Kapitel 33

Präsidium – 10:00 Uhr

Es hielt ihn nicht auf seinem Platz. Auer tigerte unruhig hin und her, holte sich einen Kaffee, setzte sich wieder an den Schreibtisch, sprang erneut auf und stellte sich vor die große Karte, die Coco so akkurat mit den verschieden­farbigen Fähnchen versehen hatte.

Ihm erschloss sich nicht das große Bild. Er war nicht in der Lage, irgendwelche Rückschlüsse aus den Positionen der Fähnchen zu schließen.

„Na endlich!“, hörte er Fisch laut ausrufen.

„Was gibt’s? Was ist gekommen?“, fragte er aufgeregt und neugierig.

„Ich hab die Ergebnisse der Handyauswertungen von den Providern bekommen. Jetzt können wir vielleicht herausfinden, wo die Kreuzungspunkte der einzelnen Personen liegen. Das sollte uns in die eine oder andere Richtung nützlich sein.“

Auer musste sich zwingen, sich seine Enttäuschung nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Er hatte gehofft, die Ergebnisse der DNA-Untersuchung seien endlich da.

Unterdessen druckte Fisch sich die per Mail übersandten Daten aus und begab sich, noch während die letzten Ausdrucke liefen, mit einem Stapel Papier zu der Wand mit der Karte. Bereits im Vorfeld hatte er sich mit Nadeln und verschiedenfarbigen Wollfäden ausgerüstet, und Auer fragte sich, woher er die wohl bekommen hatte. Handelte es sich um etwas, was man im Geschäftszimmer anfordern konnte, oder hatte er die Materialien nicht doch von seinem privaten Geld im nächsten Bastelladen gekauft?

Eine Zeit lang sah er Fisch zu, wie er jeweils nach Blick in die Unterlagen eine Nadel in die Karte pinnte und dann den Faden von der letzten Nadel zur gerade eingesteckten führte. Auer konnte sich vorstellen, dass es eine gute Übersicht geben würde, wenn Fisch erst mal fertig war. Vielleicht konnten sie ja doch daraus nützliche Informationen ziehen.

Er war so in Gedanken versunken, dass er das zaghafte Klopfen an der Tür erst beim zweiten Mal wahrnahm.

„Herein!“

Auer kannte den Kollegen nicht, aber aufgrund des Laborkittels vermutete er, dass es sich um einen Mitarbeiter des Kriminallabors handeln könnte. Der junge Mann schien unsicher und sah sich erst mal in dem Raum um, in dem er offenbar noch nie zuvor gewesen war.

„Hauptkommissar Auer?“, fragte er in keine bestimmte Richtung.

„Ja, bitte, was haben Sie denn für mich?“

„Ich ... äh ... soll Ihnen die Ergebnisse des DNA-Abgleichs erläutern ... hat zumindest mein Chef gesagt.“

Auer war verblüfft. Was hatte das zu bedeuten?

„Was heißt denn da erläutern? Ich dachte, es gibt nur positiv oder negativ? Was muss man denn da noch erläutern?“

Kopfschüttelnd stand er vor dem jungen Mann, der total verschüchtert wirkte und sich wand, als müsse er eine schlechte Nachricht überbringen und erwartete, dafür gelyncht zu werden.

Auer erkannte seine Not und versuchte ihn zu beruhigen: „Jetzt beruhig dich erst mal, Junge. Komm, setz dich, und ich bring dir ne Tasse Kaffee, okay?“

Als er zwei Minuten später die Tasse mit dem dampfenden Kaffee vor dem Labormitarbeiter auf den Besprechungstisch gestellt und sich dazugesetzt hatte, war der junge Mann schon merklich ruhiger. Auer konnte es nun wagen, ihn nach den Ergebnissen zu fragen: „Also, wie sieht es denn aus? Was sollst du mir erklären? Stimmen die DNA-Spuren nun überein oder nicht?“

Erneut begann der Junge sich zu winden. Nun hatte Auer aber nicht mehr die Geduld, ihn weiter beruhigen zu wollen. Er wollte endlich wissen, woran er war.

„Also, jetzt mal zur Sache, wie ist das Ergebnis?“

„Nun ja ... eigentlich stimmen sie zwar nicht überein, aber ... äh ... auf der anderen Seite aber dann doch ... irgendwie.“

Nun war Auer selbst sprachlos. Damit hatte er nicht gerechnet. Was hatte das zu bedeuten? „Bitte etwas genauer, Junge.“

„Also, mein Chef meint, es bestehen so viele Übereinstimmungen zwischen der DNA dieses Franzen und der DNA von dem Spurenträger, dass ... äh ... dass es sich um sehr nahe Verwandte handeln muss.“

„Wie nah?“, fragte Harry, der aufmerksam geworden war und inzwischen zusammen mit Fisch neben dem Besprechungstisch stand.

