habe, sonst hätte sie mir die Info mit Sicherheit nicht gegeben. Und die ist wirklich nicht ohne!“
„Spann uns nicht unnötig auf die Folter, Harry, komm zur Sache.“ Auer musste sich beherrschen, um nicht ungehalten zu reagieren. Er war nicht aufgelegt für spannende Rätselspiele.
Seit ihrer Rückkehr vom Tatort und der Auflistung aller möglichen Ermittlungsansätze war die Truppe nicht untätig gewesen. Dabei waren die Möglichkeiten an einem Sonntag etwas eingeschränkt, da Behörden und Geschäfte geschlossen hatten und Privatpersonen oft in irgendwelchen Freizeitaktivitäten unterwegs waren.
Duben und Coco waren in dem Sportstudio gewesen, das Beate Furch besucht hatte. Dort hatten sie aber nichts wirklich Weiterführendes erfahren. Sie war eine von vielen Frauen gewesen, die dort regelmäßig trainierten. Keinem Trainer war etwas Besonderes an ihr aufgefallen, und es konnten keine Freundinnen oder nähere Bekannte ausgemacht werden.
Einem der Trainer war eingefallen, dass sie einmal einem männlichen Clubmitglied eine herbe Abfuhr erteilt hatte, als er sie wohl etwas plump hatte anmachen wollen. Das war allerdings alleine noch kein Grund, diesen Mann als irren Serienkiller zu verdächtigen. Also wieder eine Sackgasse.
Fisch hatte in seinen Internetquellen recherchiert und versucht, Bewegungsprofile der Opfer zu erstellen. Dazu hatte er Auswertungen der Handybewegungen beantragt, deren Ergebnisse er spätestens Montag erwartete. Da aber nur zwei der ersten drei Opfer überhaupt ein Handy besessen hatten und von dem vierten Opfer noch nicht mal die Identität bekannt war, versprach sich Auer auch davon nicht wirklich viel ... es sei denn, die mitgeteilten Bewegungsprofile wiesen auf Orte hin, von denen man wusste, dass auch der obdachlose Arne Beisicht sich dort aufgehalten hatte.
Nun saßen sie wieder zusammen, und Auer drängte Harry, endlich seine Erkenntnisse zu teilen.
„Also, passt auf“, machte Harry es noch einmal spannend. „Frederic Franzen hat sich tatsächlich vor drei Jahren bei der Polizei beworben und hat den Eignungstest eigentlich mit Bravour bestanden. Tja, aber eben nur eigentlich.“
„Harry, bitte!“
„Okay, okay. Man hat ihm eine überragende Intelligenz bescheinigt, und sportlich fit war er auch, aber ... er ist durch die psychologische Begutachtung gefallen.“
„Warum?“, konnte Coco sich nicht zurückhalten zu fragen.
„Das kann ich euch sagen, auch wenn ich nicht alles verstanden habe, was mir die Kollegin so vorgelesen hat. Zusammengefasst bedeutet es wohl, dass er an einer Art Gottkomplex leidet, sich allen anderen Menschen überlegen fühlt und Recht nicht wirklich von Unrecht unterscheiden kann. Bei den Testfragen hat sich wohl offenbart, dass er die Befugnisse der Polizei bis ins Unendliche ausdehnen würde, weil er der Meinung war, der Polizist stehe so weit über dem Normalbürger, dass er alles tun und lassen kann, was er für richtig hält. Nachdem man ihm das negative Ergebnis des Tests mitgeteilt hatte, muss er ziemlich ausgerastet sein und die Kollegen und Ärzte übelst beschimpft und diffamiert haben.“
Alle hatte ihm gespannt gelauscht, und Coco war es wieder, die ihre Gefühle nicht zurückhalten konnte.
„Ich hab’s gewusst. Das passt genau. Das muss unser Mann sein!“
Bevor Auer sie warnen konnte, keine vorschnellen Schlüsse zu ziehen, setzte Harry noch einen drauf.
„Na, dann warte mal, bis du das hörst, Mädchen. Eine der letzten von vielen Drohungen, die er dem Prüfungskomitee gegenüber ausgestoßen hat, war ... und jetzt haltet euch fest: ... und es ist noch nicht zu Ende! Na, kommt euch das nicht bekannt vor?“
Nun war auch Auer verblüfft. Das war der Text, der auf der Klappkarte vor der unbekannten Leiche im Forum Confluentes gestanden hatte.
