18
Es war verrückt. Seitdem ich Jonas zum ersten Mal gesehen hatte, hatte ich mir Sorgen darum gemacht, dass er mich ablehnen würde, sobald es körperlich wurde. Dabei war meine Angst völlig unbegründet gewesen.
Bei Sven und mir hatte ich immer gedacht, dass ich mich ihm so schnell wie möglich hingeben musste, damit er mich wenigstens einigermaßen wertschätzte. Weil ich das Gefühl hatte, sonst nichts zu bieten zu haben. Einfach nur nebeneinanderzusitzen und die Gesellschaft des anderen zu genießen, hatte ihn nie interessiert. Wenn wir Sex hatten, kam er zügig und hart. Ich hatte Angst gehabt, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass es für mich nicht reichte, dass ich nichts spürte. Weil ich befürchtete, dass er mir die Schuld geben würde.
Doch mit Jonas war es ganz anders. Zum ersten Mal war mein langsames Tempo für jemand anderen genau richtig.
Wir hatten unser Lager für die Nacht wieder an einem verlassenen See aufgeschlagen. Es war wirklich unglaublich, wie viele es davon in Schweden gab.
Während wir Würstchen auf dem Feuer grillten, saßen wir nebeneinander auf dem Waldboden. Ich wollte nicht mehr, als meinen Arm um Jonas zu legen. Es reichte mir völlig aus. Es fühlte sich besser an als alles, was ich bisher erlebt hatte. Je länger wir so dasaßen, desto selbstverständlicher lehnte sich Jonas an mich. Es schien ihm immer leichter zu fallen, den Körperkontakt zuzulassen.
«Weißt du was?», sagte ich irgendwann. «Ich brauche gar nicht mehr.»
«Ich auch nicht», flüsterte er. «Ich könnte ewig so sitzen bleiben. Ich hatte das so lange nicht mehr», er zögerte. «Also eine echte Umarmung.»
«So lange du willst», sagte ich und lächelte. Es fühlte sich richtig an, für Jonas da zu sein. Es war nicht nur das, was er brauchte, sondern auch genau das, was ich jetzt brauchte. Vielleicht hatte ich mich wirklich all die Jahre unterschätzt. Ich brauchte niemanden, der für mich da war, sondern war stark genug, um für andere da zu sein.
Langsam wurde es um uns herum dunkler. Ich nahm all meinen Mut zusammen und fing an, Jonas im Nacken zu kraulen. Als meine Fingerspitzen die feine Haut an seinem Hals berührten, zuckte er kurz zusammen, doch dann seufzte er und schloss die Augen.
«Scheint, als würden die Tabletten doch helfen», flüsterte ich.
«Vielleicht», murmelte er. «Vielleicht bist du das aber auch ganz alleine.»
Nach ein paar Minuten war Jonas eingeschlafen. Ich hielt ihn noch immer im Arm und streichelte ihm über den Rücken. Es schien, als sei er endlich in den tiefen Schlaf gefallen, den er schon so lange gesucht hatte.
Während ich zusah, wie er schlief, versuchte ich, den Augenblick für immer in meinem Herzen zu speichern. Die Wärme, die Jonas ausstrahlte. Seine schwarzen Haare, die viel weicher waren, als man annehmen würde. Sein gleichmäßiger Atem. Der See, der vor uns in der Abendsonne glitzerte. Das sanfte Rauschen der Blätter. Kant, der sich vor Jonas Zelt zusammengerollt hatte und schlief. Mein Herz, dass vor Glück so heftig pochte, dass ich mich wunderte, dass Jonas dabei schlafen konnte.
Es war, als wäre ich innerhalb von sieben Tagen in ein völlig neues Leben gerutscht. Wie konnte sich in einer Woche so viel verändern? Ich kam mir vor wie ein völlig neuer Mensch. Nein, kein neuer Mensch. Eher wie die echte Anna.
Ich hatte das Gefühl, die Anna gefunden zu haben, die ich eigentlich hätte werden sollen. Eine Anna, die an sich glaubte und für sich einstand und ja, vielleicht ein bisschen anders war als der Durchschnitt. Ich hatte mich immer als Teil der großen grauen Masse gesehen. Doch mittlerweile hatte ich die leise Ahnung, dass das nicht stimmte.
Die Frage war nur – wie sollte es ab hier weiter gehen? Wie konnte ich es schaffen, die Anna, die ich in den letzten Tagen in mir entdeckt hatte, zu behalten, ganz sie zu werden und nicht in die alte Anna zurückzufallen, sobald ich wieder in Stralsund war?
