Kapitel 41
Festung Ehrenbreitstein – 15:55 Uhr
Sie ist nicht wirklich betäubt, sondern nur extrem benommen. Das Mittel, mit dem ich das Wasser der Trinkflasche versetzt hatte, bewirkt etwas Vergleichbares wie einen schweren Rausch. Sie wird in der Lage sein zu gehen, zumindest wenn ich sie ein wenig stütze. Da ich sie aber durch einen Bereich führen muss, der auch von Besuchern der Festung frequentiert wird, kann ich sie schlecht mit der Waffe bedrohen und muss sicher sein, dass sie sich nicht zur Wehr setzt. Da sie momentan nicht viel mehr als ein kaum verständliches Lallen hervorbringt, muss ich keine Angst haben, dass sie Passanten um Hilfe bittet.
Schon lange vor diesem Tag habe ich die Voraussetzungen geschaffen, dass ich relativ ungesehen und problemlos in die Festung komme. Dazu habe ich einen gebrauchten Piaggio APE 50 Kastenwagen gekauft. Allerdings nicht in Rot, wie ihn der aus der Werbung bekannte Pizza-Dienst Alberto fährt, sondern in Blau. Das kleine dreirädrige Gefährt hat zwar nur einen Sitz vorne, aber der hintere Ladebereich ist voll umschlossen und nicht einsehbar. Das Fahrzeug hat auch nur 3 PS, und es ist klein genug, dass ich damit auch die eigentlich nur für Fußgänger bestimmten Wege befahren kann.
Als Mitglied des Fördervereins habe ich stets ungehinderten Zugang zu allen Räumlichkeiten der Festung, auch zu denen, die für die Öffentlichkeit nicht zugänglich oder ihr noch nicht einmal bekannt sind. Dazu kommt, dass erst vor kurzer Zeit die Katakomben unterhalb des Fort Helfenstein entdeckt wurden und vorerst einem Besucherverkehr nicht erschlossen werden sollten. Wegen der unmittelbaren Nähe zur Jugendherberge wurde auch bisher nichts darüber veröffentlicht, da der Förderverein befürchtet, dass Jugendliche auf eigene Faust versuchen könnten, diesen Bereich zu erforschen.
Von der B42 direkt am Rhein entlang und dort in die Abzweigung des Felsenwegs habe ich direkten Zugang zum Fort Helfenstein, dem südlich gelagerten Vorbau der Festung Ehrenbreitstein. Allerdings musste ich den Transporter schon einige Meter vor dem Eingang zum Landesmuseum stehen lassen und den Weg in den Innenhof mit meinem kleinen Lieferwägelchen nehmen. Das wiederum musste ich im Innenhof stehen lassen und mich zu Fuß in den abgesperrten Bereich begeben, wo ich auch die Zelle ausfindig gemacht hatte, in der ich Coco kurzfristig untergebracht habe.
Also mache ich mich nun mit einer schwer torkelnden Coco, die ich beim Gehen unterstützen muss, auf den Weg zu dem Wagen, mit dem ich sie hergebracht habe und auch wieder wegbringen werde. Ich kann sie gerade noch führen und bewege mich, indem ich mir ihren Arm über die Schulter gelegt und meinen linken Arm um ihre Hüften geschlungen habe, in Richtung meines Piaggio. Der Großteil des Weges befindet sich innerhalb des Gemäuers, und nur die letzten hundert Meter sind in einem Bereich, in dem auch der eine oder andere Besucher herumirrt. Wie nicht anders zu erwarten, treffen mich auch direkt einige fragende Blicke, als ich mit Coco am Arm durch die Halle ins Freie wanke.
„Kreislaufkollaps“, rufe ich einigen Neugierigen zu, „ich bring sie jetzt ins Krankenhaus, aber es geht ihr schon wieder halbwegs.“
Keiner will wissen, warum ich mit einer nach meiner Behauptung zusammengebrochenen Frau im Trainingsanzug und Laufschuhen „aus“ einem Gebäude ins Freie komme.
Langsam und in leichtem Zick-Zack-Kurs nähern wir uns meinem Piaggio, wo ich sie für einen Moment an das Fahrzeug lehnen muss, damit ich die hintere Tür der Beladekabine öffnen kann.
Genau in dem Moment, in dem ich Coco auf die nun zugängliche Fläche legen will, ertönt hinter mir ein lauter Ruf.
