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Ich hatte schon viele schlechte Tage auf der Arbeit gehabt, aber dieser war einer der besonders schlechten gewesen. Schon als ich meine Zeitmesskarte vor das Einlesegerät hielt und der Arbeitstag zu ticken begann, hatte ich ein ungutes Gefühl im Bauch. Neun Stunden. Wie sollten die jemals umgehen? Ich wusste es nicht.
Um die Zeit, bis ich bei meinem Schreibtisch ankam, heraus zu zögern, ging ich zuerst zur Kantine, um das heutige Mittagsmenü zu studieren. Es gab Schnitzel und Pommes, wie so oft. Dann ging ich noch zwei Korridore weiter, um in dem WC, das am weitesten von meinem Arbeitsplatz entfernt war, einen konsternierten Blick in den Spiegel zu werfen und einen Tropfen Parfüm am Hals aufzutragen. Danach nahm ich die Treppe in den dritten Stock, wobei ich auf jeder Stufe kurz innehielt.
Insgesamt waren das sieben Minuten, die ich nicht in diesem schrecklichen Großraumbüro verbringen musste.
Wir waren sieben kaufmännische Angestellte in einem Raum, der für vier ausgelegt war. Ich war mit Abstand die Jüngste. Unser Chef, Volker, hatte sein Büro am hinteren Ende des Raumes. Wir waren seine Vorzimmerdamen. So nennt er uns wirklich.
Volker war wie ein Gockel, der erst in einer Schar von Hühnern richtig aufblühte. Komischerweise fanden ihn alle anderen toll, aber ich konnte ihn nicht ausstehen. Er hatte mir schon einige Male zu tief in den Ausschnitt geschaut.
Ich mochte es nicht, vor ihm gehen zu müssen, weil ich wusste, dass er mir dabei auf den Hintern starrte. Volker war einer dieser Chefs, der einen auf besten Freund machte und war einer dieser Männer, die ständig Körperkontakt suchten. Die anderen Vorzimmerdamen fanden es toll, wenn er ihnen vertrauensvoll den Arm um die Schulter legte. Aber ich versteife dann immer.
Natürlich sagte ich nichts. Ich brauchte diesen Job. Und ich war viel zu schüchtern, um mich zu wehren. Vor allem weil ich wusste, dass ich mit meiner Meinung alleine auf weiter Flur stand. Die anderen würden ihn im Zweifel verteidigen.
Was sie nicht wussten: Wenn ich donnerstags eine Stunde länger als die anderen bleiben musste, weil ich Telefondienst hatte, dann blieb es nicht bei Volkers Blicken. Dann baggerte er mich wirklich an.
Es war also nicht nur so, dass ich neun Stunden an einem Bürotisch gefesselt verbringen und standardisierte Emailantworten verfassen musste, was an sich schon schlimm genug war; ich wusste auch noch, das die letzte Stunde die Schlimmste werden würde.
Der Vormittag plätscherte ereignislos dahin. In meinem Postfach befanden sich 459 E-Mails, die darauf warteten, gelesen und beantwortet zu werden. Ich arbeitete seit fast drei Monaten in dieser Firma. Es war ein Großhandelsunternehmen für pharmazeutische Produkte. Ich hatte vorher nichts über diese Branche gewusst.
Die Menschen, mit denen ich tagtäglich zu tun hatte, würde ich als schmierig, hinten herum und auf den eigenen Vorteil bedacht beschreiben. Zum Glück waren es überwiegend nur E-Mail-Kontakte. Wenn ich Telefondienst hatte, musste ich mich jedes Mal zusammen reißen, bevor ich den Hörer abnahm.
Von den anderen Vorzimmerdamen unterschied ich mich nicht nur durch mein jüngeres Alter. Es gab diesen Schlag Mensch, der dafür gemacht war, jeden Tag auf demselben Stuhl zu sitzen und dieselben Dinge zu tun und dabei glücklich zu sein. Das waren diejenigen, die ihren Schreibtisch eingerichtet hatten wie ein Wohnzimmer: ein eingerahmtes Bild ihrer Familie lehnte an einer Topfpflanze und ein billiges, kitschiges Dekoungetüm verschönerte die andere Seite ihres Computerbildschirmes.
Mein Schreibtisch war hingegen leer. Ich hatte kein Bild von meinem Freund Sven aufgebahrt. Ich sah ihn ja schon jeden Abend und das reichte mir.
War es hart, sowas zu sagen?
Wahrscheinlich schon. Es war nur so, dass Sven und ich seit neun Jahren zusammen waren und ich ihn seit mindestens vier Jahren nur noch ertrug, so wie ich mein Leben generell ertrug.
Ich liebte ihn nicht.
Ich war in Bequemlichkeit und der Angst vor Veränderung gefangen. Außerdem glaubte ich nicht, dass ich jemals jemand Besseres finden würde. Niemand wollte ein Mauerblümchen wie mich haben. Es war einfach die Wahrheit. Ich machte mich nicht zurecht, trug immer dieselben Klamotten (ich konnte mir moderne Stücke eh nicht leisten und bei Aldi und Lidl zu «shoppen» machte nicht gerade Spaß) und hatte auch noch nie Sport gemacht. Einzig mit meinem Stoffkreislauf schien ich gesegnet zu sein, denn Übergewicht war noch nie ein Thema für mich gewesen.
