Kapitel 40

Cocos Gefängnis – 15:35 Uhr

Als sich die Schritte näherten, machte Coco sich nicht die Mühe, um Hilfe zu rufen. So wie sie Hofbauer einschätzte, hatte er sie in einem Bereich untergebracht, wo man sie nicht zufällig entdecken würde. Er hatte ihr mit einem überlegenen Grinsen genau geschildert, wo genau der Ort lag, in dem sie auf ihr Schicksal wartete, und warum es so gut wie ausgeschlossen war, dass jemand hier vorbeischaute. Außerdem hatte er ihr klargemacht, dass ihre Kollegen keinen Anlass hätten, sie ausgerechnet an diesem Ort zu suchen. Sie hatte sich eingestehen müssen, dass die Wahl des Ortes ihrer Gefangenschaft wirklich sehr klug gewählt war.

Sie blickte nicht einmal auf, als sie hörte, wie sich die Tür mit einem Knarren und Quietschen öffnete.

Vielleicht war es von Vorteil, ihn denken zu lassen, sie habe aufgegeben, sei gebrochen oder einfach nur noch apathisch. Dennoch konnte sie nicht verhindern, automatisch den Blick in die Richtung des Geräusches zu richten, das sie auf einmal dicht neben sich hörte. Es hatte sich angehört, als habe jemand ein Bündel Decken auf den Boden geworfen. Ohne nach Ferdinand zu sehen, blickte sie auf das, was er neben ihr auf den Boden geworfen hatte.

Gar nicht mal so schlecht, dachte sie. Es schien sich bei dem, was Hofbauer kommentarlos hingeworfen hatte, um eine Art weißen Trainingsanzug zu handeln, in den Sport- oder Laufschuhe eingewickelt waren. Sie blickte nun doch auf und sah ihm schweigend ins Gesicht. Sie wartete. Sie hatte nicht vor, von sich aus die Konversation zu starten.

„Na, wer wird denn so schweigsam sein? Du hast doch sicher Fragen. Oder hast du schon mit dem Leben abgeschlossen? Das wäre vielleicht doch ein wenig zu früh.“

Coco versuchte, sich die aufkeimende Hoffnung nicht anmerken zu lassen. Es misslang kläglich, denn Hofbauer lachte laut auf: „Es gibt doch nichts Schöneres als die Hoffnung, dass alles gut wird, nicht wahr?“

Sie ergab sich in ihr Schicksal.

„Also gut. Du hast gewonnen. Was soll das alles, was hast du mit mir vor? Wieso machst du mit mir nicht das Gleiche wie mit den anderen armen Opfern?“

Die Hoffnung, dass sie vielleicht etwas Besonderes sein könnte, brachte sie absichtlich nicht zum Ausdruck.

Er grinste sie an und schüttelte den Kopf. „Nein, es ist nicht deshalb, weil du etwas Besseres als die anderen wärst, da muss ich dich enttäuschen.“

Kann er meine Gedanken lesen oder steht mir alles so deutlich auf die Stirn geschrieben? Wie soll ich ihn dann jemals überlisten und es lebend hier raus schaffen?

„Es hat sich“, fuhr er ungerührt fort, „etwas an den Umgebungsvariablen geändert, was mich zu einer Planänderung zwingt. Es ist nichts Dramatisches, und ich habe es selbstverständlich auch absolut im Griff. Es ist nur so, dass du insofern davon profitierst, dass du eben noch eine Zeit lang weiterleben darfst.“

„Was hat sich verändert?“

Erstmals glaubte sie, etwas wie Frust oder Verärgerung in seiner Mimik erkennen zu können. Da schien etwas ziemlich falsch gelaufen zu sein. Es fiel ihr schwer, ein Lächeln zu unterdrücken.

Mach ihn jetzt nur nicht wütend. Sie wusste aus ihrem Praktikum in der Psychiatrie, dass ein Psychopath wie Ferdinand sehr heftig auf den Zusammenbruch seines Allmachtsglaubens reagieren konnte. Also sah sie ihn so neutral wie möglich an und wartete darauf, ob er ihr antworten würde.

