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Ich steckte den Schlüssel in die Haustür und drehte ihn aufgeregt im Schloss. Sven musste freitags nur den halben Tag arbeiten, deswegen war er schon zu Hause. Zitternd warf ich meinen Schlüsselbund in das kleine Schälchen, das auf der Kommode neben der Küchentür stand und streifte meine Schuhe ab.
«Bin da», rief ich durch den Flur. Keine Antwort. Vielleicht war Sven unterwegs? Ich hatte keine Ahnung, was er freitags sonst so machte, wenn ich noch auf der Arbeit war. Ich warf einen Blick ins Wohnzimmer.
Da saß er auf unserer ausgeleierten, schmutzigroten Couch. Er hatte seine Arbeitsklamotten gegen sein Wochenend-T-Shirt und eine alte Jogginghose gewechselt und starrte gebannt auf den 58 Zoll-Fernseher.
Er hatte mich nicht gehört, weil er Kopfhörer trug und seine ganze Aufmerksamkeit dem Actionspiel galt, dass er auf seiner Playstation spielte. Es war sein Lieblingsspiel. Wobei ich würde es vielleicht nicht als Lieblingsspiel bezeichnen. Es war einfach das Spiel, dass er ständig gespielte. Ich war überzeugt davon, dass er süchtig war. Er konnte für Stunden in dieser künstlichen Welt verschwinden. In dieser Zeit war er nicht ansprechbar, saß regungslos auf dem Sofa, aß nichts, trank nichts und wenn er es irgendwann tatsächlich schaffte, auf den «Aus»-Knopf zu drücken, dann war er nicht entspannt oder ausgeglichen, sondern es war, als wäre er aus einem tiefen, traumlosen Koma erwacht.
Einen Moment verweilte ich im Türrahmen und schaute ihn an. Ich musste daran denken, wie wir uns kennen gelernt hatten. Es war auf der Geburtstagsfeier einer Arbeitskollegin gewesen. Ich hatte kaum jemanden gekannt, da ich generell wenige Leute kannte. Allein die Tatsache, dass ich auf einer Geburtstagsfeier eingeladen gewesen war, hatte an ein Wunder gegrenzt. Ich glaube Susanne, mit der ich zu der Zeit zusammen gearbeitete, hatte Mitleid mit mir gehabt. Oder sie hatte aus Versehen die falsche Anna eingeladen. Es war schließlich kein ungewöhnlicher Name.
Ich war pünktlich, und damit zu früh auf der Feier erschienen, obwohl ich Ewigkeiten vor meinem Kleiderschrank gestanden und überlegt hatte, was ich anziehen sollte. Die Auswahl war nicht besonders groß gewesen. Am Ende hatte ich mich für ein dunkelrotes Oberteil und meine schönste Jeans entschieden.
Wenn ich daran zurückdachte, schämte ich mich selbst für mich. Auf eine Geburtstagsfeier eingeladen zu werden, war selbst mit Mitte zwanzig noch etwas so Besonderes für mich, dass ich schon morgens aufgeregt gewesen war und den ganzen Nachmittag wie auf heißen Kohlen gesessen hatte. Um kurz vor sieben hatte ich es einfach nicht mehr ausgehalten und mich auf den Weg gemacht, da in der Einladung neunzehn Uhr gestanden hatte.
Solange nur wenige Leute auf der Party waren, hatte ich mich noch ganz gut geschlagen. Ich stellte Fragen und unterhielt mich nett mit den anderen Gästen. Erst, als es immer voller und ausgelassener geworden war, die Getränke alkoholhaltiger und die Gespräche flirthafter, wurde ich unsichtbar. Ich saß in einer Ecke des Tisches, vor mir ein Glas Cola und wusste nicht, was ich sagen sollte, wo ich hinschauen sollte und wie ich mich generell verhalten sollte. Ich hatte bestimmt seit einer Stunde mit niemandem geredet. Ich war mit der Zimmereinrichtung verschmolzen und je länger ich dort saß, desto unmöglicher erschien es mir, aufzustehen und wieder aktiv am Geschehen teilzunehmen. Denn dann würde ich die Aufmerksamkeit erst recht auf mich lenken. Ich wollte niemanden daran erinnern, dass ich die Frau war, die stumm in der Ecke saß und mit niemanden reden konnte. Es war eine verflixte Situation.
Dann kam Sven. Er küsste Susanne zur Begrüßung auf beide Wangen. Sie schienen gut befreundet zu sein. Er fiel mir auf, weil seine braunen Haare mit zu viel Gel hochgegelt waren und er bereits betrunken zur Feier erschienen war. Außerdem hatte ich von meiner Ecke aus perfekte Sicht auf den Wohnungseingang und nichts anderes zu tun, als die Menschen um mich herum zu beobachten.
Ich fragte mich, von wo er wohl kam, dass er um halb elf schon so betrunken war. Ich sah ihm zu, wie er verzweifelt versuchte, den Korken einer Sektflasche zu öffnen. Er wirkte nicht wie eine Person, die Sekt trank. Doch das musste er natürlich selbst wissen. Es gelang ihm einfach nicht, den Korken zu lösen. Irgendwann hatte ich Mitleid. Ich stand auf und ging zu ihm rüber. Wortlos nahm ich ihm die Flasche aus der Hand und öffnete sie ihm. Dann griff ich einen Plastikbecher vom Tresen und schüttete ihm etwas hinein. Ich hielt ihm den Becher hin.
