Kapitel 36
13:15 Uhr
Wie ist das passiert? Hat sie ihren Kollegen erzählt, dass sie sich mit mir trifft? Wie sonst hätten sie so schnell hier sein können?
Als ich mit dem Lieferwagen am Forum vorbeifahre, kann ich die zwei Streifenwagen mit laufendem Blaulicht im Innenbereich zwischen Shoppingcenter und Forum Confluentes stehen sehen. Es könnte natürlich alles Mögliche sein, ein Überfall auf einen der Läden im Center, ein Überfall auf eine junge Frau in einer der Toiletten, eine Schlägerei zwischen Jugendlichen, ein Brand in einem Geschäft, ein Fehlalarm durch einen Brandmelder, ein festgenommener Ladendieb, ein ...
STOPP – krieg dich wieder ein. Du darfst dich jetzt nicht in sinnlosen Gedanken verlieren!
Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass das Polizeiaufgebot mir gilt, aber ich kann es eben auch nicht ausschließen. Sicher ist sicher. Also heißt es erst mal: Rückzug in sichere Gefilde, herausfinden, was eigentlich los ist, und dann neu aufbauen.
Also fahre ich langsam am Forum vorbei, einmal um den Block und auf dem Rückweg noch einmal, um vielleicht noch eine zusätzliche Information zu erlangen. Leider sehe ich nicht mehr als die beiden Wagen und zwei gelangweilt aussehende Polizisten, die neben den Autos stehen und ab und zu in ihre Funkgeräte sprechen.
Verdammt, das gibt mir keine Aufschlüsse über das, was genau geschehen ist. Also fahre ich weiter und mache mich auf den Weg in mein Refugium. Immerhin wartet dort eine junge, attraktive Frau auf mich, der ich einige Fragen stellen muss. Sicherlich hat sie auch viele Fragen an mich, und ich werde meinen Spaß haben, sie ihr in aller Ausführlichkeit zu beantworten. Man darf auf ihre Reaktion gespannt sein. Mal sehen, wie hart im Nehmen sie wirklich ist.
13:20 Uhr
Das Erste, was sie spürte, war das Gefühl von Sand und kleinen Steinchen unter sich.
Ich liege am Strand und habe schlecht geträumt. Was für ein seltsamer Albtraum. Wo bin ich eigentlich?
Je mehr ihr Bewusstsein in die Realität zurückkehrte, desto abstruser erschien ihr der erste Gedanke. Sie wusste, dass sie nicht im Urlaub war, und auch die Erinnerung an die letzten Momente im Parkhaus kehrte zurück.
Ich bin nach einem Bienenstich bewusstlos zusammengebrochen. Aber warum liege ich dann nicht in einem weichen Bett in einem Krankenhaus?
Sie blickte sich um und erkannte, dass sie sich in einem etwa fünf mal fünf Meter großen Raum befand, dessen Wände aus grobem Stein bestanden. Durch kleine vergitterte Fenster drang Licht in den Raum. Sie stützte sich mit den Händen auf und registrierte wiederum, dass der Untergrund uneben, sandig und mit kleinen Steinchen versetzt war. Entsetzt stellte sie zwei weitere Dinge fest: Sie war völlig nackt, und um ihren rechten Knöchel lag eine schwere Kette, die wirkte, als sei sie aus Gusseisen und unheimlich alt. Ganz im Gegensatz zu dem modernen Vorhängeschloss, mit dem die Kette am Knöchel geschlossen worden war.
Langsam aber sicher dämmerte ihr, was passiert war.
Oh Gott, der irre Killer hat mich entführt. Entweder hat er mich oder vielleicht auch Ferdinand beobachtet. Vermutlich Letzteres, denn das erklärte, warum Ferdinand nicht pünktlich zu dem Treffen erschienen war. Vielleicht war es ein Kollege von ihm, und er hatte mitbekommen, dass Ferdinand sich mit jemandem treffen wollte.
Sofort begann sie, sich Sorgen um Ferdinand zu machen. Da er nicht erschienen war, musste der Killer ihn abgefangen haben, und da er nicht hier bei ihr war, musste er ihm etwas angetan haben.
Der arme Ferdinand. Vermutlich hätte er mich auf die Spur des Täters bringen können und hat dafür bezahlen müssen. Hoffentlich nicht mit seinem Leben.
Trotz aller Sorgen um den jungen Mann musste ihre oberste Priorität nun in der Bewältigung ihrer eigenen, noch relativ unklaren Situation liegen. Ihre Nacktheit war momentan ihre geringste Sorge.