Der Labormitarbeiter schien langsam aufzutauen oder es war, weil er sich nun auf Terrain bewegte, das ihm vertrauter war. Er wandte sich zu Harry und begann zu dozieren: „Da die DNA in beiden Fällen männlich ist und der Verwandtschaftskoeffizient bei fast 0,74 liegt, kann man mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es sich bei dem Spurenleger und dem Tatverdächtigen um Brüder handelt. Es müssen auch sogenannte Vollgeschwister sein, also nicht etwa Halbbrüder, sonst wäre der Verwandtschaftskoeffizient wesentlich niedriger, so etwa bei 0,25.“

Alle Anwesenden starrten den jungen Mann mit offenem Mund an. Harry war derjenige, der als Erster seine Sprache wiederfand: „Ich bin zwar schon bei diesem Verwandschaftsko... Dingsbums ausgestiegen, aber ich hab zumindest kapiert, dass man sehr wahrscheinlich die Hautzellen eines Bruders von Franzen am Tatort gefunden hat. Das kann ja dann wohl kein Zufall mehr sein, oder?“

Er blickte fragend in die Runde. „Oder?“, wiederholte er beharrlich und nun auch etwas lauter, weil niemand ihm antwortete.

Auer schüttelte den Kopf. „Nein, das kann auf keinen Fall ein Zufall sein.“

Zu dem jungen Labortechniker gewandt, sagte er: „Danke, mein junger Freund, richte deinem Chef aus, er hat uns einen großen Gefallen getan, und er hat was gut bei mir. Sollte sich noch irgendwas anderes ergeben, möchte er mich bitte sofort auf dem Handy informieren. Meine Nummer hat er.“

Dann stand er auf und sah die beiden Kollegen mit einem triumphierenden Blick an. „Ich denke mal, wir sind gerade einen riesigen Schritt vorangekommen. Allerdings hat uns der gute Herr Franzen noch einiges zu erklären. Aber wir wissen ja nun, wonach wir fragen müssen. Harry, begleitest du mich zur Vernehmung? Du hältst hier die Stellung, Fisch.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, eilte er zur Tür, und Harry hatte Mühe, ihm hinterherzukommen.

10:20 Uhr

Frederic Franzen sah bei Weitem nicht mehr so arrogant und überheblich aus wie noch am Vortag. Die Nacht im Gewahrsam hatte ihm, wie übrigens den meisten Menschen, die eine solche Erfahrung noch nie gemacht hatten, doch sehr stark zugesetzt. Er wirkte ziemlich derangiert und fahrig, die Haare standen ihm zu Berge, und er roch auch nicht mehr gerade frisch.

Beides war Auer und Harry egal. Ihnen ging es um die Informationen, die sie sich von ihm erhofften. Die Chancen standen heute erheblich besser als gestern, dass er fast alles tun würde, um dem Knast zu entgehen, wenn er, wovon Auer inzwischen zwingend ausging, tatsächlich unschuldig war. Noch während sie darauf gewartet hatten, dass ein Uniformierter den Tatverdächtigen aus der Arrestzelle in den Vernehmungsraum brachte, hatten die beiden Ermittler die Strategie besprochen, mit der sie ihn zu knacken gedachten.

Franzen hatte sich gerade gesetzt, und Auer gab ihm nicht die Gelegenheit, sich großartig Gedanken zu machen, sondern ging sofort in die Vollen.

„So, Herr Franzen, die Karten sind neu gemischt, und ich habe gerade mit dem Staatsanwalt gesprochen. Es ist nur noch die Frage, ob wir Sie wegen Mittäterschaft am gemeinschaftlichen Mord in mehreren Fällen oder der Beihilfe zum Mord anklagen, aber Sie können sicher sein, dass Sie auf jeden Fall eine mehrere Jahre dauernde Haftstrafe absitzen werden.“

Auer sah, dass Franzen ihn mit verständnislosem Blick ansah, und ließ die Worte einige Sekunden wirken, bevor er nachsetzte: „Es wird einfach nur zu klären sein, ob Sie Ihren Bruder aktiv unterstützt haben oder uns nur seine Täterschaft verschwiegen und ihn damit gedeckt haben.“

Das saß!

