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Freitag. Eigentlich der Tag, an dem es mir etwas leichter fiel als an den anderen Tagen der Woche, mich ins Büro zu schleppen. Doch heute war es anders. Ich hatte die ganze Nacht über kaum ein Auge zugetan. Was hatte ich mir gestern nur gedacht? Ich hatte die oberste Regel gebrochen: nicht auffallen.
Wenn du nicht auffällst, passiert dir auch nichts
. Das war der Grundsatz, den mich meine Eltern gelehrt hatten und an den ich mich die letzten vierunddreißig Jahre gehalten hatte. Ich fragte mich, was gestern nur in mich gefahren war. War ich etwa doch jemand, der für seine Rechte einstand?
Ich hatte eine E-Mail an den Betriebsrat geschickt. Und von der sexuellen Belästigung meines Chefs berichtet. Ich war es leid gewesen. Auch wenn ich unscheinbar, schüchtern und schwach war, so wollte ich wenigstens nicht die sein, an der man sich vergreifen konnte. Einen Pograbscher konnte ich noch verkraften, aber wir kennen ja alle das Sprichwort: Wem man den kleinen Finger reicht...
Das konnte ich nicht zulassen.
Als ich ins Büro kam, war alles wie immer. Zwei Vorzimmerdamen waren bereits da, das Radio lief. Als ich eintrat, beendeten sie ihr Gespräch, das wahrscheinlich wie immer höchst privat und ziemlich detailliert war.
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. Ich hatte heute keine Runde zur Kantine und zur weit entfernten Toilette gemacht. Ich hatte noch nicht mal die Treppen genommen, sondern den Aufzug. Ich hoffte, dass die anderen Vorzimmerdamen nicht sahen, dass ich zitterte.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis mein Computer mein E-Mail-Postfach endlich geöffnet hatte. Die neuen E-Mails wurden abgerufen. Es waren nur zweihundert, weil Freitag war. Ich überflog die Absender. Eine Nachricht vom Betriebsrat war nicht dabei. Eigentlich nicht verwunderlich, da ich die E-Mail gestern spät geschickt hatte und es heute erst kurz nach acht Uhr morgens war. Trotzdem war ich enttäuscht.
Ich machte mich an die Arbeit und bemühte mich, nicht aufzufallen. Als Volker um halb zehn ins Büro kam, zuckte ich trotzdem zusammen. Ich versuchte, mich so zu verhalten, wie ich mich immer verhielt, auch wenn ich plötzlich gar nicht mehr wusste, wie das aussah. Volker beachtete mich nicht. Das musste bedeuten, dass er noch von nichts wusste.
Der Vormittag zog sich wie ein überdehntes Kaugummi dahin. Ich lauschte den Gesprächen der anderen Vorzimmerdamen, ohne mich daran zu beteiligen. Nur einmal wurde ich aufmerksam, als eine von ihnen erzählte, dass sie und ihr Mann an diesem Nachmittag mit der Fähre nach Schweden übersetzen würden, um bei Bekannten in einem Vorort von Malmö Mittsommer zu feiern. Ich schaute auf den Kalender. Es war tatsächlich der 21. Juni. Mittsommer. Wie hatte ich das übersehen können?
Wie sehr ich meine Kollegin doch beneidete! Ich schaute weiter konzentriert auf meinen Bildschirm, aber hörte zu, wie sie der anderen Vorzimmerdame erzählte, dass sie mindestens viermal im Jahr nach Schweden reisten. Die Natur, die Luft, die Leute – alles sei ein klein wenig besser in Schweden, ein klein wegen gleichberechtigter und ein klein wenig teurer.
«Das klingt echt toll», sagte die andere Vorzimmerdame. «Ich wünschte, ich könnte auch.»
«Die Fähre ist seit Monaten ausgebucht, du kannst dir ja vorstellen, dass Mittsommer die Reisezeit in den Norden schlechthin ist.»
«Zu schade.»
«Für Fußgänger oder Radfahrer ist aber immer noch Platz», sagte sie tröstend.
Ich konnte nicht anders, ich verlor mich in einem Tagtraum, der daraus bestand, dass ich schnurstracks nach Hause ging, den alten Rucksack aus dem Drempel holte, das Zweimannzelt von Aldi und den Schlafsack von Lidl einpackte, mit dem Zug nach Sassnitz fuhr und ebenfalls Mittsommer in Schweden verbrachte.
Es wäre zu schön.
Ob Sven mitkommen würde? Er hasste es, draußen zu sein. Niemals würde er in einem Zelt übernachten. Nein, er würde diesen Freitag, wie auch jeden anderen, an der Playstation spielend auf der Couch verbringen. Ich würde neben ihm sitzen und mich langweilen, aber auch keinen Gegenvorschlag machen. So war unser Leben. Samstags ging er mit ein paar Freunden in die Kneipe zum Bier trinken und Fußball schauen und ich putzte in der Zeit unsere Wohnung. Am Sonntag schliefen wir aus und am Nachmittag besuchten wir entweder seine oder meine Eltern.