Ab sechszehn Uhr verzogen sich die anderen Vorzimmerdamen nach und nach, räumten mit ihrem beringten Fingern und den Handgelenken, an denen glitzernde Armbänder baumelten, ihre strassbesetzten Smartphones in ihre klimpernden Handtaschen und verabschieden sich von uns anderen mit Küsschen, Umarmungen und einem mindestens fünfminütigen, völlig unnötigen Klatsch- und Tratschgespräch im Türrahmen. Bis sie alle weg waren und ich das Radio ausschalten konnte, das immer lief, wenn außer mir noch andere im Büro waren, dauerte es bestimmt zwanzig Minuten. Als ich endlich alleine war, atmete ich tief durch und genoss den kurzen Moment der Ruhe. Es dauerte nicht lange, bis Volker mit einer leeren Kaffeetasse aus seinem Büro kam.
«Anna», sagte er. «Würdest du mir einen Gefallen tun und mir einen Kaffee machen? Ich kann dieses Ungetüm von Kaffeemaschine einfach nicht bedienen und deinen Kaffee mag ich am liebsten.»
Ich nickte, wendete den Blick aber nicht vom Bildschirm ab. Ich wollte ihm nicht in die Augen schauen. Er stellte die Tasse neben mich und verschwand wieder in seinem Büro, wobei er die Tür offen ließ. Ich betrachtete die weiße Tasse. In dicken schwarzen Buchstaben stand bester Chef
auf ihr. Sie war am Rand verschmiert, dort wo seine Lippen sie berührt hatten. Es schüttelte mich. Die Tasse war das letzte Weihnachtsgeschenk der Vorzimmerdamen gewesen, aber zum Glück nicht von mir, da ich zu der Zeit noch in einer anderen Firma gearbeitet hatte.
Ich stand auf, nahm die Tasse und ging in die kleine Küche auf unserem Gang. Während ich darauf wartete, dass der Kaffee durch den Filter lief, spülte ich die Tasse. Dafür zog ich Gummihandschuhe an. Vor allem den Rand wollte ich nicht berühren.
Als ich die volle Kaffeetasse auf Volkers Schreibtisch stellte, schaute er nicht von seinem Bildschirm auf. Erleichtert drehte ich mich um und war schon fast aus der Tür raus, als er unvermittelt sagte: «Du hast einfach den geilsten Arsch der Abteilung.»
Ich erstarrte. Mir wurde heiß. So deutlich war er noch nie gewesen. Ich blieb stehen, unschlüssig, was ich tun sollte. Umdrehen? Weitergehen? Ich wollte nicht, dass er so mit mir redete.
Ich hörte ein Stühlerücken. Er kam näher, stand jetzt wahrscheinlich knapp hinter mir. Alles in mir verkrampfte sich. Gleich würde seine Hand meinen Po berühren, ich wusste es.
«Ich könnte jede in diesem Büro haben», sagte Volker und ich spürte seinen Atem in meinem Nacken. «Jede. Nur du, du behandelst mich so abweisend wie eine Eisprinzessin. Das treibt mich in den Wahnsinn.»
«Ich habe einen Freund», presste ich hervor.
Ich spürte, wie seine Hand noch immer über meinem Po schwebte.
«Das mag sein», flüsterte er. «Aber eine Sache ist klar. Er bringt es nicht. Das sieht jeder, der sich mit Frauen auskennt, aus zehn Meter Entfernung.» Er legte seine Hand auf meine linke Pobacke. «Dieser Hintern ist viel zu schade für deinen Freund. Wenn du mal wirklich was spüren willst, du weißt ja, wo mein Büro ist.»
Er ließ los und ich stolperte, völlig durch den Wind, aus dem Büro.
Als es endlich Feierabend war, sprang ich erleichtert auf. Ich hatte mich auf nichts mehr konzentrieren können. Bevor ich den Computer ausschaltete, starrte ich auf den E-Mail-Entwurf, den ich seit einer halben Stunde immer wieder neu formuliert hatte.
Ich hatte in meinem Leben noch nie etwas Mutiges getan. Aber Volker hatte eine Grenze überschritten. Ich kniff die Augen zusammen und klickte auf absenden
.
Als ich in der Straßenbahn nach Hause saß, hatte ich noch immer Herzklopfen. Ich versuchte, mich abzulenken. Dachte an Schweden. Eines Tages würde ich dort Urlaub machen. Doch mein Chef hatte mir selbst meine Schwedenphantasien vermiest.
Immer wieder musste ich an das Vorkommnis denken. Nicht nur daran, dass er meinen Po begrabscht hatte. Sondern auch an das, was er gesagt hatte. Ich konnte es kaum aushalten, dass er bei so einer intimen Sache den richtigen Riecher hatte.