„Jetzt“, erwiderte Auer noch immer verblüfft, „haben wir auf jeden Fall genug Anhaltspunkte für einen Durchsuchungsbeschluss bei Franzen und für eine Vernehmung als Tatverdächtiger.“
Er hatte es kaum gesagt, als ihm wieder einfiel, was Sandra ihm am Vorabend gesagt hatte, bevor er seinen unrühmlichen Abgang aus dem Hotelzimmer hingelegt hatte.
Soll ich es ihnen erzählen oder einfach darüber hinweggehen? Kann ich es mir leisten, Sandras Anweisungen zu ignorieren? Immerhin hat sie es in einem emotionalen Zustand gesagt, der nichts mit nüchterner Überlegung oder Logik zu tun gehabt hatte, das muss ich ihr zugutehalten.
Er kämpfte noch mit sich, als die Tür zu ihrem Büro aufflog und ein tobender Wasgau hereinstürmte. In seinem Schlepptau befanden sich sowohl Kriminaldirektor Arne Müller, der Leiter der Kriminalinspektion, als auch ... Sandra Hartung.
Oh, oh, dachte Auer, das bedeutet nichts Gutes.
Schreiend kam Wasgau auf ihn zugestürmt, wobei er ein iPad wedelnd vor sich hertrug.
„WER HAT DAS VERBOCKT? WER? DAS IST EINE KATASTROPHE. DER SCHULDIGE KANN SCHON MAL SEINEN HUT NEHMEN!“
Auer stellte sich ihm in den Weg und versuchte, ihn so ruhig wie möglich anzusprechen. „Beruhigen Sie sich, Herr Wasgau. Vielleicht sagen Sie uns erst mal, was eigentlich los ist. Dann können wir Ihnen eventuell auch Auskunft geben, wen Sie lynchen dürfen.“
„DAS IST LOS, SIE VOLLIDIOT! SO WAS NENNEN SIE DISKRETE ERMITTLUNGEN? PAH, DASS ICH NICHT LACHE!“
Mit diesen Worten warf er das iPad in Auers Richtung, der es gerade noch so fangen konnte. Er drehte es so, dass er die darauf abgebildete Internetseite lesen konnte ... und verstand sofort, was Wasgau so aus der Ruhe gebracht hatte. Er las den Text und reichte das Gerät an den schräg hinter ihm stehenden Duben, der ebenfalls schweigend las und es dann an Harry weiterreichte.
Wasgau stand noch immer mit nun vor der Brust verschränkten Armen und wutschnaubend vor Auer. Dicht hinter ihm, leicht nach rechts und links versetzt, standen der Kriminaldirektor und die Oberstaatsanwältin. Keiner der drei sprach ein Wort, und alle beobachteten schweigend, wie einer nach dem anderen den Text auf dem iPad las. Erst als Coco das Gerät an Auer zurückgab, ergriff Wasgau wieder das Wort.
„Und? Was haben Sie sich dabei gedacht?“
„Wobei?“
„Na, dass Sie dieses Foto an die Presse gegeben haben, steht ja wohl außer Frage. Wer sonst hätte denn ein Interesse daran, die Presse mit der Nase darauf zu stoßen, dass es einen Serienkiller gibt, nur um zu beweisen, dass seine Theorie von Anfang an richtig war?“
Auer sah ihn kopfschüttelnd an.
„Ich glaube das nicht. Ich habe immer gedacht, es wäre nur ein dummer Spruch, aber es scheint ja wirklich etwas dran zu sein.“
Er sah die Fragezeichen in Wasgaus Gesicht, und er fuhr ohne eine Regung im Gesicht fort: „Mit dem Gehirn ist es wie mit dem Magen: Man sollte ihm nichts zumuten, was es nicht verdauen kann.“
Er ließ den völlig verdutzten Wasgau stehen und ging zu der Wand, an der die Tatortfotos angeklebt waren. Dort blieb er stehen und drehte sich zu den drei Überraschungsgästen um.
„Ich darf Ihrer aller Aufmerksamkeit auf dieses Tatortfoto richten, welches wir übrigens erst vor wenigen Minuten erhalten haben. Vergleichen Sie bitte dieses Foto mit dem Foto in dem Artikel der Onlinezeitung. Was fällt Ihnen auf?“
Alle drei waren herangetreten, und Wasgau hielt das iPad nach oben, sodass sich die beiden Bilder besser vergleichen ließen.