„Deine Kollegen haben sich wider Erwarten ein klein wenig besser geschlagen, als ich es vorhergesehen hatte. Sie wissen nun, wer ich bin, und sind gerade dabei, meine Wohnung zu durchsuchen. Ich gehe davon aus, das ist der Verdienst meines großen Bruders.“

Er sah ihre fragend zusammengezogenen Augenbrauen und lachte wieder. „Ach ja, das kannst du ja gar nicht wissen. Frederic Franzen, den ihr so vorschnell festgenommen habt, ist mein älterer Bruder, dieses elende Weich­ei.“

Mit einem Schlag wurde Coco klar, warum Ferdinand sie von Anfang an an jemanden erinnert hatte. Es gab eine gewisse Familienähnlichkeit. Aber niemals hätte sie gedacht, er könnte der Bruder von Frederic Franzen sein. Wieso hießen sie unterschiedlich?

„Du fragst dich sicherlich, warum wir unterschiedliche Nachnamen haben, was? Ganz einfach. Nachdem meine Eltern tot waren, kamen wir in ein Kinderheim. Da ich schon immer der intelligentere und hübschere Junge war, wurde ich adoptiert und er nicht. So ist das halt. Nur die Besten kommen weiter. Ich habe natürlich den Lebensweg meines Bruders verfolgt, als ich alt genug war, und bin deshalb auch nach Koblenz gekommen. Aber ich war schon ein wenig enttäuscht, als ich festgestellt habe, was für ein Würstchen er im Vergleich zu mir ist. Na ja, allerdings ist mal wieder meine Ansicht bestätigt worden, wer von uns beiden der Schlauere ist. Gut, er ist auch schon recht intelligent, aber bei Weitem nicht mit mir vergleichbar. Er hat nie bemerkt, dass ich ihn die ganze Zeit im Auge behalten habe. In gewisser Weise hat er wohl die ganze Zeit versucht, mich zu kopieren, was natürlich zum Scheitern verurteilt war.“

Nun wurde Coco einiges etwas klarer, obwohl sie die Zusammenhänge noch nicht gänzlich durchschaute.

„Okay, genug geschwatzt.“

Er hatte einen kleinen Schlüssel aus der Tasche geholt, hielt ihn kurz hoch, damit sie ihn sehen konnte, und warf ihn ihr dann zu. Geschickt fing sie ihn auf.

„Mach dir die Kette vom Bein und dann zieh die Klamotten an. So kann ich dich ja schlecht mit unter die Leute nehmen.“

Hoffnung! Coco überlegte schon, ob sie ihm körperlich gewachsen sein könnte. Immerhin stand sie kurz vor dem Ende ihrer Ausbildung, und da gehörten Selbstverteidigung und Kampfsport bereits zum regelmäßigen Training.

Ich bin fit, ich bin schnell, aber bin ich genug von beidem?

Sie öffnete das Vorhängeschloss, entfernte es und nahm die schwere Kette von ihrem Fußknöchel. Als sie wieder aufsah, erstarrte sie. Ferdinand Hofbauer war einige Schritte zurückgetreten und hielt eine Waffe auf sie gerichtet. Nicht irgendeine Waffe, schoss es ihr durch den Kopf, meine Waffe.

Die Heckler und Koch P 30 war ein sehr gefährliches Teil. Sie hatte keinen Sicherungshebel, und selbst ein unerfahrener Schütze konnte sofort einen Schuss aus ihr abgeben. Ihr Magazin fasste 15 Schuss, und Coco erinnerte sich, dass sie das Magazin vorschriftsmäßig gefüllt und die Waffe auch durchgeladen hatte. Also befand sich bereits eine Patrone im Lauf.

„Komm nicht auf dumme Gedanken, Mädchen. Es ist für mich gar kein Problem, dich hier zu erschießen. Jeder würde denken, dein Tod ist Teil eines hiesigen Programms.“

Sie wusste nicht genau, was er mit „Programm“ meinte, vermutete aber, dass es an diesem Ort regelmäßige Veranstaltungen gab, aufgrund derer ein Schuss vielleicht nicht auffallen würde.

Sie hatte nicht vor, ihm Probleme zu machen, sondern plante, auf den richtigen Augenblick zu warten. Irgendwann würde sich die Chance ergeben zu handeln. Jetzt war der falsche Zeitpunkt.

„Steh auf und zieh dich an. Dein Anblick würde mich nur ablenken, und wir wollen doch nicht auf dumme Gedanken kommen, oder?“

Er grinste sie schamlos an.

