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Ich hatte mittlerweile schon gemerkt, dass sich Schweden durch seine Natur und nicht durch seine Städte auszeichnete. Stockholm, Göteborg und Malmö waren bestimmt aufregend, aber die kleinen, verschlafenen Ortschaften, die ich bisher gesehen hatte, wirkten langweilig und leblos. Kristianstad schien eine der Ausnahmen zu sein, weshalb ich mir gerne noch die Ecken anschauen wollte, die ich am Tag zuvor nicht gesehen hatte.
Jonas und ich schlenderten durch die Straßen. Viele Gebäude wirkten hochherrschaftlich und erinnerten an eine vergangene Zeit. Es lag wenig Müll herum und die Parkanlagen waren grün und gepflegt. Der Kirchturm zeigte uns den Weg in Richtung Zentrum. Zu unserem Glück schienen wir den Markttag erwischt zu haben. Auf dem Platz vor der Kirche waren dutzende von Ständen in engen Reihen aufgebaut. Es duftete nach frischen Schnittblumen, Obstauslagen und Käse.
«Lass uns etwas zum Abendessen suchen», sagte ich und ging voraus in Richtung Markt. Jonas folgte mir mit Kant an der Leine. Er hatte sich heute bisher von seiner unkomplizierten Seite gezeigt und überließ mir das Ruder. Für mich war es ungewohnt, den Ton anzugeben, doch es gefiel mir. Es fühlte sich ermutigend an.
Wir streiften an den Ständen vorbei und ich konnte mich gar nicht entscheiden, was ich probieren oder kaufen sollte. Ein Stand, der sowohl eine köstliche Avocadocreme als auch selbst gemachtes Bärlauchpesto verkaufte, hatte es mir besonders angetan. Auch an einem Bäckereistand musste ich stehen bleiben und entschied mich nach langem Abwägen für eine kleine Auswahl von Zimtschnecken und golfballgroßen Schokokugeln, die mit Kokos umhüllt waren. Der beliebteste Stand des Marktes schien jedoch der Käsestand zu sein. Die Schlange war bestimmt zehn Meter lang und ich musste mich an einer Gruppe asiatischer Touristen vorbeidrängeln, um mich anstellen zu können.
Jonas und Kant waren vor der Gruppe stehen geblieben. Ich winkte Jonas zu mir, doch er schüttelte den Kopf. Überrascht ging ich zu ihm.
«Das ist zu voll hier für Kant», sagte Jonas und deutete auf seinen Hund, der hechelnd neben ihm stand. «Ich gehe mit ihm eine Runde um den Block, wo es etwas ruhiger ist. Wir sehen uns dann später.»
Damit drehte er sich um und eilte davon. Ich schaute ihm verwirrt hinterher. Kant war überhaupt nicht gestresst. Ich kannte ihn mittlerweile gut genug, um das einschätzen zu können. Er hechelte, weil es ein warmer Tag war und er ein dickes Fell hatte, das war alles. Skepsis überkam mich. Warum wollte Jonas plötzlich alleine sein? Ob er mich für einen Moment loswerden wollte, um unbemerkt etwas einzuwerfen?
Ich hätte wirklich gerne das riesige Käsesortiment probiert, doch ich entschied mich dagegen. Stattdessen folgte ich Jonas und Kant mit einigem Abstand. Jonas ging zielstrebig von der Menschenmenge weg in Richtung Parkanlage. Ich lief ihnen in einiger Entfernung hinterher. In der Mitte des Parks gab es einen künstlich angelegt See mit Springeranlagen. Auf der Wiese verstreut lagen einige Pärchen und sonnten sich. Jonas ging an allen vorbei zur abgelegensten Stelle. Auf der Wiese hatte ich keine Versteckmöglichkeiten, weswegen ich unter den Buchen am Straßenrand stehen blieb und ihn beobachtete. Im Schatten einer Weide setzte er sich auf die Wiese. Kant legte sich neben hin.
Dann passierte nichts mehr.
Sie saßen einfach da und schauten auf das Wasser. Jonas streichelte Kant abwesend über den Rücken. Von heimlichem Drogenkonsum war nichts zu sehen. Er zog keinen Joint aus seiner Hosentasche, noch nicht mal eine Zigarette und hatte sich bisher auch noch nicht seinem Rucksack zugewandt, um etwas anderes hervorzuholen.