Franzen verlor das letzte bisschen Farbe im Gesicht, sein Mund klappte hilflos auf und zu, und seine Hände begannen zu zittern. Er musste sich mehrfach räuspern, bevor er in der Lage war, auch nur ein Wort zu sagen.

„Mein ... Bruder?“

„Versuchen Sie erst gar nicht, uns was vorzumachen“, setzte Harry absprachegemäß nach. „Wir wissen alles über Ihren Bruder. Also sagen Sie uns, ob Sie ihm geholfen oder ihn nur gedeckt haben.“

„Ich ... ich ... das kann doch nicht sein ... ich ...“

Der Schock, den Franzen soeben durchlebte, erschien Auer echt zu sein, und er fragte sich, ob Franzen wirklich nichts von der Täterschaft seines Bruders gewusst hatte. Erst jetzt ging ihm auf, dass sie die Vernehmung ein wenig vorschnell begonnen hatten. Es wäre vielleicht von Vorteil gewesen, zunächst mit den Meldedaten zu versuchen, den Bruder ausfindig zu machen. Bisher hatten sie weder einen Namen noch einen Wohnort. Aber das war nun nicht mehr zu ändern, und wenn alles normal verlief, würde Franzen ihnen alle erforderlichen Daten gleich liefern.

„Mein Bruder ... mein kleiner Bruder ...“ Die Tränen liefen ihm übers Gesicht, und er schüttelte in einem fort den Kopf, als könne er nicht begreifen, was hier gerade geschah.

„Wo hat er ... warum ... weshalb ist er ...?“ Franzen bestand für jeden Beobachter deutlich erkennbar nur noch aus Fragen. Er konnte ganz offensichtlich nicht fassen, was die Beamten ihm gerade eröffnet hatten, und machte einen total überforderten Eindruck.

Da Auer das Gefühl hatte, dass die gerade gesehenen Emotionen echt und nicht geschauspielert waren, beschloss er, die Befragung wieder in etwas ruhigere Bahnen zu lenken.

„Wann haben Sie Ihren Bruder zum letzten Mal gesehen?“

„Zum letzten Mal ... zum letzten Mal ... wann?“

Franzen war nur noch ein Schatten seiner selbst. Innerhalb von Sekunden hatte er sich in ein vor sich hin­brabbelndes Wrack verwandelt, das kaum noch in der Lage schien, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen.

„Zum letzten Mal ... das muss zwölf oder dreizehn Jahre her sein ... im Kinderheim ... Kinderheim ... ja, das Heim ... was ist nur passiert?“

Seine Stimme war kontinuierlich leiser geworden und am Ende kaum noch zu verstehen. Weiterhin strömten die Tränen seine Wangen hinunter, bis er schließlich schluchzend auf dem Tisch zusammenbrach.

Als Franzen sich fünfzehn Minuten später dank einer Spritze von einem eilends herbeigerufenen Sanitäter und einem heißen Milchkaffee wieder so weit erholt und unter Kontrolle hatte, dass man mit ihm reden konnte, versuchte Auer es erneut. Diesmal schlug er einen verständnisvollen Ton an.

„Herr Franzen, ich habe den Eindruck, dass wir einen Sie sehr belastenden Punkt Ihrer Vergangenheit angesprochen haben. Wenn Sie wirklich nichts mit den Morden zu tun haben, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, uns alles zu erzählen. Helfen Sie uns, diesen Wahnsinnigen zu stoppen.“

Er wartete ab, ob seine Ansprache die erhoffte Wirkung auf Franzen haben würde.

Der stierte vor sich hin und sagte zunächst nichts. Auer war bereit, ihm noch einige Momente Zeit zu geben. Als Franzen nach zwei Minuten noch immer nichts gesagt hatte, machte Auer noch einen weiteren Versuch.

„Herr Franzen, tun Sie sich einen Gefallen und erzählen Sie uns, was Sie so betroffen macht. Über kurz oder lang finden wir sowieso Ihre ganze Lebensgeschichte heraus, ob Sie sie uns erzählen oder nicht. Machen Sie es sich doch nicht so schwer.“

Franzen sah ihn traurig an. Dann zitterte er kurz und seufzte schwer.