„Also, los jetzt, steh auf und zieh dir die Trainings­sachen an. Und lass dir bitte nicht allzu viel Zeit, wir haben noch etwas vor.“

Das war das Stichwort. Hier hatte er seinen ersten für sie erkennbaren Fehler begangen, indem er ihr eine Information gegeben hatte, die ihr hilfreich sein konnte. Selbstverständlich würde sie sich nicht übermäßig beeilen, denn jede herausgeschlagene Sekunde gab ihren Kollegen die Chance, bei der Durchsuchung seiner Wohnung vielleicht doch noch einen Hinweis darauf zu finden, wohin Hofbauer sie gebracht hatte. Während sie sich anzog, rasten ihre Gedanken, und sie hielt es für eine gute Idee, sie mit ihm zu teilen.

„Da ich mir etwas anziehen soll, werden wir wohl unter Leute gehen. Wie willst du verhindern, dass ich mich bemerkbar mache? Gut, du kannst mich erschießen, aber das würden die Leute dann mitkriegen, und du hast keine Geisel mehr. Zumindest keine so wertvolle Geisel.“

Wieder lachte er sein überlegenes Lachen. Es schien ihn über die Maßen zu amüsieren, dass sie sich Gedanken über ihre Zukunft machte.

„Natürlich habe ich vorgesorgt. Es ist auch nicht weit bis zu meinem Fahrzeug. Aber natürlich muss ich trotzdem verhindern, dass du rufst, Lärm machst oder mich angreifst.“

Er holte eine kleine Plastikflasche mit einer klaren Flüssigkeit aus der großen Umhängetasche, in der er offensichtlich vorher auch den Trainingsanzug, die Laufschuhe und ihre Waffe aufbewahrt hatte. Dann warf er ihr die Flasche zu.

„Trink!“

„Was ist das? Warum soll ich das trinken?“

„Keine Angst, es wird dich nicht umbringen, aber es garantiert, dass du mir unterwegs keine Schwierigkeiten machst.“

„Was passiert, wenn ich das trinke?“

Wiederum grinst er sie unverschämt an.

„Wenn ich dir das sagen würde, könntest du ja simulieren, falls die Wirkung nicht so ist, wie ich es erwarte. Also musst du einfach abwarten und wirst dann schon merken, wie es wirkt. Los, trink!“

Er fuchtelte ein wenig mit ihrer Waffe, und Coco sah keine andere Möglichkeit, als zu trinken. Es war mehr als unwahrscheinlich, dass er sie vergiften wollte, wenn er sie vorher die Klamotten anziehen ließ. Zaghaft setzte sie die 0,3-Liter-Flasche an die Lippen.

„Austrinken!“

Sie tat wie befohlen und warf die leere Flasche dann zur Seite.

„Na, na, na“, kam es tadelnd von Hofbauer, „da ist doch Pfand drauf. Bist du etwa auch so eine Umweltsünderin?“

Sein Grinsen verschwamm plötzlich vor Cocos Augen. Sie blinzelte hektisch, aber ihr Blick wurde nicht klarer. Dann sah sie, wie er sich verdoppelte.

„Wa...“, versuchte sie zu reden, aber ihre Zunge war so schwer, dass es nicht mehr als ein Lallen war, was herauskam. Ihre Knie wurden schon wieder weich.

Präsidium – 15:40 Uhr

„Siehst du das hier?“, fragte Auer gerade Fisch, der an seinen Arbeitsplatz herangetreten war. Er deutete auf den Bildschirm, wo noch immer die Vergrößerung der Urkunde zu sehen war.

„Ja, aber was soll der Scheiß? Eine Urkunde über den ersten Platz bei einer Schnitzeljagd. Na und?“

„Hast du mal gesehen, wo die Schnitzeljagd stattgefunden hat?“

Fisch beugte sich vor und beäugte das Bild aus der Nähe.

„Auf der Festung Ehrenbreitstein. Ja, da finden öfters solche Veranstaltungen statt. Dahin könnten wir ja mal den nächsten Betriebsausflug machen. Da kannst du dann solche Rätselspiele buchen, und vielleicht gewinnst du ja auch, wer weiß.“

„Blödmann“, kommentierte Auer die Anmerkung, „darum geht es mir nicht. Ich bin mir sicher, ich habe bei mehreren der vielen Bilder auch etwas von oder über die Festung gesehen. Kannst du mal deine Datenbank entsprechend abfragen? Ich möchte alle Asservate sehen, die irgendetwas mit der Festung zu tun haben. Geht das?“

„Was für eine Frage“, schnaubte Fisch verächtlich, „natürlich geht das. Gar kein Problem.“

Er wandte sich um und ging wieder zu seinem Arbeitsplatz, Auer ihm dicht auf den Fersen. Fisch setzte sich, öffnete das Programm und begann die Abfrage zu formulieren. Auer sah, wie er eingab: „Festung“ and/or „Ehrenbreitstein“ und dann die Enter-Taste drückte.