Erst jetzt bemerkte sie den kleinen Zettel, der wirkte, als sei er aus einem Notizbüchlein herausgerissen worden. Sie hob ihn auf und las die Nachricht, die in einer makellosen Druckschrift von Hand auf ihm geschrieben stand:
Ruhe bewahren.
Schreien zwecklos.
Bin bald wieder da.
Coco war nicht der Typ, der schnell in Panik verfiel, und der Drang zu schreien war noch nicht in ihr aufgekommen. Sie rechnete auch nicht damit, dass ihr Entführer so unvorsichtig wäre, sie irgendwo einzusperren, wo Hilferufe auch nur die kleinste Aussicht auf Erfolg haben würden. Dazu hätte es der Nachricht nicht bedurft.
Sie stand auf und nahm die Kette in die Hand. Dann ging sie zu der Stelle des Raumes, an der die Kette in der Wand in einer Höhe von etwa 50 Zentimetern befestigt war. Sie packte die schwere Kette mit beiden Händen und zog probehalber daran. Der Umstand, dass sich nichts, aber auch gar nichts rührte, gab ihr wenig Hoffnung, dass sie ohne Werkzeug hier etwas würde ausrichten können. Der Punkt, an dem die Kette befestigt war, lag genau entgegengesetzt der Tür des Raumes. Das Nächste war, ihren Bewegungsspielraum zu erkunden. Daran, dass sie mit der Kette am Knöchel ziemlich genau die Mitte des quadratischen Raumes erreichen konnte, erkannte sie, dass die Kette circa 2,50 Meter lang sein musste.
Die Rückschlüsse daraus waren wenig aufbauend. Sie hatte keine Chance, die Tür, die aus einem Gitter bestand, auch nur annähernd zu erreichen. Gleiches galt für die kleinen Fenster, die sich an einer der Seitenwände befanden. Direkt neben der Tür stand ein alter Holztisch und davor ein Holzstuhl, allerdings beides außerhalb ihrer Reichweite.
Der Raum enthielt somit nichts, was sie zur Verbesserung ihrer Situation hätte nutzen können. Wenn sie wenigstens noch ihre Klamotten gehabt hätte, irgendetwas hätte sie zum Öffnen des Vorhängeschlosses benutzen können.
Gerade als sie sich wieder auf den Boden setzen wollte, hörte sie sich nähernde Schritte.
„Hallo, hallo, ist da jemand? Hier bin ich! Hallo, ich brauche Hilfe.“
Sie blickte in Richtung der Tür, und ihr Herz legte ein paar extra Schläge hin, als plötzlich Ferdinands Gesicht um die Ecke blickte.
„Coco, um Gottes willen, was ist mit dir passiert, wie kommst du hierher?“
„Ich bin entführt worden. Du musst mich hier rausholen. Kannst du die Tür öffnen?“
Sie sah, wie Ferdinand verzweifelt an der Tür rüttelte, die dann auf einmal mit einem lauten Knirschen aufsprang. Gott sei Dank, wenn er hier reinkommt, dann kann er mich vielleicht auch von der Kette befreien.
Er sprang auf sie zu, und Coco war es jetzt völlig egal, dass sie nackt war, als er sie in die Arme nahm. „Ich bin so froh, dass du da bist. Wie hast du mich gefunden? Kannst du die Kette lösen oder bekommst du das Schloss auf?“
Er fasste sie an den Schultern, löste sich von ihr und schob sie ein wenig von sich weg. Dann betrachtete er sie von oben bis unten, und ein seltsames Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
„Das sind aber ziemlich viele Fragen. Und warum sollte ich dich von deiner Kette befreien? Das wäre doch ziemlich dumm, oder?“
Die Erkenntnis übermannte sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ihre Knie wurden wieder weich, und sie sank zu Boden. Plötzlich war sie sich ihrer Nacktheit bewusst ... und sie war ihr nun unangenehm. Sie schlang die Arme vor ihre Brust und blickte den Mann an, der immer noch lächelnd vor ihr stand.
„Du?“
Sie war nicht in der Lage, mehr zu sagen. Tausend Dinge gingen ihr durch den Kopf. Blitzartig. Wie bei einem Stroboskop in der Diskothek erschienen Bilder und verschwanden sofort wieder und wurden durch andere Bilder ersetzt. Es gab keine chronologische Reihenfolge. Manche der Bilder hatten mit den bisherigen Mordopfern zu tun, andere Bilder befassten sich mit Fantasien ihrer eigenen Zukunft ... und sie machten ihr Angst. Sie zog im Sitzen die Knie vor die Brust und schlang die Arme darum. Sie versuchte, die Angst aus ihrer Stimme zu halten, als sie ihn ansprach: „Was willst du von mir? Was hast du mit mir vor?“
Er blickte immer noch lächelnd auf sie herab.