„Sie haben recht. Ich habe es mir mein ganzes Leben schwer gemacht. Ich habe immer nur gekämpft, gegen alles und jeden. Keine wirklichen Freunde, nur Bekannte, aber jede Menge Feinde. Mein Leben lang habe ich jeden gehasst, von dem ich dachte, er stände unter mir ... und ich habe sie beschimpft, verleumdet, gemobbt und bekämpft. Und das alles nur wegen meines Bruders.“

Er schüttelte leicht den Kopf und lachte leise und traurig in sich hinein. „Unglaublich, dass ich das nicht viel früher begriffen habe.“

Auer hatte ihn ganz bewusst nicht unterbrechen wollen, nun, da er endlich angefangen hatte etwas zu erzählen. Als Franzen allerdings nach sechzig Sekunden noch immer nicht weitersprach, wagte er es doch, ihm noch eine Frage zu stellen.

„Wollen Sie uns nicht erzählen, was es mit Ihrem Bruder auf sich hat? Es wird Sie erleichtern.“

Franzen nickte ... und Auer geduldete sich. Schließlich begann der junge Mann zunächst stockend, dann immer flüssiger seine und die Geschichte seines Bruders zu erzählen.

„Wir waren elf und neun Jahre alt, mein kleiner Bruder und ich, als wir nach dem Tod unserer Eltern ins Kinderheim nach Bad Bertrich kamen. Es war keine schöne Zeit, das können Sie mir glauben. Ich musste meinen kleinen Bruder pausenlos beschützen. Vor all den anderen Kindern im Heim. Irgendwie haben sie gemerkt, dass er anders war. Ich weiß nicht, woran, aber sie haben es immer gewusst ... die Erwachsenen haben es nie geglaubt. Er war so ein süßer Junge, ein richtiger Schatz, die Erwachsenen haben ihn geliebt. Er hat sie alle um den Finger gewickelt. Nur die anderen Kinder nicht. Deshalb haben sie ihn gehasst, und ich musste ihn beschützen. Er war doch mein Bruder. Was hätte ich denn tun sollen?“

Franzen sah Auer und Harry flehentlich an, als wolle er ihre Absolution ... oder wenigstens ihr Verständnis. Die Tränen flossen wieder, und Auer begann zu verstehen, dass der junge Mann Höllenqualen litt.

Einen Moment lang war er versucht, ihm beruhigend die Hand auf den Arm zu legen, aber er unterdrückte dieses Verlangen und wartete, bis Franzen wieder begann weiterzusprechen.

„Ich musste ihn doch beschützen“, flüsterte Franzen fast mehr zu sich selbst als zu den Beamten. „Nur vor sich selbst konnte ich ihn nicht beschützen. Ich war doch erst elf. Er war mir intellektuell schon immer einiges voraus, aber das habe ich damals noch nicht richtig begriffen. Ich habe immer gemerkt, wenn er wieder etwas Grausames getan hatte, und ich habe nie verstanden, warum er solche Dinge getan hat. Er hat Tiere getötet. Er hat sie nie gequält, nur getötet, aber dann hat er sie verstümmelt und zur Schau gestellt. Ich glaube, es ging ihm nur darum, zu beweisen, dass er nicht erwischt wird. Er hat Sachen in Brand gesteckt und die Taten anderen in die Schuhe geschoben. Er hat Dinge gestohlen, die nie wieder aufgetaucht sind, Dinge, die er selbst gar nicht gebrauchen konnte, einfach nur, damit sie weg waren und jemand sie vermisst hat. Er hat das immer alles so geschickt gemacht, dass er nie auch nur in Verdacht geriet. Er war ja so ein netter und süßer Junge.“

Franzen machte eine Pause und trank einen großen Schluck Kaffee. Auer bedeutete Harry, ihnen allen noch eine Runde Kaffee zu besorgen. Er wollte so lange keine Fragen stellen, wie Franzen von sich aus redete. Weder wollte er den Fluss seiner Geschichte unterbrechen noch ihn in eine bestimmte Richtung zwingen. Für Fragen war später noch Zeit. Jetzt wollte die Geschichte endlich aus ihm heraus, und sie würde sich ihren Weg bahnen. Zu lange hatte der junge Mann sie in die hintersten Winkel seines Bewusstseins verdrängt.

„Wir waren noch keine zwei Jahre in dem Heim, als er in eine Pflegefamilie kam. Mich wollte niemand haben, denn ich galt als Problemkind, weil ich mich ständig mit anderen Kindern prügelte. Das war zwar nur, weil ich meinen Bruder vor ihnen beschützen wollte, aber das konnte ich ja niemandem erzählen. Niemand hätte mir geglaubt. Kurz bevor er das Heim verließ, hat er einen anderen Jungen getötet. Es sah aus wie ein Unfall, aber ich wusste, dass er ihn getötet hat. Angeblich war der Junge beim Klettern von einem Baum gefallen und so unglücklich auf einen Zaun gestürzt, dass er von den Spitzen des Zauns an mehreren Stellen des Körpers durchbohrt wurde. Damals habe ich meinen Bruder das erste Mal darauf angesprochen und ihn gefragt, warum er das getan hatte. Und wissen Sie, was er gesagt hat? Wie er reagiert hat?“

Auer schüttelte nur stumm den Kopf.