So würde mein Wochenende aussehen. So sah es seit Jahren aus und so würde es aussehen, bis ich in Rente ging.
Volker, der in einer Besprechung gewesen war, die jeden Freitag vor dem Mittagessen stattfand, kam zurück. Ich merkte sofort, dass etwas nicht mehr stimmte. Er lächelte nicht, er flirtete nicht mit den anderen Vorzimmerdamen und er legte noch nicht mal der jungen Auszubildenden vertrauensvoll die Hand auf die Schulter, während er ihr etwas außerordentlich Wichtiges erklärte. Er verschwand wortlos in seinem Büro und schloss die Tür.
Mir entbrannte der Schweiß unter den Achseln. Nun musste er Bescheid wissen. Es konnte nicht anders sein. Plötzlich bekam ich es mit der Angst zu tun. Was sollte ich jetzt machen? Wie sollte ich mich verhalten? Hatte ich nicht ein Recht auf Beistand?
In dem Moment kam mein Kollege Norbert, von dem ich wusste, dass er im Betriebsrat war, in unser Büro und schaute sich suchend um. Als sich unsere Blicken trafen, nickte er mir zu.
«Anna, hast du einen Moment?», fragte er.
«Natürlich», antwortete ich und stand auf. Die anderen Vorzimmerdamen schauten mich neugierig an. Ich hatte erwartet, dass er mit mir unter vier Augen sprechen wollte, doch zu meinem Entsetzten öffnete er die Tür zum Büro meines Chefs und bedeutete mir, einzutreten. Das tat ich mit klopfendem Herzen.
«Setz dich», sagte Norbert.
Ich versuchte, mich innerlich für das bevorstehende Gespräch zu wappnen. Ich konnte das schaffen. Ich würde, ohne zu weinen oder sonstige Emotionen zu zeigen, von dem Vorfall gestern berichten und dafür sorgen, dass mein Chef die Konsequenzen bekam, die er verdient hatte. Ich konnte mich wehren. Ich konnte für mich einstehen.
Doch es kam ganz anders, als ich gedacht hatte.
Volker drehte sich zu mir und Norbert um, lächelte und ergriff das Wort. Ich schaute Norbert entgeistert an. Wieso bekam der Angeklagte das erste Wort?
Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis ich erkannte, warum. Weil das hier nicht der Beginn eines Gespräches über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz war, sondern der Beginn eines Gespräches, in dem mir gekündigt wurde.
Ich konnte es kaum glauben, aber hier saß Volker, der mir gestern noch an den Po gefasst hatte und kündigte mir. Ich hörte nicht zu, konnte nicht zuhören, weil ein Teil von mir einfach so sprachlos war. Es war vollkommen egal, was er sagte. Es waren fadenscheinige Entschuldigungen und vorgeschobene Ausreden, um mich loszuwerden.
Ich hatte eine entscheidende Sache übersehen. Nein, zwei.
Erstens hatte ich übersehen, dass Norbert ein persönlicher Freund meines Chefs war. Zweitens hatte ich übersehen, dass ich noch in der Probezeit war und mir fristlos und ohne Angabe von Gründen gekündigt werden konnte.
Und als wäre das für mich nicht schon Demütigung genug, stellte es mich als Leiharbeiterin bei meiner Verleihfirma auch noch in ein schlechtes Licht, wenn mir in der Probezeit gekündigt wurde. Wahrscheinlich würden sie mir den Stundensatz wieder kürzen. Und es konnte dauern, bis es eine neue Stelle für mich gab. Es war Juni. Totale Flaute. Ich war schon mal im Sommer arbeitslos gewesen. Bis zum Herbst konnte ich es vergessen, einen neuen Job zu finden.
Meine Gedanken rasten, während Volker und Norbert so taten, als würden sie mir mit der Kündigung einen Gefallen tun und es nur gut mit mir meinen. Selbstverliebtes Geschwätz von zwei Männern, die sich später ins Fäustchen lachen würden, dass sie mit sowas durchkamen. Ich hatte noch nicht mal genügend Gespartes, um bis zum Herbst finanziell über die Runden zu kommen. Ich würde Sven um Hilfe bitten müssen. Dann würde ich bei ihm in der Schuld stehen. Daran wollte ich gar nicht denken. Wir hatten eine strenge Kostenteilung. Er verdiente besser als ich und war nicht bereit, mehr als die Hälfte der monatlichen Miet- und Esskosten mit mir zu teilen.
Und das alles passierte nur, weil ich es gewagt hatte, einmal für meine Rechte einzustehen.
Das mache ich nie wieder, dachte ich mir, als ich wortlos zu meinem Schreibtisch ging und meine Tasche nahm. Ich überlegte kurz, ob es einen persönlichen Gegenstand gab, den ich mitnehmen wollte, doch mein Arbeitsplatz war so leer, als wäre ich nie wirklich da gewesen. Alles, was dort noch lag, war Eigentum der Firma, aus der ich soeben entlassen worden war.