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Am nächsten Morgen wachte ich mit einem Kribbeln im Bauch auf und wusste im ersten Moment gar nicht, wo es herkam. Dann erinnerte ich mich.
Jonas.
Ich hatte ihm so viel erzählt. Und er hatte den ganzen Abend lang interessiert zugehört. Er hatte mir das Gefühl gegeben, wichtig zu sein. Als ob mein kleines Leben mit all seinen Alltäglichkeiten, Niederschlägen und Resignationen genauso viel wert war wie das rebellische und aufregende, dass er offensichtlich führte. Einmal angefangen konnte ich gar nicht mehr aufhören zu reden. Es war, als wäre ein Damm gebrochen oder als hätte ich nach Jahren in der Wüste endlich eine Oase gefunden.
Es war mir egal, dass ich nichts über Jonas wusste, dass ich ihm Macht über mich gab, indem ich ihm so viel erzählte und er im Gegenzug bisher nichts über sich preisgegeben hatte.
Ich erzählte von den verschiedenen Jobs, die ich in den letzten Jahren gemacht hatte, von der Ausbeutung in der Zeitarbeitsbranche; davon, dass man sich weder auf einen sicheren Arbeitsplatz noch eine angemessene Bezahlung verlassen konnte, dass jeder Tag, 365 Tage im Jahr, gleich ablief und dass ich das widerstandslos akzeptiert hatte.
Ich erzählte ihm sogar von der sexuellen Belästigung. Er nahm mich ernst. Er sah meinen Schmerz, sah, wie sehr es mich verletzt hatte, und blieb die ganze Zeit über respektvoll. Jemand wie Sven hätte solch eine Unterhaltung für einen unangebrachten Anmachspruch wie «Ich kann schon verstehen, warum man dich und deinen Hintern belästigt» genutzt. Doch Jonas sagte gar nichts in die Richtung. Ich hatte im Gegenteil das Gefühl, dass er meinen Chef gerne eine verpasst hätte. Nicht nur wegen mir, sondern auch stellvertretend für alle Frauen, die sich sowas immer wieder gefallen lassen mussten.
Ich robbte aus meinem Schlafsack und suchte einigermaßen frische Klamotten heraus. Eine Jeans und ein schlichtes weißes T-Shirt mussten genügen.
Jonas hatte gesagt, dass er heute in Richtung Kristianstad aufbrechen wollte. Ich hatte keine Ahnung, wie weit das von hier weg war. Ich wusste nur, dass ich nicht wollte, dass sich unsere Weg trennten. Ich war noch nicht bereit dafür. Je länger ich über Jonas nachdachte und je mehr Zeit ich mit ihm verbrachte, desto weniger hatte ich das Gefühl, dass ich jemals wieder von ihm getrennt sein wollte.
Es war verrückt. Ich kannte diesen Jungen noch keine achtundvierzig Stunden, wir waren weit davon entfernt, uns auch nur zu umarmen, geschweige denn zu küssen, doch ich spürte schon jetzt eine so starke Anziehungskraft und eine Art Urvertrauen in ihn, das mich an meiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln ließ.
Das alles hier war wahnsinnig.
Ich sollte mir noch ein paar schöne Tage in Schweden machen und danach nach Stralsund zurückkehren, mich kleinlaut bei Sven entschuldigen und sichergehen, dass wir auch weiterhin in unserer kleinen Wohnung ein ereignisloses, aber wenigstens vorhersehbares Leben führten, und mich dann schleunigst daran machen, einen neuen Job zu finden, der zeitlich befristet und unterbezahlt war und in dem mich niemand wertschätzen oder meine Arbeit anerkennen würde.
Das wäre das Vernünftige, was ich tun sollte.
Doch vernünftig stand auf meiner Prioritätenliste plötzlich nicht mehr an erster Stelle.
Ich sah die Sache, wie sie war. Jonas brauchte mich nicht. Er schien extrem selbstständig und unabhängig zu sein. Ganz anders als ich.
Er weckte den Wunsch in mir, auch so zu werden. Doch vorerst wusste ich, dass ich ihn brauchte. Um mich selbst zu finden. Um die Person zu werden, die ich sein konnte, wenn ich eine Chance dazu bekam.
Wenn ich nichts unternahm, würden sich unsere Wege heute trennen. Es sei denn, ich sorgte dafür, dass sie es nicht taten.
Jonas hatte recht gehabt. Er war wirklich kein Morgenmensch. Ich fragte mich, warum er dann trotzdem immer so früh aufstand. Als ich aus meinem Zelt krabbelte, schien er schon lange wach zu sein, dabei war es erst sieben Uhr. Er saß auf dem sandigen Boden am Seeufer, neben sich ein dampfender Kaffeebecher.
Ich wünschte ihm guten Morgen, woraufhin er etwas murmelte, was ich nicht verstand. Ich versuchte, mich davon nicht entmutigen zu lassen, und setzte mich neben ihn.
«Gut geschlafen?», fragte ich.
Er brummte. Ich musterte ihn von der Seite. Er sah alles andere als ausgeschlafen aus.