Festung Ehrenbreitstein – 16:00 Uhr
Sie hatten den schnellsten Weg zur Festung genommen und waren über die Rheinbrücke, dann auf die B42 in Richtung Neuwied gefahren und dann in Ehrenbreitstein rechts abgebogen. Über das Obertal und die Arenberger Straße waren sie aus südlicher Richtung kommend am kompletten Festungsgelände vorbeigefahren, um dann über Niederberg eine große Schleife zu fahren und sich aus Norden über die nach dem ehemaligen Kurfürsten Richard von Greiffenclau benannte Greiffenklaustraße wieder dem Gelände zu nähern. Es gab zahlreiche Wege auf die Festung, aber nur wenige, die für Pkw geeignet waren. Alle Alternativen wären noch größere Umwege und viel zu langsam gewesen.
Gerade als sie nach Passieren des ehemaligen Geländes der Bundesgartenschau vorbei auf den allgemein zugänglichen Parkplatz vor dem Haupteingang zur Festung anhielten, meldete sich Fisch.
„Ja, was gibt’s?“, beantwortete Auer den Anruf und hegte die Hoffnung, dass Fisch ihnen gute Neuigkeiten mitteilen würde.
„Ich bin da auf etwas gestoßen. Wo seid ihr momentan?“
„Auf dem Parkplatz vor dem Haupteingang, warum?“
Fisch zögerte einen Moment, und Auer konnte sich schon denken, warum, weshalb er sich beeilte zu sagen: „Scheißegal, was du schon wieder illegal gemacht hast, wenn es uns nur weiterhilft, den Verrückten ausfindig zu machen. Los, erzähl.“
Er hörte Fisch erleichtert aufatmen. „Okay, ich hab mir gedacht, die interessantesten Informationen finde ich, wenn ich mich auf die Webseite des ,Förderverein Freunde der Festung‘ reinhacke. Die haben da einen abgeschotteten Bereich, auf den nur die Mitglieder Zugriff haben. Und nun rate mal, was ich da gefunden habe?“
„FISCH!“, brüllte Auer, der gerade wirklich keine Lust auf Ratespiele hatte.
„Schon gut, schon gut. Vor nicht allzu langer Zeit hat man unter dem Fort Helfenstein Räume entdeckt, die bisher nicht erschlossen waren und die auch noch vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden. Ich verwette meinen Hut, den ich nicht habe, darauf, dass Hofbauer Coco genau dorthin bringen wird.“
„Und wie kommen wir da hin?“
„Tja, das ist das Blöde. Das Fort Helfenstein liegt genau entgegengesetzt von eurem jetzigen Standort. Es ist der südliche Vorbau zur Festung. Das ist ein riesiger Umweg da hin, zumal ich nicht weiß, wie weit ihr mit dem Pkw da überhaupt kommt. Der Eingang dort ist eigentlich nur für die Besucher gedacht, die mit dem Schrägaufzug von Ehrenbreitstein anstatt mit der Gondel vom Deutschen Eck kommen. Und die kommen schließlich zu Fuß.“
Fisch schien einen Moment zu überlegen.
„Wenn ich es genau bedenke, dann ist der schnellste Weg dorthin für euch im Moment wohl der Fußweg mitten durch die Festung.“
Auer überlegte nicht lange und stieg aus. Jede Verzögerung könnte tragisch sein, und er verließ sich auf Fischs Aussage, dass dies die schnellste Möglichkeit war, ans Ziel zu kommen.
„Los, Männer, lasst uns dorthinlaufen. Danke, Fisch, ich melde mich wieder“, sagte er noch, beendete das Gespräch und steckte das Handy wieder ein. Dann sprintete er den anderen voraus in Richtung Haupteingang.
Als sie drei Minuten später im Vorhof des Fort Helfenstein ankamen, waren sie nicht nur außer Atem, sondern auch alle drei klatschnass geschwitzt.
Mitten auf dem Vorhof stand ein Fahrzeug, das Auer an die kleinen roten Pizza-Lieferwagen erinnerte, nur dass es blau war. Gerade ging ein Mann mit einer Frau am Arm auf das Auto zu.
Nein, er musste sich korrigieren: Die Frau in dem weißen Trainingsanzug ging nicht, sie torkelte und wäre umgefallen, wenn der Mann sie nicht gestützt hätte. Erst als sie auf etwa zehn Meter an das Fahrzeug herangekommen waren, erkannte Auer die Frau, die er bisher nur von hinten gesehen hatte:
Coco!
