Kapitel 38

Wohnung Hofbauer – 14:30 Uhr

Die Durchsuchung der Wohnung war in vollem Gange, als Auer dort eintraf. Er wollte sich vor Ort ein Bild machen und hätte es sowieso nicht mehr im Büro ausgehalten. Ein Team der Spurensicherung stellte die ganze Bude auf den Kopf, während die beiden von Kriminaldirektor Müller abgestellten Kollegen alle schriftlichen Unterlagen, derer sie habhaft werden konnten, sichteten.

Bei der Wohnung handelte es sich um eine mindestens 80 Quadratmeter große Altbauwohnung im ersten Obergeschoss, direkt über der Eisdiele und mit einer herrlichen Aussicht auf den Jesuitenplatz. Das Erste, was Auer auffiel, war die peinliche Reinlichkeit und Ordnung. Verglich er diese Wohnung mit seiner eigenen, hätte er dem Bewohner einen fast zwanghaft anmutenden Ordnungssinn attestieren müssen.

Dann fiel ihm wieder ein, worum Fisch ihn gebeten hatte, als sie vor seinem Verlassen des Büros noch über mögliche Ermittlungsansätze beratschlagt hatten. Er überlegte nur noch, wie er den durchsuchenden Kollegen Fischs Wunsch nahebringen konnte, ohne sie zu beleidigen. Die meisten Kollegen fanden es anmaßend, wenn jemand sie an sogenannte „Selbstverständlichkeiten“ erinnerte, an die sie ohnehin gedacht hätten. Also ging er es anders an.

„Kollegen, könnt ihr mir für einen Moment euer Ohr leihen?“

Als alle ihre Tätigkeiten unterbrochen hatten und ihn neugierig ansahen, fuhr er fort: „Frage: Wer von euch hat ein Smartphone mit Fotoapparat und eine Internet-Flatrate?“

Genau diesen Wortlaut hatte Fisch auch benutzt, als er ihm erklärt hatte, worauf er aus war. Bei dreien der insgesamt fünf anwesenden Personen ging eine Hand hoch. Einer war sogar so kühn zu fragen: „Warum?“

„Der Kollege Fisch ... äh ... Saibling hat mich gebeten, dass jemand mit einem so ausgerüsteten Handy alles, aber auch wirklich alles in der Wohnung fotografiert und sofort an diese Mailadresse sendet, sogar den Inhalt der Mülltonnen und jeden Schnipsel Papier, der hier irgendwo rumfliegt. Er will alle Informationen so schnell wie möglich im Computer erfassen, abgleichen und dadurch vielleicht eine Spur zu unserer entführten Kollegin finden.“

Er hielt den von Fisch beschrifteten Zettel vor sich und beglückwünschte sich gleichzeitig, wie elegant er die Erinnerung an die Mülltonnen und den oft so aufschlussreichen Müll verpackt hatte. So entstand zumindest nicht der Eindruck, er könne es für möglich gehalten haben, dass die Kollegen vielleicht nicht an den Müll gedacht hätten.

Einer der beiden Kollegen nahm ihm den Zettel ab, studierte ihn und nickte dann. Danach gab er die Mailadresse in sein Smartphone ein und begann, zunächst Übersichtsaufnahmen der Wohnräume zu machen.

Um zu zeigen, dass er sich auch aktiv beteiligen wollte, begann Auer, die Mülleimer der Küche zu inspizieren. Außer langsam verfaulenden Lebensmitteln und dem üblichen Plastikmüll, wie leere Joghurtbecher, Wurstpellen und Verpackungsabfall, konnte er allerdings nichts finden, was sich gelohnt hätte zu fotografieren. Alle anderen Mülleimer in der Wohnung waren leer, sowohl ein Papierkorb neben dem Schreibtisch als auch ein kleiner Eimer im Bad. Also begab er sich freiwillig mit einer Ladung Beweismitteltüten bewaffnet nach unten, um die im Hof des Hauses abgestellten großen Mülltonnen zu durchsuchen.

Am meisten versprach er sich von der Papiertonne, in der er hoffte, Rechnungen, Quittungen und Einkaufsbelege zu finden. Bereits beim Öffnen der Tonne musste er allerdings feststellen, dass hier wesentlich mehr Papiermüll enthalten war, als ein Haushalt alleine produzieren konnte. Die Adressaufkleber auf zwei Zeitschriften und auf weggeworfener Werbepost belehrten ihn, dass hier der Müll von zwei Haushalten und der Eisdiele entsorgt wurde.

