Epilog

Donnerstag, 11.08. , 09:30 Uhr

In den vergangenen zweiundsechzig Stunden hatte Auer sich immer und immer wieder gefragt, wie es hatte so weit kommen können. Er machte sich Vorwürfe und fühlte sich ganz alleine schuldig am Schicksal von Coco.

Harry hatte ihn zurückhalten müssen, als er sich wütend auf Duben hatte stürzen wollen.

„Was hast du gemacht? Bist du wahnsinnig geworden?“, hatte er außer sich vor Entsetzen und Wut gerufen. Es hatte nichts gefruchtet, und Duben hatte ihm entgegengehalten: „Ich habe getan, was notwendig war ... und wozu du nicht fähig gewesen wärst.“

Duben hatte recht gehabt. Er wäre dazu nicht in der Lage gewesen. Es erschien ihm noch heute, fast drei Tage später, als unvorstellbar, auf eine Geisel zu schießen, um einen mutmaßlichen Serienmörder zu stoppen.

Hofbauer hatte Coco mit seinem linken Arm um ihren Hals vor seiner linken Körperhälfte gehalten, seine rechte Hand mit der Waffe an ihrem Kopf vorbei zeigend. Das Projektil aus Dubens Waffe traf Coco dicht unterhalb ihres rechten Schlüsselbeins, wo es keinen Knochen traf und mit nur minimaler Verzögerung durch sie hindurchging.

Wie durch ein Wunder hatte sie auch bei dem hinter Coco stehenden Hofbauer keine Rippe getroffen, sondern hatte mit fast unverminderter Kraft sein Herz glatt durchschlagen.

Wie die Obduktion am nächsten Tag ergeben hatte, war der seltene – aber schon beobachtete – Fall eingetreten, dass die Kugel das Herz in genau dem Moment durchschlug, als die Herzkammer sich gerade zusammengezogen hatte und sich kein Blut in ihr befand. Im anderen Fall wäre das Herz explodiert, so aber hatte es nun zwei Löcher, schlug weiter, pumpte auch das Blut fleißig weiter – allerdings nicht mehr in die richtigen Bereiche.

Auer wusste von Fällen, in denen Männer mit einem Herzdurchschuss noch weitergelaufen oder auch zurückgeschossen hatten.

Er sah es wie in einem Film noch ein weiteres Mal vor seinem geistigen Auge ablaufen ... wie in den letzten Tagen bereits Hunderte von Malen:

Coco blickt auf die Front des weißen Trainingsanzuges, auf der sich mit rasender Geschwindigkeit ein roter Fleck ausbreitet. Sie knickt in den Knien ein, und gleichzeitig löst Hofbauer den Griff um ihren Hals. Als sie zu Boden sinkt, macht sie den Blick frei auf ihren Entführer, der verblüfft nach unten auf seine eigene Brust schaut. Dort bildet sich gerade ebenfalls ein immer größer werdender dunkler Fleck. Hofbauer schaut wieder auf und in Auers Richtung. Fragend, verblüfft, erstaunt, ungläubig. Dann hebt er langsam die Hand mit der Waffe und ... der zweite Schuss fällt.

Hofbauers fragender Blick ist geblieben, aber natürlich kann er das Loch in seiner Stirn nicht sehen. Von der kinetischen Energie des Projektils mitgerissen, fällt sein Körper steif wie ein Brett nach hinten um. Er ist bereits tot, bevor er auf dem Boden aufschlägt. Nach der Abgabe des zweiten Schusses lässt Duben die Waffe langsam sinken und bleibt wie angewurzelt und völlig starr an seinem Platz stehen.

Als nur fünf Minuten später die Ambulanzen mit schrill kreischenden Sirenen herangebraust und kurz darauf die Sanitäter den Fußweg durch den südlichen Eingang entlanggehetzt kamen, war Coco kaum noch am Leben gewesen. Auer hatte versucht, die Blutung wenigstens so lange und so gut wie möglich zu stoppen, bis die Sanitäter da waren.