„Ist es das, was dich interessiert? Na ja, ich werde es dir gleich noch erklären, aber erst habe ich auch ein paar Fragen an dich, und wenn du die zu meiner Zufriedenheit beantwortest, werden wir sehen, wie es weitergeht.“
„Was für Fragen?“
„Du fragst zu viel. Ich stelle hier die Fragen, und erst, wenn ich zufrieden bin, dann darfst du ... vielleicht ... auch ein paar Fragen stellen.“
Coco sah ein, dass jetzt nicht die Zeit war, ihm zu widersprechen oder ihn gar zu reizen. Sie musste ihn verstehen lernen, wenn sie überhaupt eine Chance haben wollte, heil aus dieser Sache rauszukommen. Also, mitspielen, Fragen beantworten und erst mal alles tun, was er verlangte.
„Hast du jemandem von unserem geplanten Treffen auf dem Parkdeck erzählt?“
Die Frage überraschte sie, und sie überlegte einen Moment lang, wie sie sie beantworten sollte.
„Selbstverständlich, ich habe meinen Chef informiert, dass ich dich treffen werde ... und auch warum.“
Er begann schallend zu lachen, wobei er den Kopf nach hinten warf, so sehr amüsierte ihn ihre Antwort. Dann drehte er sich um, ging zu dem Stuhl, holte ihn sich und setzte sich ihr gegenüber. Coco fiel auf, dass er den Stuhl genau außerhalb der Grenze abgestellt hatte, die sie bei maximaler Streckung der Kette hätte erreichen konnte. Er war mit Sicherheit nicht dumm, aber das hatte sie schon vorher gewusst.
Nachdem er sich gesetzt hatte, sah er sie mitleidig an.
„Du solltest mich nicht unterschätzen, was meine Fähigkeiten angeht, zu erkennen, ob du mir die Wahrheit sagst oder lügst. Du hast einen Moment zu lange überlegt, bevor du geantwortet hast. Außerdem hast du deine körperlichen Reaktionen nicht im Griff. Dein Blick ging nach oben, was üblicherweise signalisiert, dass du dich nicht erinnerst, sondern dir gerade etwas ausdenkst.“
Er grinste sie überlegen an.
„Überrascht, was ich alles weiß? Na ja, ist auch egal. Ich bin dann zunächst mal zufrieden, dass mich mein Planungsgenie nicht im Stich gelassen hat. Es hat sich genau so entwickelt, wie ich es geplant habe. Und, hast du noch Hoffnung, dass deine Kollegen dich hier finden?“
Er sah sie mit unverhohlener Neugier an, und Coco versuchte krampfhaft, alle Anzeichen von Verzweiflung zu unterdrücken und einen positiven, hoffnungsvollen Eindruck zu hinterlassen.
„Eigentlich schon, obwohl ... es kommt darauf an, wo wir hier sind?“
Sie sah ihn fragend an und legte den Kopf abwartend zur Seite. Eine Sekunde lang schien Ferdinand verblüfft zu sein, aber dann begann er wieder schallend zu lachen.
„Oh, köstlich. Der Versuch, mir Informationen zu entlocken, die dir vielleicht später nützlich sein könnten. Köstlich ... und so blauäugig. Glaubst du wirklich, ich wäre so kurzsichtig, dass ich deine Kollegen nicht bereits auf eine falsche Fährte geschickt hätte?“
Er lacht wieder, und Coco lief es eiskalt den nackten Rücken hinunter. War es wirklich so aussichtslos? Eine ihrer größten Hoffnungen setzte sie auf die Ortung ihres Handys. Sie war sich sicher, dass dies eine der ersten Aktionen sein würde, die Auer und die Kollegen einleiten würden, wenn ihnen klar würde, dass man sie entführt hatte.