Mit einer schnellen Bewegung zog er seine Waffe aus dem Holster und sah aus den Augenwinkeln, dass seine Begleiter es ihm gleichtaten. Noch im Vorwärtsgehen rief er den Mann an, von dem er keinen Zweifel hatte, dass es sich um Hofbauer handelte.
„Hofbauer, Polizei, stehen bleiben und die Hände nach oben, wo wir sie sehen können. Es ist vorbei.“
16:03 Uhr und 10 Sekunden
Mir ist nicht klar, wie sie mich gefunden haben. Ich bin noch immer der Meinung, an alles gedacht zu haben, also kann es nicht sein.
Aber nun stehen sie mir zu dritt gegenüber und haben ihre Waffen auf mich gerichtet. Mir bleiben nicht viele Optionen, die ich aber blitzschnell überschlage. Sicher ist, dass sie nicht ohne einen Anlass einfach schießen werden. Solange ich keine direkte Bedrohung für sie selbst darstelle, werden sie nicht auf jemanden schießen, der nicht anfängt auf sie zu schießen. So sind sie nicht ausgebildet, nicht programmiert. Notwehr ja, Nothilfe vielleicht, aber vorsorglich ohne einen akuten Anlass schießen? Nein, niemals.
Ich springe zu der Stelle, an der Coco gegen mein Fahrzeug lehnt, und reiße sie vor mich und lege ihr den linken Arm von hinten um den Hals. Sie ist zuerst mal mein Schutzschild. Um die drei Polizisten auf Abstand zu halten, taste ich nach der Waffe in meiner Tasche ... und finde sie schließlich. Ich richte sie auf die Männer, die natürlich sofort ihre Vorwärtsbewegung einstellen. Sie haben nicht mit meiner Bewaffnung gerechnet ... wie dumm von ihnen. War es nicht logisch, dass ich Cocos Waffe habe, wenn ich sie selbst habe? Wieder einmal sehe ich, wie oberflächlich, wie uninspiriert, wie berechenbar und vorhersehbar sie sind.
Das gibt mir die Sicherheit, dass ich ohne Probleme diese Situation werde lösen können und unversehrt hier rauskomme.
Nun, da ich sie fürs Erste gestoppt habe, ist es Zeit, mit ihnen zu reden.
„Wie Sie zweifellos einsehen müssen, meine Herren, haben wir hier zunächst mal ein Patt, wobei ich allerdings doch die entschieden besseren Karten in der Hand habe. Wenn Sie nicht möchten, dass Ihrer Freundin etwas geschieht, lassen Sie mich jetzt ungehindert in mein Fahrzeug steigen und wegfahren. Das wird zwar für Ihre Kollegin etwas unbequem, da mein kleines Auto ...“, ich musste kichern bei der Vorstellung, Coco neben mich in die kleine Fahrerkabine zu quetschen, „... na ja, sagen wir mal, nicht allzu viel Platz bietet. Aber lieber etwas beengt fahren als tot, oder?“
Ich konzentriere mich voll und ganz auf Auer, denn die beiden anderen stehen leicht versetzt hinter ihm. Nach wie vor steht er leicht seitlich, die Waffe in beiden Händen und in Augenhöhe nach vorne gestreckt.
„Was soll das, Hofbauer? Sie haben keine Chance. Sie wissen doch, wie Geiselnahmen in der Regel ausgehen. Entweder die Geisel und der Geiselnehmer sind tot oder nur der Geiselnehmer ist tot. Sie sind doch ein intelligenter Mann. Können Sie sich an eine für den Geiselnehmer gut ausgegangene Geiselnahme erinnern? Sicher nicht.“
Ich muss laut lachen. Was bildet er sich ein?
„Sie wollen mich doch wohl nicht mit den minderbemittelten Geiselnehmern vergleichen, mit denen Sie es sonst zu tun haben, oder? Machen Sie sich keine Hoffnungen, ich bin in der Lage, diese kleine Krise unbeschadet zu überstehen. Was ich für die arme Coco leider nicht garantieren kann. Ihr Schicksal hängt wesentlich von Ihrem Verhalten ab. Denken Sie daran: Wenn Cocos Blut fließt, dann klebt es an Ihren Händen.“
Das hat gesessen. Ich sehe, dass seine Hände anfangen zu zittern. Er wird keinen Unsinn machen, da bin ich mir sicher. Er mag die Kleine. Beste Aussichten für mein Entkommen. Er wird nichts riskieren, womit er ihre Gesundheit oder gar ihr Leben gefährden könnte.