«Hast du überhaupt geschlafen?», fragte ich.
Er rieb sich mit den Händen über das Gesicht und sah mich dann mit einem Blick an, der deutlich sagte, dass er kaum ein Auge zugetan hatte.
«Hast du das öfter? Also Schlafprobleme?»
«Immer», murmelte er.
Nach dem Frühstück packte Jonas seine Sachen zusammen. Ich tat dasselbe. Es war schließlich egal, ob ich mit oder ohne ihn weiter reiste, hier würde ich nicht bleiben.
Mein Zelt zusammenzupacken fiel mir leichter, als es aufzubauen. Ich sortierte den Inhalt meines Rucksacks komplett neu und ging sicher, dass ich die wichtigen Sachen wie Wasserflasche oder einen Pulli zum Überziehen nicht nach ganz unten packte.
Das erste, was ich machen würde, sobald ich wieder in der Zivilisation war, war definitiv der Einkauf von ein paar Lebensmitteln, die man gut unterwegs essen konnte.
Als wir beide fertig gepackt hatten, war es noch nicht mal neun Uhr. Langsam schien sich auch Jonas Stimmung zu bessern. Trotzdem hatte ich mich die ganze Zeit noch nicht getraut, die eine Frage zu stellen, die ich so gerne stellen wollte. Und mit jeder Minute, die verging, lief mir die Zeit davon.
Dann schien die Zeit zum Abschied gekommen.
Wir standen uns gegenüber. Jonas war fast einen Kopf größer als ich. Ich musste den Kopf ein Stück in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht sehen zu können.
«Schön, dich kennen gelernt zu haben», sagte er. «Ich hoffe, du genießt dein Schwedenabenteuer weiterhin. Zelt aufbauen kannst du ja jetzt schon viel besser. Und wenn du Feuer machen willst, ist es wichtig, dass du mit vielen kleinen Zweigen beginnst und die größeren Stücke erst drauf legst, wenn der Rest schon gut brennt.»
Er wollte noch mehr sagen, doch ich unterbrach ihn mit einem leisen «Jonas?»
«Ja?»
«Kann ich mitkommen?»
Er sah mich fragend an. «Bis in die nächste Stadt?»
«Einfach noch eine Weile.»
Ich sah in seinen blauen Augen, dass er mit sich selbst rang. Er hatte deutlich gemacht, dass er lieber alleine war. Aber ich musste es wenigstens versuchen. Ich konnte ihn nicht einfach gehen lassen. Mir war klar, dass ich mich damit verletzbar machte, aber das war mir egal. Lieber wollte ich von ihm verletzt werden, als für immer an diesen Moment zwischen uns zurückdenken zu müssen und mir Vorwürfe zu machen, warum ich nicht einfach gefragt hatte. Denn dass er es niemals von sich aus anbieten würde, war klar.
Jonas sah zu Kant, der neben ihm im Gras lag. Es sah fast so aus, als er würde er ihn per Telepathie fragen, was er tun sollte. Dann hechelte Kant und Jonas seufzte.
«Okay.»
«Echt?», fragte ich. Ich konnte mein Erstaunen nicht zurückhalten. Jonas musste die Begeisterung in meinen Augen sehen, denn er grinste verschmitzt, als er seinen Rucksack schulterte und «Ja dann los» sagte.
Ich konnte mein Glück kaum fassen. Wir gingen an der Küste entlang zurück zum Stadtkern von Trelleborg. Dort wechselten wir uns ab, sodass jeder von uns ohne schweres Gepäck im Supermarkt einkaufen konnte. Der andere wartete jeweils mit den zwei Rucksäcken und Kant vor dem Eingang.
Es war merkwürdig, wie bereits zwei Tage an einem abgeschiedenen Ort in der Natur meinen Blick auf die Welt verändern konnten. Die prall gefüllten Regalreihen im Supermarkt kamen mir wie der größte Luxus auf Erden vor. Und während ich in Stralsund oft gerade die Lebensmittel gerne gekauft hätte, die außerhalb meines Budgets lagen, war ich in diesem Moment mit den einfachsten Produkten vollkommen zufrieden.
Ich kaufte Brot, Käse, Wurst, Müsliriegel, Nudeln und ein paar Dosengerichte (in der Hoffnung, dass ich Jonas kleinen Gaskocher mit benutzten durfte). Mehr brauchte ich nicht, um das Gefühl zu haben, wenigstens für die nächsten zwei Tage gewappnet zu sein. Kurz vor der Kasse erlag ich jedoch noch meiner Schwäche für Cola und kaufte zwei Dosen.
Nachdem auch Jonas seine Vorräte aufgefüllt hatte, machten wir uns auf den Weg zur nächstgrößeren Landstraße. Er hatte mir eröffnet, dass wie trampen würden.
Ich war natürlich noch nie in meinem Leben getrampt, ich wäre noch nicht mal auf die Idee gekommen, aber mit Jonas an meiner Seite hatte ich keine Angst und es war immerhin auch für meinen Geldbeutel eine kostensparende Fortbewegungsmöglichkeit.