«Ich mag gar keinen Sekt», sagte er, woraufhin ich mir ein Lachen nicht verkneifen konnte. Er wandte seinen Blick, der zuvor noch meinem Dekolleté gegolten hatte (das in dem roten Oberteil ganz gut zur Geltung kam), meinem Gesicht zu. Unsere Blicke trafen sich und mein Lächeln wurde eine Spur schüchterner. Ich war nicht besonders erfahren, was den Umgang mit Männern anging. Man könnte auch sagen, dass ich noch nie eine Beziehung gehabt hatte, geschweige denn Geschlechtsverkehr. Noch nie hatte mich jemand so interessiert angeschaut wie Sven es in dem Moment tat.
«Eventuell würde mir der Sekt plötzlich doch schmecken, wenn du mir dabei Gesellschaft leisten würdest.»
Er griff nach einem weiteren Plastikbecher und sah mich auffordernd an. Ich zögerte einen Moment. Ich fand Sven durchschnittlich attraktiv, durchschnittlich anziehend und durchschnittlich freundlich. Ich wusste aber auch, dass ich so eine Chance vermutlich nie mehr in meinem Leben bekommen würde. Also nahm ich ihm den Becher mit Sekt aus der Hand. Wir stießen an. Ich trank meinen Becher in einem Zug aus und der Rest war, wie man so schön sagt, Geschichte.
Am Anfang fühlte es sich toll an, dass sich endlich jemand für mich interessierte. Auch meine Eltern und meine Schwestern waren geradezu erleichtert, als ich Sven das erste Mal mit nach Hause brachte. Mit der Zeit merkte ich jedoch, dass ich Sven als Menschen eigentlich nicht besonders mochte. Doch ich machte das, was ich gelernt hatte: Ich gewöhnte mich daran und erwartete nicht mehr.
Zurück zum Tag meiner Kündigung. Mittlerweile hatte Sven mich wahrgenommen. Er warf mir einen kurzen Blick zu und zog eine Augenbraue hoch. Das musste als Begrüßung reichen. Die Kopfhörer nahm er nicht ab.
«Mir wurde gekündigt», sagte ich, weil ich wusste, dass er es nicht hören konnte.
«Hm?», machte er und nahm widerwillig die Kopfhörer ab. «Was hast du gesagt?»
«Hast du Lust, einen Ausflug zu machen?», sagte ich.
«Ich bin mitten in Level 58.»
«Ich dachte, wir könnten das Wochenende in Schweden verbringen.»
Er schaute mich an und lachte. «Was hast du denn für Hirngespinste. Als ob ich heute noch nach Schweden fahren würde. Es ist Mittsommer. Ganz Schweden ist heute auf den Beinen. Und eine Millionen Touristen. Schönen Dank auch.» Er sah meinen verletzten Gesichtsausdruck. «Nie im Leben, sorry Anna.»
«Mittsommer in Schweden ist bestimmt schön», erwiderte ich leise.
Er sah mich nochmal an, diesmal eine Spur aufmerksamer. «Hast du einen Sonnenstich?»
«Ich meine es ernst», sagte ich und setzte mich zu ihm auf das Sofa. Er drückte die Pause-Taste und ich sagte: «Lass uns etwas Verrücktes machen. Lass uns nach Sassnitz fahren und mit der Fähre nach Schweden übersetzten. Ich will einmal Mittsommer dort erleben. Davon träume ich schon mein ganzes Leben.»
«Das ist doch Quatsch», sagte Sven. «Davon erzählst du gerade zum ersten Mal.»
«Naja, du hast mich ja auch noch nie gefragt, wovon ich träume.»
Es war die Wahrheit. Sven hatte sich von Anfang an nicht für mein Seelenleben interessiert. Er hatte in der Anfangsphase unserer Beziehung noch höflich zugehört, wenn ich etwas erzählte, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, dass er auch nur einmal nachgefragt hätte, geschweige denn von sich aus etwas über mich hatte wissen wollen.
Diese Erkenntnis wäre für viele sicherlich absolut erschütternd gewesen. Ich hatte diese Tatsache schon lange als Teil meines Schicksals akzeptiert, doch wunderte mich trotzdem darüber, wie leicht es mir plötzlich fiel, die Worte auszusprechen.
«Oh man», sagte Sven eine Spur genervt. «Dann erzähl mir doch, wovon du sonst noch so träumst. Urlaub auf den Malediven? Eine Villa am Bodensee?»
Ich ignorierte ihn. «So ein Wochenende mal rauskommen, glaubst du nicht, dass uns das gut tun würde?», fragte ich stattdessen.
Er sah mich irritiert an. «Warum sollte es? Es ist doch alles gut.»
Oh mein Gott. Sven dachte tatsächlich, dass alles gut war.
«Dann gehe ich alleine.»
Die Wörter rutschten mir aus dem Mund, bevor ich mich zurückhalten konnte.
«Das machst du eh nicht», sagte er und ich sah ihm an, dass er von seinen Worten überzeugt war. Er grinste und schüttelte den Kopf, als sei ich ein kleines Dummerchen.
Ich sagte nur ein Wort. Und ich hatte es noch nie ernster gemeint.
«Doch.»