Ich sehe den Blitz im gleichen Moment, in dem ich den Schlag gegen die Brust spüre, als Coco gegen mich geschleudert wird. Den Knall höre ich Millisekunden später. Obwohl ich weiß, dass es daran liegt, dass der Schall langsamer als eine Kugel ist, muss ich mich wundern, dass ich diese minimale Differenz so deutlich wahrnehmen kann.
16:04 Uhr und 30 Sekunden
Auer versuchte, das Zittern seiner Hände unter Kontrolle zu bringen. Der Mann war unberechenbar. Er hielt sich für unüberwindlich, für intellektuell überlegen, und er hatte Coco als Trumpfkarte in Händen.
Was soll ich nur tun? Welche Optionen habe ich denn überhaupt?
Coco machte einen desolaten Eindruck auf ihn. Sie wirkte wie betrunken oder betäubt. Zwar stand sie auf eigenen Füßen, aber ihr Kopf fiel immer wieder von links nach rechts und wieder zurück. Sie war nicht in der Lage, ihre Augen offen zu halten, immer wieder fielen sie zu, und im nächsten Augenblick riss sie sie mühsam wieder auf. Von ihr war keine Hilfe zu erwarten. Weder würde sie sich auf Zuruf fallen lassen, damit er freies Schussfeld hätte, noch konnte sie durch einen gezielten Angriff auf ihren Geiselnehmer selbst die Situation bereinigen oder ihn wenigstens ablenken.
Er überlegte fieberhaft, was er als Nächstes unternehmen könnte, nachdem seine Ansprache so kläglich gescheitert zu sein schien.
Der Knall neben seinem linken Ohr war so laut, dass er zusammenzuckte, die Schultern nach oben zog und erschrocken eine Hand auf das Ohr legte. Hätte er den Finger im Abzugsbügel gehabt, wäre vermutlich ein Schuss aus seiner Waffe losgegangen. So flog lediglich sein Kopf zur Seite, weg von dem ohrenbetäubenden Knall, und er sah noch, wie sich aus dem Lauf von Dubens Waffe ein kleines Rauchwölkchen löste.
Ein grauenhafter Schmerz durchzuckte sein Gehirn, und er konnte den Gedanken nicht verhindern, der ihm sofort durch den Kopf ging: Mein Trommelfell ist geplatzt.
Er fiel auf ein Knie und presste die linke Hand noch fester an sein Ohr. Sein nächster Blick galt Hofbauer und Coco ... und seine Augen weiteten sich entsetzt.
In diesem Moment fiel der zweite Schuss.
16:05 Uhr und 20 Sekunden
Sie verstand nur zu einem kleinen Teil, was da gerade vorging. Jemand hatte etwas gerufen, und im nächsten Augenblick wurde sie von hinten mit einem Arm um den Hals festgehalten.
In wenigen Metern Entfernung sah sie wie durch einen Schleier drei Gestalten stehen, die aussahen wie die Bilderfiguren im Schießkino. Waffen nach vorne gestreckt.
Ist das Auer?
Ihre Augen schlossen sich, und sie riss sie unmittelbar danach wieder auf. Aber sie konnte nicht fokussieren, und alles verschwamm immer wieder. Ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen. Alles fühlte sich schwammig, schlaff und kraftlos an. Wie durch einen Nebel kam aus ihrem Unterbewusstsein immer wieder der Name Hofbauer an die Oberfläche. Seitlich sah sie einen Arm an ihrem Kopf vorbei gestreckt, an dessen Ende sie eine Waffe erkannte.
Die Stimme des Mannes, der dicht an ihrem Ohr sprach, kam ihr bekannt vor, aber sie verstand den Sinn der Worte nicht. Ihr Name fiel mehrfach, aber sie konnte den Zusammenhang nicht nachvollziehen.
Dann erhielt sie wie aus dem Nichts einen schweren Schlag, der sie nach hinten warf.
Warum boxt mich jemand vor die Brust? Und warum knallt das so laut?
Ihr Kopf fiel nach vorne, und sie sah verschwommen, dass sich auf der Brust ihres weißen Trainingsanzugs ein schnell größer werdender roter Fleck bildete.
Sie spürte keinen Schmerz und spürte auch nicht, wie ihre Beine einknickten, sich der Arm um ihren Hals lockerte und sie auf den Boden sank.