Zu unserer beider Überraschung hielt schon nach wenigen Minuten ein Auto mit deutschem Kennzeichen neben uns.
«Das ging aber schnell», sagte ich, als wir unsere Rucksäcke im Kofferraum verstauten.
«Das haben wir dir zu verdanken», sagte Jonas.
«Mir? Ich habe doch gar nichts gemacht.»
«Ein allein reisender Mann wie ich hat es immer am schwersten, mitgenommen zu werden. Aber mit einer Frau an meiner Seite wirke ich gleich viel weniger bedrohlich.»
«Ich finde nicht, dass du bedrohlich wirkst», sagte ich, worauf Jonas sich ein weiteres kleines Lächeln zu verkneifen schien.
Es war ein älteres deutsches Ehepaar auf der Fahrt in ihr Sommerhaus, das uns bis kurz vor Hörby mitnahm. Ihren Erzählungen nach waren sie selbst quer durch Europa getrampt, als sie noch jung waren. Für mich war die Autofahrt insofern sehr interessant, als dass ich neue Dinge über Jonas erfuhr. Das Ehepaar stellte allerlei Fragen und Jonas war zu höflich, um sie zu ignorieren. So erfuhr ich zum Beispiel, dass er in Schweden als Handwerker arbeitete.
«Hast du deine Ausbildung in Schweden gemacht?», fragte der Mann.
«Nein», antwortete Jonas. «Im Gegensatz zu Deutschland braucht man hier kein Zeugnis, um als Handwerker arbeiten zu können. Ich habe in Deutschland lange in allen möglichen Positionen auf dem Bau gearbeitet, während ich mein Abi an der Abendschule nachgeholt habe.»
«Und was hat dich dann nach Schweden verschlagen?», fragte die Frau.
«Ich brauchte einfach mal einen Tapetenwechsel», sagte Jonas unverbindlich und schaute daraufhin lange schweigend aus dem Autofenster.
Als uns das Ehepaar an einem Waldweg absetzte, an dessen Ende eine tolle Zeltmöglichkeit sein sollte, bedankte besonders ich mich überschwänglich bei ihnen. Ich winkte ihnen sogar noch hinterher, weil ich es einfach so nett fand, dass sie uns mitgenommen hatten.
Erst als ich meinen Rucksack wieder aufsetzte, bemerkte ich, dass Jonas bereits ohne mich losgegangen war. Er hatte bestimmt schon fünfzig Meter Vorsprung und ich versuchte, aufzuholen, doch er hatte so eine Geschwindigkeit drauf, dass es mir nicht gelang. Also hechelte ich ihm hinterher und fragte mich, was jetzt schon wieder mit ihm los war.
Das Ehepaar hatte recht gehabt. Nach vielleicht zwei Kilometern kamen wir an eine wunderschöne Campingstelle mit einem Picknicktisch und einer Feuerstelle. Ich ließ meinen schweren Rucksack erleichtert fallen, setzte mich an den Tisch und genoss die Aussicht auf den See und die Ruhe, die auch hier wieder herrschte.
«Total schön», stieß ich aus.
Jonas musste es gehört haben, aber er reagierte nicht. Stattdessen hatte er sein Zelt schon fast fertig aufgebaut und ehe ich mich versah, waren er und Kant mit Angelrute zwischen den Bäumen verschwunden.
Es verletzte mich, dass er plötzlich wieder so abweisend war. Doch anstatt mich davon unterkriegen zu lassen, beschloss ich, ihn mit einem Feuer zu überraschen. Ich streifte am Rand der Campingstelle entlang und sammelte allen Reisig ein, den ich finden konnte. Dann stapelte ich die Ästchen so auf der Feuerstelle auf, dass genügend Luft zwischen ihnen zirkulieren konnte und zückte das Feuerzeug, das ich heute Morgen auch noch im Supermarkt gekauft hatte.
Es funktionierte beim ersten Mal.
Ich setzte mich vor das Feuer und schaute in die Flammen. Es war schon komisch. Ich hatte Wochen damit verbringen können, die komplizierten Betriebsabläufe an meinem neusten Arbeitsplatz zu lernen, ohne auch nur das geringste Gefühl des Stolzes oder der Befriedigung zu empfinden, ganz egal, wie viele Menschen es bemerkten. Und jetzt saß ich hier mitten im Wald und hatte es geschafft, ein Feuer zu entfachen. Keiner sah mir dabei zu, keiner hatte mir den Auftrag dafür erteilt, keiner bezahlte mich, keine lobte mich dafür.
Und das war völlig okay.
Ich brauchte keine äußere Bestätigung. Das Feuer hatte ich nur für mich gemacht, um mich daran zu wärmen und zu erfreuen. Und das reichte vollkommen aus. Ich war stolz und zufrieden und dass niemand davon wusste, spielte keine Rolle.
Als Jonas später mit vier ausgenommenen Barschen wieder kam, sagte er nichts zu dem brennenden Feuer. Doch er zog anerkennend eine Augenbraue hoch und ich hatte das Gefühl, dass es ihm in seiner derzeitigen Gemütsverfassung ziemlich hoch anzurechnen war.