Schweren Herzens kippte er den gesamten Inhalt der Tonne auf den Hofboden und begann dann jedes einzelne Blatt zu begutachten und auf einen von drei Stapeln zu legen: a) Papier, das eindeutig einem anderen Haushalt zugeordnet werden konnte, b) Papier, das eindeutig Hofbauer zugeordnet werden konnte und c) Papier, dessen Herkunft unklar war.

Bei den Einkaufsquittungen von Supermärkten würde zum Beispiel erst ein Abgleich mit dem Plastikmüll zeigen, welche der Quittungen zu Hofbauer gehören könnten. Das erinnerte ihn sofort daran, dass er später auch den vorher abgetanen Plastikmüll Stück für Stück würde fotografieren lassen müssen.

Stöhnend machte er sich an die Arbeit, wobei ihn lediglich der Gedanke an Coco davon abhielt, diese Schweinearbeit einem anderen Kollegen zu überlassen. Weder sein schmerzender Rücken noch die protestierenden Knie­scheiben konnten ihn davon abhalten, mit aller Sorgfalt und akribisch jedes Papier durchzusehen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, angesichts dieser Sisyphus-Arbeit zu verzweifeln.

Er würde es sich den Rest seines Lebens nicht verzeihen können, wenn er nicht alles gab, um die junge Kollegin vielleicht doch noch zu retten. Also ignorierte er jeglichen Schmerz und konzentrierte sich mit aller Kraft auf die Arbeit.

Einkaufsquittungen, Rechnungen, wieder Quittungen, Werbung, Rechnung, Rechnung, Quittung ...

Cocos Gefängnis – 15:00 Uhr

Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Erstaunt musste sie zur Kenntnis nehmen, wie abhängig der moderne Mensch von den Segnungen der Technik geworden war. Ohne Uhr war sie nicht in der Lage, zu sagen, ob es nun eine, zwei oder drei Stunden her war, dass sie in diesem Raum erwacht war. Ganz abgesehen davon, dass sie ja auch keine Ahnung hatte, wie viel Uhr es bei ihrem Erwachen gewesen war. Den Stand der Sonne konnte sie nicht sehen, und zum aktuellen Datum setzte dank der Sommerzeit erst gegen 21:00 Uhr die Dämmerung ein. Das wäre der Zeitpunkt, zu dem sie erstmals wieder würde abschätzen können, wie spät es wirklich war.

Vor nicht allzu langer Zeit hatte Ferdinand Hofbauer sie alleine zurückgelassen, und es war ihr nicht einmal möglich zu sagen, ob das zehn oder zwanzig Minuten her war. Die Zeit verging quälend langsam, so ganz ohne eine Beschäftigung. Ihre Optionen waren so wenige, dass sie sie innerhalb einer Minute abhaken konnte. Sie hatte keine Chance, sich zu befreien, und angesichts dessen, was er ihr haarklein und mit großer Zufriedenheit über seine Leistung erläutert hatte und wo genau sie sich befand, hatte sie die Hoffnung auf zufällig vorbeikommende Hilfe schon lange aufgegeben.

Sie rief sich das Gespräch mit Hofbauer noch einmal in Erinnerung, in dem verzweifelten Bemühen, eine Schwachstelle zu entdecken, die ihr vielleicht behilflich sein könnte.

Es war eigentlich kein Gespräch gewesen, mehr ein Monolog, in dem dieser Wahnsinnige immer wieder sein Genie hervorgekehrt hatte, ihr die Details seiner Morde erklärt hatte, deren Vorbereitungen und wie er sich gegen alle Eventualitäten abgesichert hatte. Als er ihr stolz von dem Trick mit dem Handy berichtet hatte, war dies ein weiterer Tiefschlag für all ihre Hoffnungen, die Kollegen könnten sie ausfindig machen, gewesen.

Er hatte die aufkommende Mutlosigkeit bemerkt.

„Ich sehe, es dämmert dir langsam, wie ausweglos deine Situation in der Realität ist. Eine gute Voraussetzung für unsere weitere Zusammenarbeit.“

Sie hatte keine Ahnung gehabt, was er mit „Zusammenarbeit“ gemeint hatte.

Gegen Ende seines Aufenthaltes in ihrem Gefängnis hatte er ihr noch seine Pläne für die nächsten Stunden erläutert. Sie musste zugeben, dass er wirklich äußerst vorausschauend geplant hatte und vermutlich tatsächlich alle Eventualitäten bedacht haben könnte.

