14
Wir hatten Kristianstad endlich erreicht. Nachdem Jonas am Abend zuvor erst wieder aufgetaucht war, nachdem ich schon lange ins Bett gegangen war, war er schon den ganzen Morgen über extrem hibbelig und ich fragte mich langsam, was genau er in Kristianstad eigentlich vorhatte.
Unser Verhältnis war noch immer etwas hölzern. Immerhin hatten wir beim Frühstück wieder ein paar Wörter miteinander gewechselt, aber ich musste zugeben, dass ich aus der ganzen Sache nicht schlau wurde.
Wenn es an mir lag und Jonas sich einfach nicht mit mir abgeben wollte, warum sagte er das dann nicht? Er hätte mich einfach unterwegs sitzen lassen können, schließlich war er mir gegenüber zu nichts verpflichtet. Er hätte sich für die Gesellschaft bedanken und erklären können, dass es an der Zeit war, getrennt weiter zu reisen.
Doch er sagte nichts in die Richtung und ich hatte auch nicht das Gefühl, dass er mich loswerden wollte.
Aber sich richtig auf mich einlassen konnte er auch nicht.
Es war merkwürdig für mich, denn normalerweise war ich ja diejenige, die Abstand wahrte und es nicht wagte, mich auf etwas unbekanntes einzulassen. Doch hier waren die Rollen plötzlich vertauscht und ich fragte mich, ob es an mir war, die Initiative zu ergreifen, wenn ich doch noch den Urlaubsflirt erleben wollte, von dem ich jede Nacht träumte.
Ich für meinen Teil hatte zumindest beschlossen, so lange wie möglich bei Jonas zu bleiben. Ich hatte keinen anderen Ort, an dem ich sein musste, und außerdem hoffte ich immer noch, dass er es vielleicht schaffen würde, sich mir gegenüber zu öffnen. Und immerhin bekam ich dank ihm einen Eindruck von der Schönheit Schwedens, und zwar viel mehr, als wenn ich mich alleine in einem billigen Hotelzimmer einquartiert hätte. Draußen in der Natur hatte ich das Gefühl, das zu erleben, was Schweden ausmachte.
Doch nun waren wir in Kristianstad, einer echten Stadt mit Einkaufszentrum, Tankstellen und einem Industriegebiet. Wir standen vor dem Supermarkt, in dem wir gerade wieder abwechselnd unsere Vorräte aufgestockt hatten. Jonas hatte Kants Napf mit Wasser aufgefüllt und wir warteten darauf, dass er seinen Durst gestillt hatte. Ich hatte Lust, in die Innenstadt zu gehen und einen Kaffee zu trinken. Also schlug ich es vor.
Jonas schüttelte den Kopf und schaute zum tausendsten Mal auf seine Uhr.
«Also es ist so», sagte er unvermittelt. «Ich habe in einer halben Stunde einen Termin.»
Dies war eine komplett neue Information für mich. Ich zog eine Augenbraue hoch und sah ihn abwartend an. Ich wollte eine Erklärung.
Doch er sagte: «Anna, ich kann dir nicht sagen, was, ok?»
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. «Meinetwegen. Was habe ich mit der Sache zu tun?»
«Du musst mir einen Gefallen tun», sagte er.
Aha. Hier lag also der Hund begraben. «Welchen?», fragte ich.
«Kannst du auf Kant aufpassen, bis ich wieder da bin?»
«Ich wollte mir eigentlich die Innenstadt anschauen.»
«Da kannst du ihn doch mitnehmen.»
«Auch in die Geschäfte?»
«Dir wird schon etwas einfallen.»
Jonas schien echt auf dem Zahnfleisch zu gehen. Er hatte gerade noch die Kraft, mich um diesen Gefallen zu bitten, aber keine, um mir Honig um den Mund zu schmieren oder sich bei mir beliebt zu machen. Wie ich ihn so schwitzend dastehen sah, tat er mir leid.
«Na gut. Ich passe auf Kant auf. Unter einer Bedingung.»
Jonas Gesicht hellte sich auf. «Was immer du willst», sagte er erleichtert.
«Umarme mich.»
Er sah mich sprachlos an. «Wie bitte?»
«Du hast mich schon verstanden. Ich möchte, dass wir uns umarmen.»
Meinen Mut, ich schien ihn wirklich in Schweden gefunden zu haben.
Jonas sah mich mit dem Blick von jemandem an, der in die Enge getrieben worden war.
«Anna, tu mir das nicht an.»
«Es ist nur eine Umarmung.»
«Du weißt ganz genau, dass das für mich nicht so leicht ist», sagte er gequält.
«Weiß ich das?», fragte ich.
«Kann ich dich auch später umarmen?»
Es brach mir beinahe das Herz, wie flehentlich er mich ansah. Aber ich musste einfach wissen, wo ich dran war.
«Nein, jetzt.»
Jonas schluckte. Zögernd machte er einen Schritt auf mich zu. Es kam mir vor, als würde hinter seinen Augen ein Sturm toben. Ich machte ebenfalls einen Schritt auf ihn zu, woraufhin er die Hände zusammen ballte, als könne er sich so davon abhalten, die Kontrolle zu verlieren.