„Mensch, Ulf“, riss ihn Fischs Stimme aus seinen Gedanken, „jetzt reiß dich aber mal zusammen. Was willst du eigentlich? Sie kommt doch durch, haben die Ärzte gesagt. Alles halb so schlimm. Also, warum grübelst du denn noch?“

Auer sah auf und bemerkte, dass auch die Blicke von Harry und Duben auf ihm ruhten, die ebenfalls auf eine Antwort vom ihm warteten. Speziell Duben sah betreten zu Boden, als er merkte, dass Auer nun ihn ansah.

In einem langen Gespräch hatten sie alle Unstimmigkeiten zwischen sich geklärt. Duben war nach wie vor der Meinung gewesen, richtig gehandelt zu haben. Letztendlich hatte der Erfolg ihm recht gegeben, und Auer hatte zugeben müssen, dass er selbst nicht dazu in der Lage gewesen wäre. Nichtsdestotrotz hätte er das Risiko als zu hoch empfunden, und wenn Coco tatsächlich gestorben wäre, hätte er Duben für alle Zeit die Schuld daran gegeben.

Gerade als Auer auf Fischs Frage antworten wollte, ging die Tür des Krankenzimmers auf und ein wichtig erscheinender Arzt mit einem Tross von ihn begleitenden Assistenzärzten kam auf den Krankenhausflur des Brüder-Krankenhauses. Auer stürzte auf ihn zu.

„Und? Wie geht es ihr? Wird sie wirklich überleben? Was genau hat sie? Wann können wir zu ihr? Wird sie bleibende Schäden davontragen?“

Der Arzt, dessen Namensschild ihn als „Professor Hissen“ auswies, sah ihn an wie einen Geisteskranken. Dann ging sein Blick an Auer vorbei, und seine Miene erhellte sich.

„Aaah, die Herren Kollegen von der Kripo. Jetzt versteh ich.“

Auer sah sich um und erblickte den hochgehaltenen Dienstausweis von Duben. Schnell wandte er sich wieder zum Professor um. Er wollte gerade wieder ansetzen, als der Arzt die Hand erhob und ihm Schweigen gebot.

„Kein Grund zur Aufregung. Ihre Kollegin ist auf dem Wege der Besserung. Sie hat unverschämtes Glück gehabt, dass das Projektil weder einen Knochen noch eine große Arterie getroffen hat ... oder aber“, er machte eine kleine Pause, „Sie sind ein begnadeter Schütze. Ich kenne die ganze Story. Alle Achtung, tolle Leistung.“

Es war Auer kein bisschen peinlich, sofort den Kopf zu schütteln und lächelnd auf Duben zu verweisen.

„Diese zweifelhafte Ehre gebührt ganz alleine meinem Freund und Kollegen Duben.“ Plötzlich dämmerte ihm, was der Professor eigentlich gesagt hatte. „Habe ich das richtig verstanden? Coco ... äh ... ich meine, Kommissaranwärterin Crott wird wieder vollständig gesund? Dürfen wir denn zu ihr?“

Der Professor sah ihn überrascht an.

„Aber selbstverständlich. Natürlich können Sie zu ihr. Ich glaube, sie erwartet schon eine ganze Zeit irgendwelchen Besuch.“

Er gab seinen Assistenzärzten einen Wink, und die Gruppe zog ein Zimmer weiter.

Vorsichtig öffnete Auer die Tür und blickte in das Krankenzimmer. Coco saß aufrecht in ihrem Krankenbett. Ihre rechte Schulter war von einem riesigen Verband umschlossen, weshalb das Krankenhemd nur eine Schulter verdeckte. Sie wirkte niedergeschlagen und sah traurig vor sich auf die Zeitung, die aufgeblättert auf ihren Beinen lag.