Ihre Gedanken wanderten wieder ab in „was wäre gewesen, wenn ...“, „sähe es anders aus, wenn ...“ und „warum habe ich nicht ...“ All diese Gedanken waren unproduktiv, ja sogar kontraproduktiv und trugen nur zu ihrer zunehmenden Mutlosigkeit bei.

Jesuitenplatz – 15:10 Uhr

Die Unterhaltung mit Coco hat mich überwiegend amüsiert. Es war ein schönes Gefühl zu sehen, wie eine intelligente, junge Frau auf einmal feststellen musste, dass es da jemanden gab, der ihr intellektuell so haushoch überlegen war.

Nachdem ich den Wagen in der Tiefgarage unter dem Görres-Platz, nur knappe 50 Meter von meiner Wohnung entfernt, geparkt habe, muss ich nun noch einige letzte Gegenstände aus meiner Wohnung holen, bevor ich mich in mein neues Leben verabschieden kann. Vor dem Haus angekommen, erscheint es mir zur Feier des Tages und bei einem so schönen Wetter wie heute angemessen, dass ich mir ein letztes Eis in meiner Lieblingseisdiele gönne. Also stelle ich mich in die Schlange und warte geduldig, bis ich an der Reihe bin.

„Drei Kugeln in der Waffel, bitte, Vanille, Schokolade, Vanille und genau in dieser Reihenfolge, bitteschön.“

Ich habe gerade bezahlt und lecke mit Hochgenuss an der obersten Kugel Vanilleeis, als die Haustür neben der Eisdiele sich öffnet und Hauptkommissar Auer mit einer großen Tüte voller Papierunterlagen herauskommt. Zu meinem Glück blickt er als Erstes in die andere Richtung, sodass mir genügend Zeit bleibt, mich ganz langsam wegzudrehen. Dabei arbeiten meine Gedanken auf Hochtouren.

Wie haben sie meine Wohnung ausfindig gemacht? Nein, falscher Gedanke. Natürlich können sie beim Einwohnermeldeamt jederzeit erfragen, wo Ferdinand Hofbauer wohnt, aber wie sind sie auf Ferdinand Hofbauer gekommen? Es kann eigentlich nur mit meinem ungeliebten Bruder Frederic zu tun haben, und erstmals in meinem Leben bedauere ich, dass ich nicht auch noch meinen Vornamen geändert habe. Die Verbindung war mir nun klar: mein Bruder – der Tod unserer Eltern – das Kinderheim – meine Pflegeeltern – die Adoption. Natürlich war das kein Problem gewesen. Ganz so blöd sind die Ermittler nun auch nicht, dass sie nicht etwas so Einfaches würden herausfinden können.

Dennoch muss ich in mich hineingrinsen, während ich dem davongehenden Hauptkommissar nachsehe. Wenn sie glauben, sie hätten mich nun meiner gesamten Ressourcen beraubt, könnten sie nicht mehr irren. Selbstverständlich war auch das immer eine Option gewesen, und es wird mich nicht mehr als einen kurzen Abstecher zur Deutschen Bank kosten, wo ich schon seit Jahren ein großes Schließfach angemietet habe. Dort bewahre ich alles auf, was mir bei einer plötzlich notwendig werdenden Flucht behilflich sein würde.

Schade ist lediglich, dass ich nun nicht mehr an meine Masken und Verkleidungen komme, aber ich kenne auch so genug Methoden, mit einfachen Mitteln nahezu unsichtbar zu werden. Deshalb habe ich auch keine Angst davor, durch polizeiliche Fahndungsmaßnahmen in Bedrängnis zu geraten. Die Polizei hat weder die Ressourcen noch die erforderliche Fantasie, um meiner habhaft zu werden. Also beginnt zu meiner großen Freude in diesem Moment ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem es keine Frage ist, wer die Katze repräsentiert.

Eine Idee keimt in mir. Eine Idee, die mit Coco zu tun hat. Ich kann dem ganzen Spiel noch eine zusätzliche Würze geben, wenn ich sie nicht wie geplant töte und entsprechend drapiere, sondern in meine Flucht einbaue. Es wäre eine echte Bereicherung, und ich erwärme mich immer mehr für diese Idee. Also wird es jetzt erst zu meinem Schließfach und anschließend wieder zum Refugium gehen.