Es dauerte keine zwei Sekunden, bis zwölf Treffer erschienen. Fisch legte alle Bilder nebeneinander und öffnete dann den ersten Treffer. Es handelte sich um einen Strafzettel, der in einer Straße in Ehrenbreitstein ausgestellt worden war.

„Nächstes Bild, bitte“, forderte Auer ihn auf.

Auf dem zweiten Bild war eine Mitgliedskarte des „Förderverein Freunde der Festung Ehrenbreitstein“ abgebildet, ausgestellt auf Ferdinand Hofbauer. Das nächste Bild war eine Karte der Stadt Koblenz, auf der die Festung eingekreist war. Dann sahen sie eine Dauerkarte für die Seilbahn, die vom Deutschen Eck auf die Festung führte.

Auer hatte sich aufgerichtet und dachte nach. Was hatte das zu bedeuten? Was verband Hofbauer mit der Festung? Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein solch Ich-bezogener Psychopath ohne Grund Mitglied des Fördervereins geworden war, der sich mit der immer noch andauernden Restaurierung, dem Erhalt und dem Betrieb der Festung beschäftigte.

„Schau mal hier, das könnte wichtig sein“, riss ihn Fischs Stimme aus seinen Gedanken.

Auer sah Bild elf und es zeigte eine abgelaufene Parkkarte für einen normalerweise dem Besucherverkehr unzugänglichen Bereich. Auf der Karte stand mit großen Lettern:

ZULIEFERER

Darunter prangten das Bild der Festung, ein behördlicher Stempel der Stadt Koblenz und das Geltungsjahr.

Bei dem Wort „Zulieferer“ kam ihm automatisch der Transporter mit der Aufschrift CATERING HOLLEN in den Sinn. Da Hofbauer städtischer Beamter war, konnte Auer sich nicht vorstellen, dass es sich dabei um eine angemeldete Nebentätigkeit handelte. Es passte so gar nicht zu seinem Wesen, seinen grundsätzlichen Fähigkeiten und seiner sonstigen Tätigkeit.

Im Zusammenhang mit dem Transporter mit der Aufschrift „Catering“ und „Partyservice“ sowie in Verbindung mit dem Parkausweis für ansonsten unzugängliche Bereiche der Festung Ehrenbreitstein machte alles einen Sinn. Es schien ihm logisch, dass es sich um eine Legendenbildung für einen Zugang zur Festung handelte. Dazu kam auch noch seine Mitgliedschaft im „Förderverein Freunde der Festung Ehrenbreitstein“, durch welche er Insiderinformationen über die Festung erhalten haben musste.

Auer teilte seine Gedanken mit Duben, Harry und Fisch.

„Aber wie“, gab Fisch zu bedenken, „soll er Coco in die Festung gebracht haben? Mit dem Transporter kann er nicht wirklich hineinfahren. Ich kenne die Festung ganz gut, und da gibt es keine Möglichkeit, mit einem großen Gefährt hineinzufahren. Er wird sie ja wohl kaum hineingetragen haben, oder? Vielleicht hat er da einen Raum, ja, aber er wartet eventuell noch, bis es Nacht wird. Immerhin ist Cocos Entführung erst fünf Stunden her.“

Auer konnte Fischs Argumentation folgen. Aber er dachte auch gleich noch einen Schritt weiter.

„Du hast recht. Umso wichtiger erscheint mir, dass wir auf die Festung fahren und den Raum finden, wo er Coco vermutlich erst heute Nacht hinbringen will.“

Er blickte sie alle der Reihe nach an und registrierte zufrieden, dass sie alle zustimmend nickten.

„Okay, dann, auf geht’s. Fisch, du bleibst bitte hier und versuchst zu recherchieren, ob es eine Örtlichkeit gibt, für die eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie als Unterbringungsort für ein Entführungsopfer geeignet wäre. Sowie du meinst, Erkenntnisse zu haben, informierst du uns. Wir fahren jetzt sofort nach Ehrenbreitstein. Zuerst mal nur wir drei und noch ohne Streifenwagen, sonst schrecken wir ihn womöglich noch ab, falls er den Ort beobachtet.“