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Wenn man jeden Tag mit derselben Straßenbahn fuhr, kannte man die Menschen um einen herum irgendwann auswendig, was sowohl beruhigend als auch desillusionierend war. Ich für meinen Teil fand es einfacher, mich meinem Schicksal hinzugeben, wenn es alle um mich herum auch taten.
Und das taten sie.
Die Vorstädte von Stralsund waren keine Orte, an denen man lange leben konnte, ohne die eigenen Träume früher oder später zu begraben. Wer es nicht schaffte, die Gegend vor dem zwanzigsten Lebensjahr zu verlassen, schaffte es nie mehr und konnte froh sein, einen Job zu haben, dessen Wegrationalisierung noch nicht unmittelbar vor der Tür stand.
Seit vier Tagen sah ich jeden Morgen einige junge Typen, vielleicht Mitte zwanzig, zwei Reihen vor mir in der Bahn sitzen. Sie stiegen immer an der Kunststofffabrik aus. Es mussten Studenten aus Greifswald sein, die in den Semesterferien in Stralsund jobbten, anders konnte ich mir die gute Laune, die sie versprühten, nicht erklären. Wie sie sich unterhielten, wie sie in ihren Sitzen saßen, wie wach sie wirkten - all das war für mich schwer auszuhalten. Zu viel Zuversicht und Hoffnung auf ein besseres Leben. Ich war immer froh, wenn ihr Semester wieder begonnen hatte und ich sie nicht mehr sehen musste.
Für mich war es einer dieser Tage, an denen ich schon vor sieben Uhr von so vielen Dingen die Nase voll hatte, dass es die Tatsache, dass ich in einer dreiviertel Stunde einen gesamten Arbeitstag in einem Job verbringen musste, den ich hasste, noch nicht mal in die Top Ten schaffte.
Ich war Mitte dreißig und sollte es jemals eine Zeit in meinem Leben gegeben haben, in der ich optimistisch und voller Tatendrang in die Zukunft geschaut hatte – sie war lange, lange vorbei. Ich war mir noch nicht mal sicher, ob es diese Zeit jemals gegeben hatte. Vielleicht als ich dreizehn, vierzehn Jahre alt gewesen war. Doch schon damals hatten mir meine Eltern beigebracht, nichts vom Leben zu erwarten.
Ich ging auf die Realschule und schrieb durchschnittliche Noten. Ich hatte wenige Freunde. Ich hatte keine Hobbys. Hobbys waren etwas, was meine Eltern auch nicht hatten. Sie hatten sich dem Schicksal der unteren Arbeiterklasse ergeben und verbrachte ihre Feierabende vor dem Fernseher, wo ich ihnen unweigerlich Gesellschaft leistete, da ich mir mein Zimmer mit meiner älteren Schwester Denise teilen musste, die mich meistens von dem kleinen Teppich zwischen unseren Betten vergraulte, um in Ruhe mit ihrer besten Freundin Ulrike telefonieren zu können.
Ich war in Brandshagen, einem Vorort von Stralsund aufgewachsen und hatte Mecklenburg-Vorpommern mein ganzes Leben lang noch nicht verlassen. Mit der Schulklasse hatten wir einmal einen Ausflug zu den Kreidefelsen bei Sassnitz auf Rügen gemacht und während die Kreidefelsen wirklich beeindruckend waren, hatte sich doch etwas ganz anderes für immer in mein Gedächtnis eingebrannt.
Kurz vor Sassnitz waren wir mit dem Bus am Fährhafen vorbeigefahren. Auf einem blauen Schild hatte «Fähre nach Schweden» gestanden.
Schweden.
Ich wollte schon nach Schweden, seitdem ich in der Stadtbibliothek alle Bilderbücher von Astrid Lindgren verschlungen hatte. Im Gegensatz zu mir waren die kleinen Mädchen in den Geschichten stark und furchtlos und ich schätze, dass ich das schon damals bewundert hatte. Vielleicht dachte ich, dass ich so werden könnte wie Pippi, wenn ich nur auch einmal nach Schweden reiste.
Es waren nur vier Stunden mit der Fähre von Sassnitz nach Trelleborg. Und doch hatte ich es noch nie gemacht. Ich hatte es noch nicht mal in Erwägung gezogen. Als wäre es grundsätzlich außerhalb meiner Reichweite, einmal etwas Besonderes zu unternehmen. Einmal nicht nur das Bundesland zu verlassen, sondern gleich Deutschland. So viele Menschen machten es jedes Jahr und ich, ich blieb immer in Stralsund.
Ich verbrachte meine Urlaube zu Hause in der kleinen Wohnung, die mein Freund Sven und ich uns seit fünf Jahren teilten. Wir hatten einen Balkon, auf den im Sommer die Morgensonne schien, doch wir frühstückten trotzdem meistens in der Küche. Ich konnte mich noch nicht mal dazu aufraffen, den Balkontisch zu decken, um damit ein noch so kleines Gefühl von Urlaub hervorzurufen.
