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Wie oft hatte ich mir freitagmittags gewünscht, nicht mehr im Büro zu sein, sondern bereits auf dem Weg nach Hause. Die letzten Stunden vor dem Wochenende waren immer mit am schlimmsten und oft hatte ich mir ausgemalt, was ich in diesen zwei Stunden alles machen könnte, wenn ich sie zur freien Verfügung hätte.
Ich hatte mir vorgestellt, in die Innenstadt zu fahren und mich in eines dieser süßen, inhabergeführten Cafés am Marktplatz zu setzen, einen Cappuccino zu bestellen und vollkommen ok damit zu sein, alleine am Tisch zu sitzen. Oder ich hätte ans Meer fahren können; das machte man viel zu selten, obwohl es so nah war. Ich hatte mir vorgestellt, endlich in die Stadtbibliothek zu gehen und meinen Ausweis zu erneuern, damit ich wieder regelmäßig Liebesromane ausleihen konnte. Ich hatte darüber nachgedacht, ein Probetraining im Fitnessstudio zu absolvieren. Ich weiß, dass das alles Dinge waren, die man nicht nur freitags zwischen dreizehn und fünfzehn Uhr machen konnte. Ich wusste, dass es eine Ausrede war.
Denn jetzt, wo ich zu ersten Mal an einem Freitag um dreizehn Uhr auf dem Weg nach Hause war, wurde mir klar, wie froh ich in Wahrheit gewesen war, dass eine anstrengende Vierzig Stunden-Woche immer als Ausrede hergehalten hatte. Jetzt, wo ich all diese Sachen hätte machen können, war ich wie gelähmt.
Ich hatte meinen Job verloren. In der Probezeit. Wie sollte ich das erklären, wo ich es doch selbst nicht richtig verstand?
Ich tat das, was ich sowieso tun musste. Ich rief Tanja, meine Ansprechpartnerin bei der Zeitarbeitsfirma an. Es hatte mich gestern schon so viel Überwindung gekostet, dem Betriebsrat von der sexuellen Belästigung zu berichten, dass ich es nicht über mich brachte, die Geschichte noch einmal zu erzählen. Vor allem, da ich mir sicher war, dass Volker und Norbert intervenieren und mir die Worte im Mund umdrehen würden, sodass ich am Ende schlechter dastand als eh schon.
Ich ließ Tanjas Standpauke klaglos über mich ergehen. Das hatte ich schließlich schon immer so gemacht. Was allerdings ungewohnt war, war der Ärger, der mit einem brodelnden Kribbeln in meinem Bauch begann und immer stärker wurde, je länger Tanja mir vorwarf, mich nicht genügend angestrengt zu haben. Warum sollte einem sonst schon in der Probezeit gekündigt werden?
Eine Wut wurde in mir wach, die sehr lange in mir geschlummert haben musste. Mit einem Mal war ich mein Leben so leid.
Ich konnte noch nicht mal sagen: Was war nur aus mir geworden? Denn ich war nie anders gewesen. Immer unterwürfig, immer schüchtern, nie stark. Wie lange sollte es so weitergehen? Warum konnte meine Kollegin mal eben übers Wochenende nach Schweden fahren und mir wurde sofort gekündigt, sobald ich ein einziges Mal in meinem Leben für mich einstand?
Dann wurde mir etwas klar. Mitten im Gespräch klickte ich Tanja weg und ließ die Hand mit meinem Smartphone in meinen Schoß sinken.
Es war der einundzwanzigste Juni. Mittsommer. Ich war ohne Job. Ich war zwei Stunden früher als gedacht von der Arbeit losgekommen (so konnte man es schließlich auch formulieren. Arbeitslos war ich im Grunde erst ab Montag). Und die Vorzimmerdame hatte doch gesagt, dass man als Fußgänger immer noch einen Platz auf der Fähre fand.
Ich könnte versuchen, Sven dazu zu überreden, heute noch mit mir mit der Fähre nach Schweden überzusetzen und das Wochenende im Land meiner Träume zu verbringen.
Eine Begeisterung ergriff mich, die so stark war, dass ich selbst erschrak. Ich wusste gar nicht, dass ich zu solchen Gefühlen fähig war. Wann hatte mich das letzte Mal eine Idee so sehr gepackt? Ich wusste es nicht. Wahrscheinlich noch nie.
Ich dachte weiter nach. Es könnte die Chance für Sven und mich sein, unserer eingeschlafenen Beziehung neues Leben einzuhauchen. Gemeinsam im Zelt an einem einsamen See. Wenn das nicht romantisch war!
Ich war bereit, mich nochmal emotional neu auf ihn einzulassen. Vielleicht lag es daran, dass ich gerade meinen Job verloren und das Bedürfnis hatte, mich an etwas Bekanntes zu klammern. Und die Beziehung zu Sven war so ziemlich das bekannteste und vorhersehbarste, was es in meinem Leben gab. Vielleicht gab es noch die Hoffnung, dass ich ein wenig glücklicher werden konnte.
Irgendwann würden wir heiraten, das war der Lauf der Dinge und ich hatte mich damit abgefunden. Aber vielleicht konnte ich noch eine Seite in Sven entdecken, die mich ein bisschen mehr begeisterte als all die Seiten, die ich in den letzten Jahren an ihm entdeckt hatte und die mich eine nach der anderen desillusioniert hatten.
Als ich aus der Straßenbahn stieg, hatte ich einen Plan. Ich hatte die Fährabfahrtszeiten schon recherchiert. Wir konnten es noch schaffen.