„Sie sind nicht aus demselben Blickwinkel gemacht worden“, bemerkte Wasgau, was ihm einen bösen Blick seines Vorgesetzten einbrachte. „Ach, seien Sie doch einfach still, Wasgau“, zischte der ihn an.
Sandra Hartung bemerkte es dagegen sofort.
„Auf dem Bild in der Zeitung fehlt diese Karte, die hier vorne im Blut steht. Das gibt’s doch gar nicht. Das heißt ja ...“
„Genau“, fiel Auer ihr ins Wort, „dieses Foto kann nur der Täter gemacht haben, bevor er die Klappkarte im Blut platziert hat. Er will mehr Aufmerksamkeit, vor allem bei der Presse, und er will uns bloßstellen, uns als unfähig darstellen.“
Auer drehte sich zu seinem Team um, das dem gesamten Vorgang sprachlos und staunend gefolgt war.
„Fisch, du machst dich sofort auf den Weg zu der Redaktion dieser Onlinezeitung und findest raus, auf welchem Weg das Foto dorthingelangt ist. Wir anderen machen uns an unsere Arbeit.“
Fragend blickte er zu den drei noch immer vor der Pinnwand stehenden Vorgesetzten.
„Und? War’s das jetzt? Oder haben Sie noch andere unhaltbare Vorwürfe? Nein? Gut, dann lassen Sie uns jetzt unsere Arbeit tun, damit wir diesen Wahnsinnigen aufhalten können, bevor das nächste Opfer dran ist.“ Er sah auf seine Uhr. „Und wir haben unter Umständen weniger als 36 Stunden Zeit dafür.“
Müller und Wasgau blickten betreten zu Boden. Müller sah allerdings nach wenigen Sekunden Auer ins Gesicht und nickte zustimmend. Die beiden drehten sich um und verließen das Büro wie geprügelte Hunde.
Lediglich Sandra Hartung war stehen geblieben und sah Auer mit einem leichten Lächeln auf den Lippen an.
„Gut gebrüllt, Löwe. Und wie geht es jetzt weiter?“
„Vorausgesetzt, du verlässt dich ausnahmsweise mal auf dein Gehirn anstatt auf deine Hormone, würde ich gerne dem Tipp einer jungen, noch unerfahrenen Kollegin folgen, der mir eigentlich sehr sinnvoll erscheint, und einem gewissen Frederic Franzen auf den Zahn fühlen.“
Sie blickte ihn überlegend an, dann erschien wieder dieses leichte Lächeln in ihrem Mundwinkel.
„Okay, du hast mich überzeugt, aber nächstes Mal schwärmst du mir nicht im Bett von einer superschlauen jungen Kollegin vor, klar?“
Auer lächelte nun ebenfalls, streckte die Hand aus und fasste Sandra zärtlich an der Wange an. Dann streckte er seine Hand weiter aus, fasste unter ihren Haaren in ihren Nacken und zog sie zu sich heran. Seine Lippen pressten sich hart auf ihre, und nach einem kurzen, anfänglichen Zögern entspannte sie sich und erwiderte den Kuss.
Erst als ein zögerlicher Applaus aus dem Hintergrund ertönte, lösten die beiden sich voneinander.
Sandra Hartung blitzte die grinsenden Kollegen ihres Liebhabers an, und das Klatschen erstarb.
„Keiner von Ihnen hat hier irgendwas gesehen, ist das klar? Wenn Sie Freude an Ihrem Beruf haben und ihn noch eine Weile ausüben wollen, halten Sie besser den Mund. Wenn mir irgendwelcher Tratsch aus dem Präsidium zu Ohren kommt, können Sie Ihr Testament machen.“
Sie lächelte noch einmal Auer zu und schickte sich an, den Raum zu verlassen. Aber Auer war noch nicht ganz fertig.
„Ach ... ähm ... Frau Oberstaatsanwältin, es wäre sehr förderlich, wenn Sie einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung des Frederic Franzen erwirken könnten. Die Kollegen lassen Ihnen gerne die erforderlichen Daten zukommen.“
Sie nickte ihm lächelnd zu und ging.