Ihr fiel sein prüfender Blick auf. Er beobachtete sie wie ein Studienobjekt auf einem Glasträger unter einem Mikroskop. Plötzlich ging ein Strahlen über sein Gesicht: „Aaah, ich verstehe, du hoffst auf die Ortung deines Handys, nicht wahr?“
Es gelang Coco nicht, die Enttäuschung darüber, dass sie so leicht zu durchschauen war, vor ihm zu verbergen. Sie ließ die Schultern sinken und blickte vor sich auf den sandigen Boden. Momentan schienen ihr die Optionen auszugehen. Aber sie war nicht der Typ, der so leicht aufgab. Sie besann sich auf ihre Kenntnisse der Psychologie: Nur durch die Sprache hatte sie überhaupt eine Chance, einen Zugang zu diesem seltsamen Menschen zu erlangen. Und nur, wenn sie diesen Zugang erhielt, könnte sie ihn vielleicht einschätzen. Also war die Devise: reden, reden und nochmals reden. Sie musste die Kommunikation aufbauen, aufrechterhalten und so dann letztendlich doch Informationen erlangen ... vielleicht ohne dass es ihm bewusst wurde.
„Was hast du mit mir vor? Werde ich genauso grausam sterben wie deine bisherigen Opfer?“
Er blickte sie erstaunt an.
„Wie kommst du auf die Idee, dass irgendeines dieser unwichtigen Individuen einen grausamen Tod gestorben ist? Ich dachte, ihr hättet inzwischen herausgefunden, wie ich sie von ihrem bemitleidenswerten, unwichtigen Dasein erlöst habe. Wirke ich wie jemand, der grausam ist? Deine Unkenntnis und Fehleinschätzung enttäuschen mich ein wenig. Ich hätte dir mehr zugetraut.“
Er schüttelte den Kopf, wie es ein Vater tun würde, verzweifelt wegen der Ahnungslosigkeit seines Kindes, das noch so überhaupt keine Ahnung vom wirklichen Leben hatte. Ein solches Kind musste natürlich belehrt werden. Coco verbuchte es als ersten Erfolg, dass sie es geschafft hatte, ihn am Reden zu halten.
„Ich möchte klarstellen, dass ich keiner deiner normalen Psychopathen bin. Ich ergötze mich nicht am Leiden von Lebewesen. Was ich tue, dient einem höheren Zweck.“
„Welchem?“, wagte sie es ihn zu unterbrechen, um ihn weiter dazu anzustacheln, aus sich herauszugehen, zu erzählen.
Hofbauer blickte sie mitleidig an, und einen Moment lang befürchtete sie, er würde ihren Plan, ihn am Reden zu halten, durchschauen. Aber dann nickte er, als würde er verstehen, dass Mitleid alleine nicht ausreichte, sondern hier eine Unwissende aufgeklärt werden musste.
„Ich hatte auch nicht erwartet, dass jemand wie du das so ohne Weiteres verstehen könnte. Es geht einzig und alleine um den Beweis der Überlegenheit des Geistes, der Größe eines Genies, des Abstandes eines weiterentwickelten Menschen zu der Masse der Normalos, des Genies eines Homo Superiors, der Hilflosigkeit der Schwachen gegenüber dem Starken, der Machtlosigkeit der Dummen im Vergleich zu einem Superintelligenten, der ...“
Überrascht beobachtete sie, wie er sich unterbrach, den Kopf schüttelte, als wolle er ein Insekt verscheuchen und sich mit der flachen Hand gegen die Schläfe schlug.
Was ist da passiert? Etwas Ähnliches hatte sie doch einmal in der forensischen Psychiatrie erlebt. Richtig ... da war dieser junge Mann gewesen, der sich immer in seinen Gedanken verloren hatte. Der einen Satz angefangen und die Kernaussage in unendlichen Varianten immer und immer wieder wiederholt hatte. Ihr war noch nicht klar, ob sie diese Schwäche zu ihrem Vorteil würde ausnutzen können, aber zumindest hatte sie einen Ansatz. Es würde sich zeigen, ob sie ihn dadurch ablenken, stören oder von seinen Vorhaben abhalten könnte. Ihr oberstes Ziel musste sein, ihn weder zu reizen noch dazu zu verleiten, ihr etwas anzutun.
Würde sie die Coolness aufbringen, keine Angst zu zeigen? Wie würde er darauf reagieren, wenn ein Opfer keine Angst vor ihm hatte? Konnte man mit einem solchen Menschen argumentieren? Wenn ja, auf welcher Ebene? Wäre sie in der Lage, ihm Gefühle vorzutäuschen, die sie nicht hatte? Konnte sie verhindern, dass er jeden Versuch, ihm nicht vorhandene Gefühle vorzuspielen, sofort durchschauen würde?
Fragen über Fragen, auf die sie hoffentlich rechtzeitig Antworten finden würde. Sie musste improvisieren, und es galt, alles, was sie noch aus ihrem Studium der Psychologie in Erinnerung hatte, so schnell wie möglich aus den hintersten Winkeln des Gedächtnisses wieder an die Oberfläche zu holen.