Wir waren uns jetzt so nah, dass ich seinen Atem an meiner Kopfhaut spüren konnte. Ich wagte es nicht, in sein Gesicht zu schauen, also verweilte mein Blick auf seiner Schulterpartie. Ich sah die kleinen schwarzen Härchen, die ein Stück unter seinem Schlüsselbein aus dem olivgrünen Tank-Top hervorschauten.
Keine von uns wagte den nächsten Schritt, der daraus bestanden hätte, die Arme um den anderen zu legen. Eine winzige Schweißperle kroch über Jonas Schulter tiefer in Richtung Brust. Ich schluckte.
Es war gemein, was ich hier machte. Er schaffte es nicht.
Also schloss ich kurz, aber heftig, meine Arme um seinen Körper. Es dauerte nur eine Sekunde und ich gab ihn sofort wieder frei. Jonas hielt währenddessen die Luft an.
«Bis später», flüsterte ich.
Er drehte sich um und rannte fast davon.
Ich blieb mit Kant zurück und ließ die Tränen ungehindert über meine Wangen laufen.
Es sah sie ja eh keiner.
Ich saß am äußeren Rand der Terrasse eines kleinen Cafés und trank einen Cappuccino. Kant lag unter dem Tisch und schlief, was die Bedienung nur akzeptiert hatte, weil sich außer mir keine weiteren Gäste draußen aufhielten.
Während ich Zucker in meine Tasse rührte, fiel mir ein, dass dies hier ein besonderer Moment war: Ich saß alleine in einem Café, so, wie ich es mir schon so lange vorgenommen hatte. Es fühlte sich auf der einen Seite gut an, aber auf der anderen Seite war ich in Gedanken zu sehr von Jonas abgelenkt.
Es schmerzte, dass ich wohl nicht diejenige war, die ihn retten konnte. Wäre das hier ein Film, dann hätte er meine Umarmung erwidert, seinen Kopf in meinen Haaren vergraben und hätte mich nie mehr losgelassen. Er hätte seine Angst oder was auch immer es war für mich überwunden.
Ich fragte mich, was nur in mich gefahren war, dass ich mich plötzlich für etwas Besonderes hielt. Als ob ich über Nacht zur starken Frau und Wunderheilerin geworden wäre. So ein Schwachsinn!
Da saß ich an einem Montagnachmittag in einer schwedischen Kleinstadt, weit weg von Stralsund und hatte das Gefühl, dass mein Leben dabei war, mich einzuholen. Die Realität war dabei, mich einzuholen. Sie hatte mir wohl ein Wochenende des Träumens zugestanden, aber heute beschlossen, dass das reichte.
Jemand wie ich verdiente nicht mehr.
Frustriert holte ich mein Handy hervor. Schlimm, dass man das immer machte, wenn man Ablenkung brauchte.
Ich hatte einen weiteren verpassten Anruf meiner Mutter, weswegen ich mir ein Herz nahm und ihr eine kurze Nachricht schickte, damit sie wusste, dass ich noch lebte. Die identische Nachricht schickte ich auch an Sven. Dann rief ich mehr aus Gewohnheit anstatt aus Interesse meine E-Mails ab. Das hatte ich seit Freitag auch nicht mehr gemacht.
Ich hatte keine Newsletter oder andere Werbung abonniert, weswegen mein Posteingang meistens leer war. Doch zu meinem Erstaunen erschien eine neue E-Mail. Von Tanja. Heute Morgen abgeschickt.
Ich öffnete die Nachricht mit klopfendem Herzen. Es war ein kurzfristiges Arbeitsangebot. Ich konnte es kaum glauben, dass sie so schnell etwas Neues für mich gefunden hatte. Doch nachdem ich die Jobbeschreibung überflogen hatte, legte sich meine Begeisterung wieder. Es war ein Hilfsjob in der Kommissionierung eines Versandhandels, was überhaupt nicht meinem Aufgabengebiet entsprach und deutlich schlechter bezahlt war als die Jobs, die ich sonst machte.
Dazu hatte Tanja noch eine persönliche Nachricht geschrieben:
Nimm es an, etwas Besseres wird es lange Zeit nicht für dich geben.
Ich starrte auf die Wörter. Es war, als hätte sie mein Leben in einem Spruch zusammen gefasst. Sofort schloss ich die App und schaltete mein Handy wieder aus.
Etwas Besseres wird es lange Zeit nicht für dich geben.
Seitdem ich denken konnte, redeten mich die Menschen in meinem Umfeld klein. Sie hatten es so lange und so beständig getan, dass ich es selbst glaubte und zu einer Frau geworden war, die andere über ihr Schicksal entscheiden ließ.
Ohne die Kündigung, Jonas und unser Wochenende hätte ich das niemals erkannt.
Doch vielleicht war die Person, die mich am meisten unterstützen konnte nicht Jonas, sondern ich selbst.