Stralsund.
Ich wollte gar nicht daran denken. Ich wollte nicht daran denken, dass ich den neuen Job zugesagt hatte und dass ich Sven wieder sehen würde. Was sollte ich nur sagen? Wie sollte ich das Leben, das ich in den letzten Jahren geführt hatte, weiterhin aufrecht erhalten, wo ich nun wusste, dass es eine Lüge gewesen war?
Ich schüttelte mich instinktiv. Ich würde mich noch früh genug damit auseinandersetzen müssen. Aber nicht an diesem magischen Abend. Ich hatte eher das Bedürfnis, etwas zu machen, das besiegelte, dass ich nicht mehr dieselbe Anna wie noch vor einer Woche war. Ich wollte die alte Anna von mir abwaschen.
Vorsichtig stand ich auf und achtete darauf, dass Jonas nicht aufwachte. Er musste wirklich sehr lange nicht mehr richtig geschlafen haben, denn er kringelte sich auf dem Boden zusammen und schlief einfach weiter. Auf nackten Füßen ging ich in mein Zelt und holte meinen Schlafsack heraus, um Jonas damit zuzudecken. Kant kam müde angetrottet und rollte sich neben ihm zusammen, sodass sie Rücken an Rücken lagen.
Ich tapste an das Ufer des Sees. Nirgendwo gab es ein Zeichen davon, dass hier in der Nähe noch andere Menschen waren. Ich zögerte einen kleinen Moment, doch dann dachte ich wieder an die Anna, die ich werden wollte und bevor ich länger zweifeln konnte, streifte ich mein T-Shirt ab. Nun trug ich nur noch meinen schwarzen BH und die knappen Jeansshorts. Als meine Füße das Wasser des Sees berührten, überkam mich ein Schauer, doch anstatt einen Rückzieher zu machen, lief ich schneller in den See hinein, bis mir das Wasser um die Hüfte spritzte und ich einen ungeschickten Köpper machte.
Das Wasser des Sees war schwarz und ich sah meine Arme kaum, mit denen ich zwei Brustarmschläge unter Wasser machte. Als ich mit der Nase zuerst wieder durch die Wasseroberfläche brach, mir die Wassertropfen vom Gesicht perlten, ich meine nassen Haare nach hinten streifte und pures Glück verspürte, wusste ich, dass ich nicht mehr dieselbe war.
Vor einer Woche wäre ich niemals in der Dämmerung, in Unterwäsche bekleidet, in einem See baden gegangen. Ich hätte eine Millionen Ausreden gefunden: zu nass, zu kalt, was wenn ich mich erkälte, zu aufwendig, zu gefährlich und so weiter. Alles Ausreden von einer, die nicht wusste, wie man lebte, wie man den Augenblick genoss und das machte, was das Herz erfüllte.
Ich schwamm ein bisschen von links nach rechts und hatte mit jedem Armschlag das Gefühl, mir Mut für alles, was ab jetzt in meinem Leben auf mich zu kam, anzutrainieren.
Ich war so versunken, dass ich Jonas erst bemerkte, als er schon bis zur Hüfte im Wasser stand.
«Was machst du denn?», fragte er mit einem leisen Lächeln auf den Lippen.
Ich schwamm zu ihm.
«Mir war einfach nach einer nächtlichen Schwimmrunde.»
Jonas Blick weitete sich, als ich mich aufrichtete und die Sicht auf meinen BH und den ansonsten nackten Oberkörper preisgab. Der feine Stoff war natürlich nicht dafür gemacht, nass zu werden. Jonas konnte seine Augen nicht von meinen Brustwarzen wenden, die durch den BH hervorschauten. Auch die Silhouette meiner Taille schien ihm dem Atem zu rauben.
«Immer noch Angst vor Berührungen?», fragte ich grinsend.
«Ich wünschte nicht», stieß er hervor.
«Das werden wir jetzt sehen.» Ich überbrückte die Distanz zwischen uns. Ich war nass und er am Oberkörper noch trocken, weswegen ich ihm nicht die Arme um den Hals legen wollte, denn das wäre vielleicht zu kalt für ihn gewesen. Also schaute ich ihn nur an und wartete.
Unsere Augen nahmen einander gefangen und ich hatte das Gefühl, dass er bis auf den Boden meiner Seele schauen konnte und vielleicht fand er dort die Antwort, die er so lange gesucht hatte, denn plötzlich schlossen sich seine starken Arme um mich und bevor ich mich versah, spürte ich seine Lippen auf meinen.