15
Ich traf Jonas zwei Stunden, nachdem er zu seinem geheimen Termin abgehauen war, wieder. Er wirkte jetzt viel ruhiger, ja, sogar gut gelaunt. Er hatte Erdbeeren an einem Stand am Straßenrand gekauft und hielt mir das Schälchen hin, als sei alles wie immer. Als gäbe es zwischen uns keine Stille und ungesagte Wörter.
Je länger ich nachdachte, desto skeptischer wurde ich. Was wusste ich wirklich über Jonas? Eigentlich nichts, außer, dass er als Handwerker arbeitete und in Deutschland sein Abi nachgeholt hatte. Er lebte irgendwo in Schweden in einem Haus im Wald. Er ging Berührungen mit anderen Menschen aus dem Weg und falls man ihn doch aus Versehen berührte, konnte er es nicht ertragen. Heute Morgen noch war er unruhig und gestresst gewesen, und nachdem er für zwei Stunden verschwunden war, war er plötzlich wie ausgewechselt und ruhte wieder in sich. Kant hatte er dort, wo er gewesen war, nicht mitnehmen können.
Es gab nur eine logische Erklärung für sein Verhalten und nur mit meiner Naivität konnte ich entschuldigen, dass ich erst so spät darauf gekommen war: Drogen.
So machte alles Sinn und war es nicht auch total naheliegend? Ein Mann in seinen Zwanzigern mit einer alternativen Lebensweise war doch geradezu dafür prädestiniert, Drogen zu konsumieren. Wie kam man sonst auf solche Ideen, wie alleine in den Wald zu ziehen?
Welche Substanz es auch war, sie musste ihm während des Wochenendes ausgegangen sein, wahrscheinlich unerwartet, da er nicht hatte wissen können, dass ich seine Pläne durcheinanderbringen würde. Sein ablehnendes Verhalten war wahrscheinlich auf Entzugserscheinungen zurückzuführen und jedes Mal, wenn er verschwunden war, hatte er heimlich etwas genommen. In Kristianstad hatte er seinen Vorrat auffüllen können und stand gerade wahrscheinlich bis zum Anschlag vollgedröhnt vor mir.
Was es wohl war? Koks? Hoffentlich nichts Schlimmeres.
Ich suchte nach einem verräterischen Anzeichen in seinem Blick, doch wenn ich ehrlich war, hatte ich keine Ahnung, woran man Drogensüchtige erkannte.
«Willst du wirklich keine Erdbeeren?», fragte er. «Ich habe sie extra für dich gekauft.»
«Für mich?», fragte ich verwundet.
«Ich dachte, dass du sie bestimmt magst.»
Ich mochte Erdbeeren wirklich sehr gerne, aber das würde ich ihn auf keinen Fall wissen lassen. Während wir zum Campingplatz zurückgingen, aß ich aus Prinzip keine Einzige, auch wenn mir das sehr schwerfiel.
«Ich übernehme heute das Abendessen. Lehn dich zurück und mache es dir bequem», sagte Jonas, sobald wir angekommen waren.
«Du klingst wie ein Wellnesstherapeut», sagte ich.
«Es ist ja auch immerhin dein Urlaub.»
«Das hat dich aber auch schon eine ganze Weile nicht mehr interessiert.»
Unsere Blicke trafen sich. «Komm schon, Anna, jetzt mach es mir nicht so schwer», sagte er.
Ich ignorierte seine Worte. «Warst du eigentlich schon immer so alternativ?», fragte ich stattdessen.
Jonas überlegte. «Ich habe mich erst vor einem Jahr dazu entschieden, so zu leben, wie ich jetzt lebe.»
«In Schweden meinst du?»
«Es geht nicht nur darum, in Schweden zu leben. Es ging mir eher darum, einen Ort zu finden, an dem ich unabhängig sein kann. Hier bin ich nicht darauf angewiesen, einen festen Job zu haben. Ich habe meine Lebenshaltungskosten so weit reduziert, dass ich nur zwei Monate im Jahr voll arbeiten muss, um das ganze Jahr davon leben zu können.»
«Und was machst du dann so mit deiner freien Zeit?»
«Gemüse anpflanzen, Hühner füttern, mit Kant spazieren gehen, ein bisschen an meinem Häuschen rumwerkeln, Holz für den Winter vorbereiten, alles mögliche.»
«Hättest du das nicht auch in Deutschland machen können?»