Plötzlich zuckte sie zusammen und blickte auf, als sie offensichtlich seine Schritte gehört hatte. Ihr trauriger Blick erhellte sich ein wenig, aber nicht vollständig.

Besorgt trat Auer an ihr Krankenbett.

„Wie geht es dir? Hast du Schmerzen?“

Sie lächelte ihn traurig an. „Nein, keine körperlichen Schmerzen.“

„Was ist denn dann?“, fragte Auer ratlos.

„Ich hab Scheiße gebaut und alle in Gefahr gebracht. Es tut mir leid.“

Tränen begannen ihre Wangen hinunterzufließen, und Auer beeilte sich, ihre Hand zu nehmen. Er war ratlos, zumal er nicht verstand, welche Vorwürfe sie sich machte.

„Jetzt mal langsam, du hast doch nichts falsch gemacht. Weshalb quälst du dich mit solchem Unsinn?“

„Ich hätte eine Nachricht hinterlassen sollen, mit wem ich mich wo treffe? Ich hätte erst gar nicht alleine dort hingehen sollen.“

„Was für ein Blödsinn! Das konntest du doch nicht wissen. Und übrigens ... Fisch hat auch nichts hinterlassen, wo er sich sein Mittagessen holt, und Duben erst recht nicht. Also wieso solltest du das tun? Ausgemachter Bullshit!“

Sie blickte ihn erstaunt und mit großen Augen an.

„Also machst du mir keine Vorwürfe? So wegen ... Alleingang oder so?“

„Nein, auf keinen Fall“, sagte er mit dem Brustton der Überzeugung, und er meinte es auch genau so.

Die Erleichterung war ihr anzusehen.

„Und? Hab ich denn jetzt doch noch eine Chance?“

Auer verstand nicht. Eine Sekunde lang blitzte der unsinnige Gedanke in ihm auf, sie könne meinen, ob aus ihnen beiden vielleicht etwas werden könne. Er verwarf ihn sofort als Unsinn. Meinte sie also ihre Gesundheit?

„Wieso? Der Professor hat doch gesagt, es ginge dir schon wieder gut und du würdest vollständig wiederhergestellt?“

Das laute Lachen hinter ihm stammte von Duben, Harry und Fisch, die inzwischen ebenfalls in das Zimmer eingetreten waren.

Duben trat an das Bett heran.

„Das ist ja wohl typisch. Der Herr Chefermittler kann vielleicht Kriminelle beurteilen, aber bei seinen Mitarbeitern ist er hilflos ... und ahnungslos natürlich auch. Hast du denn wirklich keine Ahnung, was sie meint?“

Auer wurde es abwechselnd heiß und kalt.

Will sie doch etwas von mir? Ist das vielleicht eine jugendliche Schwärmerei für den älteren Kollegen mit Vorbildcharakter?

Duben klopfte ihm lachend auf die Schulter.

„Dass ich dieses blöde Gesicht noch einmal sehen darf. Zu schön. Nein, du Hirni, sie will nichts von dir, du alter Sack. Sie will zur Mordkommission, was denn sonst.“

Auer blickte zu Coco, die ihn flehentlich ansah und nickte. Dann blickte sie wieder nach unten und murmelte:

„Nach der Prüfung wollte ich mich bei der Mordkommission bewerben. Das war eigentlich schon immer mein Traum ... wenn das denn jetzt noch klappen könnte.“

Die Erleichterung durchflutete ihn und versetzte ihn augenblicklich in Hochstimmung.

„Na sicher doch, gar keine Frage. Du wärst eine Bereicherung für das Team.“

Er drehte sich fragend zu Duben, Harry und Fisch um, und stellte erfreut fest, dass alle drei eifrig nickten. Als sein Blick wieder zurück zu Coco wanderte, sah er, dass ihre Stimmung sich schlagartig geändert hatte.

Sie strahlte ihn an.