Vielleicht tat ich ihm doch Unrecht. War Kant wirklich gestresst gewesen? Jonas kannte ihn ja besser als ich. Plötzlich kam ich mir dumm vor. Ich sollte mich wohl nicht in Dinge einmischen, von denen ich keine Ahnung hatte.
Unschlüssig stand ich da und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Zurück zum Käsestand gehen? Dazu hatte ich keine Lust mehr.
Ich entschied mich für die Flucht nach vorne und lief über die Wiese zu Jonas und Kant.
«Das ging aber schnell», sagte Jonas. Er warf mir ein unsicheres Lächeln zu und mir fiel wieder einmal auf, was für eine charismatische Ausstrahlung er hatte, wenn er sich nicht darum bemühte.
«Der Käse war zu teuer», sagte ich. «Wollen wir weiter?»
Wir beschlossen, den kürzesten Weg zurück zu unseren Zelten zu nehmen, da Jonas noch immer darauf beharrte, dass Kant gestresst war und Ruhe brauchte. Doch ausgerechnet auf dem schmalen Bürgersteig einer vielbefahrenen Straße kam uns eine ganze Schulklasse Grundschulkinder entgegen.
«Geht das mit Kant?», fragte ich Jonas.
«Muss», presste er hervor und nahm ihn kürzer an die Leine.
Wie Kinder oft so sind, wollten sie natürlich alle Kant streicheln, sobald das erste Kind ihn entdeckt hatte. Die Lehrerin, die die Gruppe anführte, sagte etwas zu mir, aber da ich sie nicht verstand, lächelte ich nur, was sie wohl als Einladung auffasste, dass Kant gestreichelt werden durfte.
Ehe wir uns versahen, waren wir von zwanzig Kinderhänden umgeben, die alle auf einmal Kant streicheln wollten. Ich befürchtete schon, dass Kant die Nerven verlieren würde, doch das war nicht der Fall. Er ließ die Patschhändchen und das Gezerre an seinem Fell über sich ergehen, als wäre er die Ruhe selbst. Ich war richtig stolz auf ihn.
Bei Jonas sah die Sache jedoch anders aus. Das Erste, was mir auffiel, waren seine geballten Fäuste und angespannten Oberkörpermuskeln. Er schien einen Punkt unten auf dem Asphalt zu fixieren und wirkte insgesamt wie festgefroren.
«Sag ihnen doch, dass sie vorsichtiger mit Kant sein sollen», raunte ich ihm zu.
«Das ist es nicht», presste er hervor.
Ich verfolgte mit, wie sein Atem immer schneller wurde und ihm plötzlich Schweiß auf der Stirn stand. Er sah aus wie ein Tier, das in die Enge getrieben worden war. Und in dem Moment verstand ich. Jonas hatte nicht nur ein Problem mit Berührungen, sondern auch mit Menschenmengen. Er war nicht wegen Kant vom Marktplatz verschwunden, sondern wegen sich selbst.
Ich reagierte blitzschnell und nahm ihm die Leine aus der Hand.
«Los, geh schon», sagte ich. «Ich regel das hier.»
Ich stieß ihn in Richtung einer Bushaltestelle, an der eine Bank stand und ging mit Kant ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung, sodass die Kinder mir folgten. Weder die Lehrerin, noch die Kinder schienen bemerkt zu haben, dass Jonas kurz davor gewesen war, in Panik auszubrechen. Er musste wirklich geübt darin sein, diese Anfälle – waren es Panikattacken? – zu unterdrücken beziehungsweise zu verstecken.
Während ich dafür sorgte, dass jedes Kinder Kant einmal streicheln durfte, beobachtete ich Jonas aus den Augenwinkeln. Er hatte sich auf die Bank gesetzt und den Blick weiterhin starr nach unten gerichtet. Er schien die Augen geschlossen zu haben, doch seine Brust hob und senkte sich noch immer schnell.
Nachdem die Schulklasse endlich weiter gezogen war, ging ich zu ihm und setzte mich vorsichtig neben ihn. Langsam beruhigte er sich.
«Danke», presste er hervor, ohne mir in die Augen zu schauen. «Du hast mich gerade echt gerettet.»