Er sah mich an, als hätte ich von nichts eine Ahnung. «Hast du schon mal versucht, in Deutschland ein Stück Land zu kaufen? Das ist viel zu teuer. Aber im schwedischen Niemandsland sind die Preise okay.»
Oh Gott, plötzlich hatte ich Angst, dass er nicht nur selbst Drogen nahm, sondern auch noch dealte. Woher sollte er sonst das Geld haben, um ein Grundstück in Schweden zu kaufen? Bestimmt nicht von seinen Baustellenjobs.
«Und deine Eltern? Vermissen die dich?»
Jonas schüttelte den Kopf. «Habe schon lange keinen Kontakt mehr zu Ihnen. Die haben ihre eigenen Probleme.»
«Leben sie noch in Berlin?»
Er sah mich verdutzt an. «Woher weißt du, dass ich aus Berlin komme?»
«Du hast noch einen schwachen Akzent. Hört man nur, wenn man auch aus dem Osten kommt.»
Er setzte sich neben mich ins Gras. «Ich bin in Wedding aufgewachsen. Meine Eltern sind langzeitarbeitslos, wie man so schön sagt. Mein Vater hatte seinen letzten richtigen Job, als ich fünf war. Danach kam nichts mehr.»
«Dann hatten sie doch bestimmt wenigstens viel Zeit für dich, oder nicht?»
Jonas schnaubte. «Sagt dir das Wort Vernachlässigung was?»
Ich nickte und wollte schon weiter nachfragen, doch ich schien den Punkt erreicht zu haben, an dem es genug war.
«Ich will einfach nicht so enden wie sie», sagte Jonas. «Sie hocken den ganzen Tag in ihrer verrauchten Wohnung vor dem Fernseher. Das Leben ist zu kurz dafür.»
Da musste ich ihm recht geben. Eltern, die sich nicht wirklich für das Leben um sie herum interessierten, schien etwas zu sein, was wir gemeinsam hatten.
«Aber ich meine, wie hast du das gemacht? Wie ist es dir gelungen, so jung aus deinem Umfeld auszubrechen?»
Ich fragte mich, ob er das alleine geschafft hatte. Oder ob es vielleicht jemanden, vielleicht eine Frau, gegeben hatte, die ihn unterstützt hatte?
«Irgendwann habe ich es einfach nicht mehr ertragen. Je mehr man anfängt, für sich selbst zu denken und den Status Quo in Frage zu stellen, desto weniger ist das Leben, das wir hier in der westlichen Welt führen, eigentlich auszuhalten.» Er machte eine ausladende Geste. «Unser Konsum, unsere Umweltverschmutzung, unsere Ausbeutung nichtwestlicher Regionen, einfach alles.»
An und für sich fand ich seine Einstellung bewundernswert, doch unterbewusst dachte ich noch immer über die Drogensache nach und so, wie er sprach, war ich mittlerweile sicher, dass er mindestens kiffte. Hanf konnte man bestimmt auch gut in der schwedischen Einöde anbauen, wo einen niemand kontrollierte. Ich wollte gerne glauben, dass idealistische Einstellungen ihn dazu gebracht hatten, seinen Lebensstil komplett zu ändern und ein natur- und ressourcenbewusstes Leben zu führen. Aber ob ich es wollte oder nicht, schlich sich eine andere Erklärung in meine Gedanken: Dass er einfach einen Ort gesucht hatte, an dem er sich Ruhe zudröhnen und die Augen vor der Wirklichkeit und seinen Problemen verschließen konnte.
Ich war im Zwiespalt. Auf der einen Seite war Jonas plötzlich wieder genau so, wie ich ihn mir gewünscht hatte – präsent, interessant, anziehend. Doch ich musste die ganze Zeit daran denken, dass er nur so war, weil er Drogen genommen hatte. Es tat zu sehr weh, seine Nähe zu spüren und eine Idee davon zu haben, wie schön es zwischen uns sein könnte, aber gleichzeitig zu wissen, dass er das in nüchternem Zustand niemals fertig bringen würde.
Noch bevor das Festmahl, bestehend aus Folienkartoffeln, Steak und Mais, das Jonas am Feuer zubereitet hatte, fertig war, stand ich auf, schloss mich in meinem Zelt ein, kramte mein Handy hervor und nahm das Jobangebot von Tanja an.
Es war besser so.