Ich weiß nicht, ob ich schon immer so antriebslos gewesen war. Ob das einfach mein Charakter war. Manchmal dachte ich es und alles in meinem Magen zog sich dann schmerzhaft zusammen. Aber hin und wieder fragte ich mich auch, ob ich nicht ganz anders hätte sein können, wenn ich in einem anderen Umfeld und mit anderen Menschen um mich herum aufgewachsen wären. Mit Menschen, die an mich glaubten. Die an sich selbst glaubten. Die weniger auf dem Sofa saßen und mehr raus gingen und Dinge wahr machten.
Doch selbst wenn ich es wollen würde, mir fehlte das Geld. Nach meinem Realschulabschluss hatte ich eine Ausbildung zur Bürokauffrau gemacht, die eigentlich ganz gut lief, aber dann war mein Ausbildungsbetrieb kurz vor dem Ende meines dritten Lehrjahres insolvent gegangen und ich hatte die Ausbildung nicht beenden können. Tanja, meine Ausbilderin hatte noch nach einem Betrieb gesucht, der mich für die restliche Zeit übernehmen würde, aber die wirtschaftliche Situation sah in der ganzen Region nicht besonders gut aus und sie war einfach selbst zu sehr mit ihrer bevorstehenden Arbeitslosigkeit beschäftigt, als das ich ihre oberste Priorität gewesen wäre.
Am Ende hatte sie sich den letzten Monat, bevor unser Büro geschlossen wurde, krankschreiben lassen und bei allen anderen Kollegen ging es so drunter und drüber, sodass sich niemand um mich kümmerte.
Und ich?
Ich kümmerte mich ebenfalls nicht um mich. Ich ließ das Leben passieren, was dazu führte, dass ich an einem Montagmorgen ohne Job und ohne abgeschlossene Ausbildung aufwachte. Ich wohnte zu der Zeit noch bei meinen Eltern. Weder meine Mutter, noch mein Vater ermunterten mich dazu, mich zu wehren, für meine Rechte als Azubi einstehen oder sonst irgendwie aktiv zu werden.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also tat ich nichts, blieb zu Hause, saß in meinem Zimmer, während die Leute aus meiner Berufsschulklasse ihre Ausbildungen abschlossen, übernommen wurden, das Abi nachholten, Bewerbungen schrieben oder sich arbeitslos meldeten.
Ich wäre wahrscheinlich für immer in meinem Zimmer sitzen geblieben, wenn es nicht Tanja gewesen wäre, die sich ein paar Monate später an mich erinnerte. Sie arbeitete mittlerweile im Büro einer Zeitarbeitsfirma.
Als ob sie nicht selbst dafür verantwortlich gewesen wäre, erklärte sie mir lang und breit, dass sie mir leider keinen Job in ihrem Büro beschaffen könnte, da ich ohne Ausbildung war. Aber sie würde mich gerne in ihre Kartei aufnehmen und sich persönlich dafür einsetzen, dass ich als Zeitarbeiterin für ihr Unternehmen so schnell wie möglich wieder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stände. Natürlich zu einem Stundenlohn deutlich unter dem Branchendurchschnitt, ich war ja wie gesagt ohne abgeschlossene Berufsausbildung.
Ich sagte zu.
Damals war ich neunzehn.
Fünfzehn Jahre waren seitdem vergangen, in denen sich doch nichts verändert hatte. Ich arbeitete immer noch als Leiharbeiterin für ein paar Monate hier und dort, verdiente Mindestlohn, hatte weniger Urlaub als die Leute, mit denen ich mir das Büro teilte und auch sonst eigentlich kein Mitspracherecht. Letzteres war am wenigsten schlimm, da ich sowieso nichts zu sagen hatte. An den Rest gewöhnte ich mich. Man konnte sich schließlich an alles gewöhnen und fünfzehn Jahre waren eine verdammt lange Zeit. Irgendwann akzeptierte ich einfach, dass es das Leben nicht besser mit mir gemeint hatte. Manchmal schmerzte der Gedanke, aber meistens schaltete ich den Fernseher ein und vergaß.
Die nächste Straßenbahnhaltestelle war meine.
Ich stieg aus der Bahn und überquerte die Straße. Das Bürogebäude, in dem ich arbeitete, war ein marodes Haus aus den siebziger Jahren, dessen Räume im Sommer zu warm und im Winter zu kalt waren. Doch auch das hatte ich klaglos akzeptiert. Man gewöhnt sich wirklich an alles.
Oder anders formuliert: Man hört auf, auf Besseres zu hoffen.