„Er hat mit den Schultern gezuckt und mir erklärt, das wäre doch keine große Sache, der Junge habe ihn einfach bei etwas erwischt, und deshalb musste er weg. Einfach so. Er hat es nicht bereut oder den Jungen bedauert. Nichts. ,Der musste weg‘! Diese Worte werde ich nie vergessen. Und in diesem Moment habe ich es gewusst. Ich habe es mir nie eingestehen wollen, obwohl ich es schon vorher irgendwie vermutet hatte, aber ich hatte es nicht wahrhaben wollen. Aber in dem Moment habe ich es gewusst.“

Die Tränen hatten wieder begonnen zu fließen, und Franzen schluchzte laut auf.

Jetzt konnte Auer sich nicht mehr zurückhalten: „Was gewusst?“ Er hatte zwar eine Ahnung, aber er war sich nicht sicher, und es musste einfach ausgesprochen werden.

Franzen blickte auf und sah ihn mit tränenverschleiertem Blick an. „Dass er auch unsere Eltern getötet hatte.“

Er atmete schwer, und es war ihm anzumerken, dass er die allergrößte Last von seiner Seele nahm, indem er das größte Geheimnis beichtete, das er in all den Jahren gehütet hatte.

„Unser Vater hatte ihn dabei erwischt, wie er einen kleinen Vogel getötet hat, und er hat ihn windelweich geprügelt. Drei Tage später sind unsere Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Mein Bruder hat nicht ein einziges Mal geweint. Alle haben gesagt, das Kind ist traumatisiert, es hat einen Schock, irgendwann käme dann ganz überraschend die Trauer ... aber sie kam nie. Ich war froh, als er in die Pflegefamilie kam und ich nicht mehr gezwungen war, auf ihn aufzupassen und ihn zu beschützen. Ich konnte nicht mehr. Ich selbst kam erst mit fünfzehn in eine Pflegefamilie, und ich hatte großes Glück. Es waren liebe Leute, die versuchten, mir die verlorenen Eltern zu ersetzen. Sie haben versucht, mich für die Jahre im Waisenhaus zu entschädigen und mir fast jeden Wunsch erfüllt. Obwohl sie mich nie adop­tiert haben und ich deshalb meinen Familiennamen behalten habe, hab ich sie sehr gemocht. Deshalb besuche ich auch heute noch regelmäßig meine Pflegemutter im Heim.“

Wieder blickte er auf, und diesmal sah er Auer direkt und fragend an.

„Bin ich ein schlechter Mensch, weil ich mich gefreut habe, dass mein kleiner Bruder endlich weg war, dass ich ihn nicht mehr beschützen musste? Was hätte ich denn tun sollen? Keiner hätte mir geglaubt, wie er wirklich war. Ich konnte doch nichts tun, oder?“

Auer konnte ihm keine Absolution geben, aber er war der Meinung, dass der junge Mann genug gelitten hatte.

„Nein, Herr Franzen, Sie konnten nichts tun. Sie waren, wie alt? Dreizehn? Ich finde, es wäre etwas viel verlangt, wenn man von einem Dreizehnjährigen erwarten würde, eine solch schwierige Entscheidung zu treffen.“

Er hatte sich keine Notizen gemacht, aber die Frage kam ihm auch so direkt in den Sinn.

„Was wurde aus Ihrem Bruder? Wie haben Sie wieder Kontakt mit ihm aufgenommen?“

Franzen sah überrascht auf.

„Wieso Kontakt? Ich dachte, das wäre klar gewesen, aber seit dem Tag, an dem er in das Auto stieg und mit seinen Pflegeeltern wegfuhr, habe ich ihn nie wieder gesehen oder etwas von ihm gehört. Ich habe keine Ahnung, wie diese Leute hießen und was aus ihm geworden ist. Als Sie mir eben gesagt haben, dass mein Bruder der Mörder dieser ganzen Menschen ist, habe ich das erste Mal seit über zehn Jahren wieder an ihn gedacht.“

Auer glaubte ihm.